Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Linke in Turbulenzen Darüber könnte eine Wagenknecht-Partei stolpern
Die Linke ist zerstritten, die Zeichen mehren sich, dass nun Sahra Wagenknecht eine eigene Partei startet. Dabei wäre nicht die Gründung das Problem, sondern was danach käme.
Am Tag danach befindet sich die Linke in einem seltsamen Schockzustand. Wie ein Patient, der einen schweren Eingriff überlebt hat. Und der noch nicht weiß, ob er sich wieder erholt oder an den Spätfolgen doch noch sterben wird.
Am Montag hat der langjährige Fraktionschef Dietmar Bartsch bekannt gegeben, dass er sich von dem Posten zurückzieht. Eine Woche zuvor hatte schon Co-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali angekündigt, nicht mehr zu kandidieren. In einem Schreiben an die Fraktion hatte Bartsch geschrieben, er habe die Entscheidung schon vor längerer Zeit getroffen. In der Partei kursiert eine andere Version. Bartsch habe ausgelotet, ob er alleine die Fraktion führen könnte. So wie es auch Gregor Gysi schon einmal getan hat. Erst als er für diesen Plan nicht genügend Unterstützung erhalten habe, hätte er sich zum Rückzug entschlossen. "Er wollte schlichtweg nicht der sein, der das Licht ausmacht", sagt ein Insider.
Bei den für Anfang September geplanten Fraktionsvorstandswahlen muss jetzt eine komplett neue Führung gewählt werden. Das wäre schon in guten Zeiten ein gewagtes Unterfangen. Für die Linke, die sich spätestens seit dem schlechten Abschneiden bei der letzten Bundestagswahl in einer tiefen Krise befindet, ist es eine Katastrophe. Während sich in Teilen der Partei Panik breitmacht, ist in anderen hektische Betriebsamkeit ausgebrochen. Es wird viel telefoniert und gesprochen, um Lösungen zu finden.
Auch aus Sorge, Linken-Ikone Sahra Wagenknecht könnte nun tatsächlich eine eigene Partei gründen. Sie liebäugelt damit schon lange. Der Rückzug von Bartsch könnte ihr das nun leichter machen. Hinter den Kulissen kursiert bereits ein sehr konkret klingendes Szenario. Ihm zufolge wartet das Wagenknecht-Lager noch die Landtagswahl in Hessen ab. Jüngsten Umfragen zufolge könnte die Linke hier aus dem Parlament fliegen. Das wäre nicht nur eine Ohrfeige für die im Wagenknecht-Lager verhasste Parteichefin Janine Wissler, die früher die hessische Linksfraktion anführte. Es würde auch das Gefühl verstärken, dass mit der alten Linken kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist und eine Alternative hermuss.
Nach der Landtagswahl würde, so das Tuschel-Szenario, deshalb zunächst ein Verein gegründet werden, ähnlich wie einst die WASG (die später mit der PDS zur Linken fusionierte). Ein solcher Zwischenschritt würde es ermöglichen, die Finanzierung und Personalausstattung der neuen Bewegung überschaubar zu halten. Auch hätte ein Verein den Vorteil, dass Linke-Bundestagsabgeordnete, die darin Mitglied würden, nicht aus der Linken austreten müssten und somit die Infrastruktur der Fraktion zunächst weiter nutzen könnten.
Für den nächsten Schritt kursieren zwei Versionen: Entweder würde im Frühjahr, rechtzeitig zur Europawahl, eine eigene Partei gegründet. Oder der Wagenknecht-Verein würde sich einer existierenden Partei anschließen. Gerüchten zufolge soll es Gespräche mit der Partei des Ex-Unternehmers und ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Jürgen Todenhöfer gegeben haben, was dieser bestreitet.
Dass eine "Liste Wagenknecht" mühelos den Einzug ins Europaparlament schaffen würde, daran gibt es keine Zweifel. Umfragen zufolge käme eine Wagenknecht-Partei derzeit auf 20 bis 25 Prozent. Dass man von solchen Stimmungsbildern nicht aufs Resultat schließen darf, zeigt zwar das Beispiel der Partei von Jürgen Todenhöfer. Diese erreichte kurz vor der Bundestagswahl 2021 sensationelle neun Prozent in Umfragen. Am Ende erhielt sie nur 0,5 Prozent der Stimmen. Anders als bei der Bundestagswahl gibt es aber für das Europarlament in Deutschland keine Sperrklausel.
Neue Parteien brauchen Geld, Strukturen und Unterstützer
Doch die eigentlichen Herausforderungen würden für die Wagenknecht-Partei erst danach beginnen. Um zur Bundestagswahl zugelassen zu werden, müssen Parteien belegen, dass sie ernsthaft an der politischen Willensbildung mitwirken. Neben Satzung und Programm müssen Parteien, die zuvor weder im Bundes- noch in einem Landtag vertreten waren, für einen Kandidaten Unterschriften von mindestens 200 Wahlberechtigten sammeln. Für eine Landesliste müssen mindestens 0,1 Prozent der bei der letzten Bundestagswahl im jeweiligen Land Wahlberechtigten unterschreiben.
Wagenknecht müsste also spätestens nach der Europawahl flächendeckend Landesverbände für ihre Partei gründen. Da der Erfolg derselben eng mit ihrer Person verbunden wäre, müsste sie überall dabei sein. Doch schon in ihrer Zeit als Fraktionsvorsitzender zeigte sich, dass Wagenknechts Belastbarkeit Grenzen hat. 2019 zog sie sich aus gesundheitlichen Gründen von dem Posten zurück; sie selbst sprach später von einem Burn-out.
Ein anderes Problem: Neugründungen von Parteien ziehen auch viele Querulanten an, die sich nur schwer in Strukturen einbinden lassen. Das führt in der Praxis oft zu zermürbenden Parteitagen mit stundenlangen Kämpfen um Details.
Nicht zu unterschätzen ist auch die finanzielle Frage: Junge Parteien, die noch nicht viele Mitglieder haben, brauchen vermögende Unterstützer. Die Hoffnung der Wagenknecht-Fans in der Linken, dass viele aus der Funktionärsebene in die neue Partei wechseln und diese somit personell und strukturell stärken würden, könnte sich als trügerisch erweisen. Im Juli erklärten 19 Abgeordneten aus Sachsen, die für die Linke im Landtag, im Bundestag oder im Europaparlament sitzen, schon einmal prophylaktisch, dass sie Wagenknecht bei einer Neugründung nicht folgen würden.
Im Bundestag wird von einer Handvoll Abgeordneter ausgegangen, die der Linken den Rücken kehren würden. Einer, der sich offen für die Gründung einer Wagenknecht-Partei ausspricht, ist der frühere Parteichef Klaus Ernst (68). "Ich würde es begrüßen, wenn es eine Partei geben würde, die sich besonders den Interessen der abhängig Beschäftigten, der Rentner und Rentnerinnen und der ganz normalen Leute verbunden fühlt, mehr als es die Linke zurzeit tut", sagte er zu t-online. Ernst wird als eine der Schlüsselfiguren gehandelt, käme es zur Gründung einer Wagenknecht-Partei. Er hatte einst die WASG mitgegründet. Als Verein. Ernst selbst will sich zu solchen Szenarien nicht äußern.
Sahra Wagenknecht hat bereits angekündigt, nicht mehr für die Linke zu kandidieren. Ob die 54-Jährige nun eine eigene Partei gründen wird, lässt sie weiter offen. Ihr dürfte noch ein früherer gescheiterter Versuch in den Knochen stecken. Im September 2018 hatte sie unter großem Tamtam und mit viel prominenter Unterstützung die Sammlungsbewegung "Aufstehen" ins Leben gerufen. Doch die erwies sich als politischer Rohrkrepierer. Nur ein halbes Jahr später verabschiedete sich Wagenknecht bereits wieder von dem Projekt.
Allerdings könnte sich in den kommenden Wochen der Druck auf Wagenknecht, die Neugründung doch zu wagen, verstärken. Viel wird davon abhängen, ob bei der Wahl des Fraktionsvorstands eine Lösung gefunden wird, die die Mehrheit der Mitglieder überzeugt. Sehr wahrscheinlich ist aber auch: Würde eine geschwächte Linke bei der nächsten Bundestagswahl in Konkurrenz zu einer neuen Wagenknecht-Partei antreten, würde das das politische Aus für die Linke bedeuten. Und eine sehr ungewisse und anstrengende Zukunft für die Wagenknecht-Partei.
- Eigene Recherchen