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Ukraine-Flüchtlinge | Stark-Watzinger: "Es gibt verschiedene Hürden"


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Ministerin Stark-Watzinger
"Putins Regime darf nicht von europäischem Wissen profitieren"

InterviewVon Lisa Becke, Tim Kummert

Aktualisiert am 20.03.2022Lesedauer: 6 Min.
Wladimir Putin bei einer Messe für Militärtechnik (Archivbild): Das russische Regime soll nicht von europäischem Forschungsergebnissen profitieren, so Ministerin Bettina Stark-Watzinger.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin bei einer Messe für Militärtechnik (Archivbild): Das russische Regime soll nicht von europäischem Forschungsergebnissen profitieren, so Ministerin Bettina Stark-Watzinger. (Quelle: Alexei Druzhinin/TASS/imago-images-bilder)

Wie bekommen ukrainische Kinder eine Chance in Deutschland? Und haben Kooperationen mit Russland in der Forschung noch eine Zukunft? Ein Gespräch mit der Bundesbildungsministerin.

Exakt 450 Meter entfernt vom Büro von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger kommen in diesen Tagen ukrainische Geflüchtete an. Manchmal sind es Hunderte Menschen am Tag, manchmal auch Tausende, die am Berliner Hauptbahnhof aus den Zügen steigen. Darunter: Viele Kinder und Jugendliche. Und wie soll es jetzt weitergehen? Ein Gespräch über das Gelingen von Integration, die Bewahrung von Identität – und die Frage, wie Wissenschaft noch eine Brücke nach Russland sein kann.

t-online: Frau Stark-Watzinger, Sie sind jetzt seit gut 100 Tagen im Amt. Was haben Sie in dieser Zeit eigentlich erreicht?

Bettina Stark-Watzinger: Eine ganze Menge. Als Chancenministerium haben wir unter anderem eine große Reform des Bafögs auf den Weg gebracht und sind auch schon sehr weit mit der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation, womit aus wissenschaftlichen Erkenntnissen schneller Geschäftsmodelle werden sollen. Doch natürlich stehen wir jetzt vor einer ganz neuen Herausforderung, die man im letzten Jahr so nicht absehen konnte. Das erfordert zusätzliche Anstrengungen und auch neue Prioritäten.

Sie meinen den Ukraine-Krieg. Viele Geflüchtete von dort kommen gerade in Deutschland an. Wie viele Kinder sind darunter, die jetzt hier zur Schule gehen werden?

Das lässt sich noch nicht genau sagen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geht von bis zu vier Millionen Menschen aus, die aus der Ukraine fliehen könnten. Wie viele davon nach Deutschland kommen, ist noch nicht sicher. Es sind vor allem Frauen und Kinder, die jetzt kommen. Daher gilt die Faustformel: mindestens ein Drittel der Flüchtlinge sind unter 18 Jahren alt.

Was tun Sie jetzt für diese Kinder und Jugendlichen?

Wir sind in enger Absprache mit den Ländern. Die Kinder und Jugendlichen brauchen Sicherheit und eine Perspektive. Es geht um Kitaplätze und Schulunterricht. Ein Modell sind dabei die sogenannten Willkommensklassen.

Eine Idee aus dem Jahr 2015, als viele Flüchtlinge aus dem Nahen Osten nach Deutschland kamen.

Ja, wir können von den Erfahrungen von damals profitieren. Viele Schulleiter wissen, dass man Lehrer aus dem Ruhestand noch mal zurückholen kann in einer solchen Lage. Sie wissen, wie man kurzfristig zusätzliche Unterrichtsräume beschafft — und vor allem wissen sie eines: dass viele der jungen Menschen traumatisiert sind und eine zusätzliche Betreuung in den Willkommensklassen brauchen.

Bettina Stark-Watzinger, 53 Jahre alt, ist seit Dezember Bundesbildungsministerin. Die FDP-Politikerin war zuvor fast zwei Jahre lang Parlamentarische Geschäftsführerin der liberalen Bundestagsfraktion. Stark-Watzinger führt zudem den hessischen Landesverband ihrer Partei.

Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka sagte gerade vor der Kultusministerkonferenz, wo alle Landes-Bildungsminister zusammenkommen, dass sie Unterricht in Willkommensklassen ablehnt. Die Klassen wären r die ukrainischen Kinder eine "Wand des Unverständnisses", die das "Gefühl der Minderwertigkeit" verstärkten. Sie schlägt Unterricht nach dem ukrainischen Lehrplan vor. Was halten Sie davon?

Ich habe großes Verständnis für diese selbstbewusste Haltung.

Warum?

Die Menschen aus der Ukraine, die gerade bei uns ankommen, wollen schon bald in ihre Heimat zurückkehren. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass sie nicht planen, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Sie wollen verständlicherweise an ihrer ukrainischen Identität festhalten. Und davor habe ich großen Respekt.

Viele Experten bezweifeln, dass in einem Jahr wieder ein normales Leben in der Ukraine möglich ist.

Das ist richtig. Ganze Städte werden dort gerade zerbombt. Doch niemand von uns kann in die Zukunft blicken. Wir müssen daher auf beides vorbereitet sein: dass viele Kinder und Jugendliche auf absehbare Zeit zurückkehren – aber auch darauf, dass sie länger hierbleiben.

Wie schafft man den Spagat zwischen der Integration und dem Erhalt der Identität?

Indem wir jetzt pragmatisch handeln. Als Bildungsministerium sind wir mit den Ländern im Austausch, um einfache Lösungen zu finden. Das ukrainische Schulsystem wurde modernisiert und ist sehr digital – und einige Schüler stehen kurz vor ihrem Schulabschluss. Den sollen sie natürlich so schnell wie möglich machen können. Wenn es uns gelingt, dass die Ukrainer möglichst zügig an das Lernen anknüpfen können und wir gleichzeitig eine Brücke in den deutschen Alltag bauen, dann lässt sich dieser Spagat bewältigen.

"Wir wollen gemeinsam darauf hinwirken, dass jedes Kind die gleiche Chance auf Entwicklung und Verwirklichung hat", steht im Koalitionsvertrag. Im internationalen Vergleich haben Kinder aus einkommensschwachen Familien große Nachteile in Deutschland. Genauso wie Kinder mit Zuwanderungsgeschichte. Wie wollen Sie das ändern – gerade vor dem Hintergrund der ukrainischen Geflüchteten, die jetzt ankommen?

Ich kenne diese Statistiken und weiß, wie groß das Problem ist. Die Herkunft entscheidet noch zu stark über den Bildungserfolg. Mit unserem geplanten Startchancen-Programm wollen wir das ändern. Wir helfen dort, wo Hilfe am meisten gebraucht wird und unterstützen einige Schulen besonders intensiv.

Wie viele Schulen werden das sein?

Geplant sind 4.000 Schulen von etwa 32.000 allgemeinbildenden Schulen bundesweit. Sie sollen mehrfach gefördert werden: mit einem Investitionspaket und einem Chancenbudget. Dabei schauen wir mit den Ländern, wo entsprechende Vorprojekte vorhanden sind und knüpfen daran an. Ganz wichtig ist: Wir unterstützen auch die Schulsozialarbeit, denn in den Bildungseinrichtungen wird natürlich mehr getan, als nur Wissen vermittelt.

Auch ansonsten wirkt das Schulsystem ausgelaugt. Viele Lehrer beklagen, dass man sich über zwei Jahre lang nicht um die Schüler mit zusätzlichem Förderbedarf kümmern konnte.

Viertklässler haben durch die Schulschließungen ein halbes Jahr bei der Lesekompetenz verloren. Das ist schlimm. Präsenzunterricht ist die beste und gerechteste Form der Bildung, das ist jetzt klar. Schüler müssen in der Schule sein, damit sie wirklich lernen.

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In der Pandemie hatten die Schulen nie Priorität. Fehlt den Schülerinnen und Schülern schlicht die Lobby?

Zu Beginn der Pandemie wurden die massiven Auswirkungen von Schulschließungen nicht gesehen. Jetzt gibt es Studien, die belegen, was das für massive psychische, soziale und körperliche Folgen hat. Wir müssen die Schulen künftig offenhalten, das muss unser Ziel bleiben.

Möglicherweise kommt im Herbst eine neue Welle. Werden die Schulen dann – überspitzt gesagt – wieder als Erstes geschlossen und als Letztes geöffnet?

Ich möchte klar sagen, dass sich die Corona-Politik verändert hat, seit die Ampel regiert: Im November 2021 haben wir dafür gesorgt, dass keine flächendeckenden Schulschließungen mehr möglich sind. Dabei werden wir bleiben. Die konkrete Ausgestaltung der Bildungspolitik bleibt aber natürlich Ländersache.

Ist Ihr Problem nicht das aller Bildungsminister: Sie haben das Geld, Sie haben den Willen, Sie haben die guten Ideen – und stoßen dann auf ein föderales Netz, in dem Sie nichts durchsetzen können?

Ich war gerade bei der Kultusministerkonferenz zu Gast und wir hatten einen sehr guten Austausch. Wir haben vereinbart, dass das jetzt regelmäßig so sein wird.

Das war bislang nicht so?

Nein, das ist eine Neuerung. Es ist doch klar: Wir haben die gleichen Ziele. Deshalb sind die Gräben überwindbar, die Sie sehen. Wichtig ist, dass wir uns nicht zerstreiten in kleinteiligen Diskussionen, sondern die großen Aufgaben angehen.

Zum Beispiel?

Als Erstes geht es darum, eine klare Aufgabenteilung zu finden. Bei der Digitalisierung würde es helfen, wenn der Bund mehr Verantwortung übernimmt.

Der erste Digitalpakt, der die Schulen von Faxgeräten und Tafelkreide befreien und iPads und Whiteboards einführen sollte, ist weitgehend gescheitert. Nach drei Jahren kam nur ein Zehntel der bereitgestellten finanziellen Mittel in den Schulen an. Das wollen Sie jetzt also wiederholen?

Er ist nicht gescheitert, sondern muss beschleunigt werden. Beim Digitalpakt 2.0 wollen wir anders vorgehen.

Was soll sich ändern?

Wir werden den Digitalpakt 2.0 anders ausgestalten. Wir wollen an den Schulen verlässlich für die Wartung der technischen Endgeräte sorgen und daran mitarbeiten, dass unsere Bildungseinrichtungen künftig besser ausgerüstet sind. Dafür braucht es andere rechtliche Möglichkeiten, sodass der Bund mehr bewegen kann.

Wo lag das Problem beim ersten Digitalpakt?

Es gibt verschiedene Hürden, die wir jetzt angehen. Ein Beispiel: Eine einzelne Schule ist oft mit dem Erarbeiten eines pädagogischen Konzeptes für die Beantragung der Gelder überfordert. Das wollen wir mit Standardkonzepten ändern.

Warum ist das wichtig?

Weil wir den Digitalpakt beschleunigen müssen, wenn wir die Schulen insgesamt voranbringen wollen. Die Schulen sind die Keimzelle, die Grundlage für jede Form von weitergehender Bildung in unserem Land. Inklusive der Forschung an den Hochschulen. Und die könnte wichtiger denn je werden, gerade jetzt.

Weil aufgrund des Ukraine-Kriegs alle Forschungskooperationen mit Russland beendet wurden?

Nicht alle, aber die meisten. Es fließt kein deutsches Steuergeld mehr für Forschungsprojekte und Programme mit staatlicher Beteiligung Russlands. Und es findet kein Technologietransfer mehr statt. Russland muss angesichts seines brutalen Überfalls auf die Ukraine isoliert werden. Es ist aber natürlich ein einschneidender Schritt für die wissenschaftliche Kooperation.

Es gibt auch viele Forscher in Russland, die sich gegen den Krieg stellen.

Kontakte zwischen Wissenschaftlern in Deutschland und Russland sollen weiter bestehen. Aber es darf keinen direkten Transfer von Erkenntnissen mehr geben: Putins Regime darf nicht von europäischem Wissen profitieren – weil sie das im schlimmsten Fall für ihre Kriegsführung nutzen könnten.

Wird es künftig überhaupt noch Forschungskooperationen mit Russland unter Putins Führung geben?

Das hängt davon ab, wie sich Putin in Zukunft verhält. Wissenschaft ist oft eine Brücke in Länder hinein, mit deren Regierungen eine Zusammenarbeit oft schwierig ist. Auch, um im Austausch mit der Zivilgesellschaft in diesen Staaten zu bleiben. Deshalb ist das immer eine Gratwanderung. Darüber sprechen wir jetzt in Deutschland und Europa. Denn eines hat die aktuelle Situation gezeigt: Wir müssen für unsere Werte einstehen.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Interview mit Bettina Stark-Watzinger in Berlin
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