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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Reiner Haseloff "Und ich soll allen Ernstes den Hammer hervorholen?"
Heute beraten die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten über weitere Verschärfungen der Corona-Maßnahmen. Reiner Haseloff, der Regierungschef von Sachsen-Anhalt, ist dagegen. Warum?
t-online: Herr Haseloff, die Zahl der Corona-Fälle in Deutschland steigt, auch bei Ihnen in Sachsen-Anhalt. Dennoch wollen Sie in Ihrem Bundesland die Maßnahmen nicht verschärfen. Warum nicht?
Reiner Haseloff: Wir wägen genau ab, was verantwortbar ist, damit sowohl Zumutung wie Gefährdung begrenzt bleiben. Die Infektionen in Sachsen-Anhalt gehen leicht nach oben, sind aber noch nachverfolgbar und aktuell kein Grund darüber nachzudenken, die Maßnahmen wieder zu verschärfen.
Andere Ministerpräsidenten in Deutschland erwägen — wohl auch auf Drängen des Kanzleramts — genau das: eine erneute Verschärfung.
Aber wir müssen für unser eigenes Bundesland einen richtigen Kurs finden. Den haben wir aktuell gut austariert und an den halten wir uns. Aber: Sollten sich die Infektionszahlen erhöhen, wären wir jederzeit in der Lage, die Maßnahmen wieder zu verschärfen. Noch wichtiger als allein auf die Infektionszahlen zu schauen, ist es jedoch, die schweren Fälle im Blick zu haben. Sollte es hier eine merkliche Zunahme geben, werden wir sofort reagieren.
Ihr Kurs besteht vor allem darin, gegen Maskenverweigerer kein Bußgeld zu verhängen.
Wir wollen nicht die einzelnen Menschen bestrafen, die keine Maske tragen. Das liegt auch an der besonderen Lage hier. Zum Zeitpunkt der Entscheidung in den anderen Bundesländern gibt es bei uns nicht den geringsten Anlass, das geltende Recht zu verschärfen, wir haben bei uns einfach eine etwas andere Situation als in diversen anderen Bundesländern.
Wie meinen Sie das?
Es gibt bei uns in Sachsen-Anhalt relativ wenige im Land "produzierte" Corona-Fälle. Viele Fälle stammen von außen. Teilweise von Rückkehrern aus Urlaubsländern, teilweise von Menschen, die ihre Verwandten im Ausland besucht haben. Das bedeutet aber auch: Hätten wir diese Reisebewegungen nicht, hätten wir praktisch noch weniger Infektionen. Da kann ich jetzt nicht hingehen und jedem einzelnen, der kurz mal keine Maske trägt, ein Bußgeld aufbrummen. In einem Staat, der auf den verantwortlich handelnden Bürger setzt, sind Straf- und Bußgeldbestimmungen immer nur ultima ratio.
Sie belegen unter anderem die Geschäfte mit Bußgeldern, wenn Menschen ohne Maske einkaufen.
Exakt. Wir nehmen den in die Verantwortung, der eine Dienstleistung anbietet oder ein Geschäft betreibt, dass er dabei bis hin zur Ausübung seines Hausrechts für die Durchsetzung geltenden Rechts sorgt. Und das wird auch kontrolliert. Mir geht es um die Stimmung in meinem Land: Wenn man nur mit Strafen oder Geldbußen droht, hat man psychologisch einen Nachteil: Wir haben das zweitniedrigste Infektionsgeschehen in Deutschland. Und da soll ich allen Ernstes den Hammer hervorholen?
Ihr bayerischer Amtskollege Markus Söder spricht gern mal davon, "die Zügel anzuziehen".
Schön, dass Sie es ansprechen! In München beispielsweise herrscht ein verhältnismäßig hartes Regime. Trotzdem umarmten sich die Fans zu Tausenden nach dem Gewinn der Championsleague durch den FC Bayern. Und wissen Sie, was dann passiert ist?
Die Verstöße wurden zu großen Teilen nicht sanktioniert.
Richtig! Weil der Staat da de facto nur schwer durchgreifen kann! Keine Polizei der Welt kann das schaffen und die für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten zuständigen Gesundheitsämter schon gar nicht. Die haben wahrlich anderes zu tun. Wichtiger ist es, dass die Gesundheitsämter Infektionsketten nachverfolgen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Markus Söder hat eine extrem schwierige Lage zu bewältigen. Doch die steigenden Zahlen sind ja der beste Beleg dafür, dass nur Sanktionen allein die Pandemie nicht eindämmen.
Welche Gefahr sehen Sie bei den Sanktionen?
Mit Geldstrafen gewinnt man nicht Menschen für die Bekämpfung der Pandemie, sondern man verstärkt die Verbitterung. Wir als Landesregierung müssen da aufpassen, dass wir keine falschen Emotionen schüren, langfristig kann das sonst schlimme Folgen haben.
Warum?
Wir werden länger mit dieser Pandemie leben, als wir uns aktuell vorstellen können. Es erinnert mich ein wenig an die Pest, die meine Heimatstadt Wittenberg im Mittelalter heimsuchte. Danach wurde der Alltag radikal umstrukturiert: Zum Beispiel wurde eine ordentliche Wasser- und Abwasserversorgung geschaffen.
Die ist ja nun schon gegeben.
Aber was sich von damals lernen lässt: Wir müssen an den gesunden Menschenverstand appellieren. Die Menschen müssen einsehen, dass sich ihr Alltag verändert, und die meisten tun es bereits. Dies kann doch nicht nur durch die Androhung staatlicher Sanktionen geschehen.
Welche Gefahr sehen Sie bei dem harten Law-and-Order-Kurs?
Es geht darum, dass wir unser demokratisches System nicht gefährden. In der Flüchtlingskrise 2015 trat der Staat schon mal so auf, dass eine klare Meinung vorgegeben wurde. Die Folge davon war, dass die AfD nun in allen Landesparlamenten und im Bundestag sitzt. Das darf uns kein zweites Mal passieren. In der Corona-Pandemie müssen wir als Regierende sehr genau aufpassen, was als "Linie" vorgegeben wird. Bevormunden darf man die Menschen nicht. Die Pandemie ist eine existenzielle Herausforderung, bei der wir den Kern der Gesellschaft zusammenhalten müssen.
Für Unverständnis sorgte auch der Schlingerkurs der Regierung: Es gab lange keine klare Angabe, ob der R-Wert oder die Verdopplungszeit als wichtigster Maßstab bei der Bekämpfung angesetzt werden soll. Auch die Wirksamkeit von Gesichtsmasken wurde von der Kanzlerin stark bezweifelt. Wie groß ist der Schaden an der Glaubwürdigkeit, der dabei entstanden ist?
Um ehrlich zu sein, ein gewisser Schaden ist entstanden. Dieser Kurs hat zu einer Erosion des Vertrauens der Menschen in wissenschaftliche Politikberatung geführt. Und dass der eine Ministerpräsident in dieser Debatte auf Lockerungen und der andere besonders auf Vorsicht setzte, war sicher für die Menschen etwas verwirrend. Richtig ist: Wir brauchen seriöse, wissenschaftliche Aussagen als Arbeitsgrundlage für die Regierung. Es ist dann aber Verantwortung der Politik, diese auch mit gesellschaftspolitischen Konsequenzen abzuwägen. Und dann zu entscheiden, was für die Menschen zumutbar ist — und was nicht, und dies sehr sorgfältig zu kommunizieren.
- Persönliches Interview mit Reiner Haseloff in Magdeburg