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Ein Jahr Große Koalition: So ruhig wie jetzt wird es nicht bleiben


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Bilanz nach einem Jahr
Die Ruhe vor dem Sturm

Eine Analyse von Jonas Schaible

14.03.2019Lesedauer: 5 Min.
Kanzlerin Angela Merkel: Nach einem Jahr in ihrer letzten Amtszeit arbeitet die Regierung gerade ruhig.Vergrößern des Bildes
Kanzlerin Angela Merkel: Nach einem Jahr in ihrer letzten Amtszeit arbeitet die Regierung gerade ruhig. (Quelle: Christian Spicker/imago)
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Die Koalition begann chaotisch, ging chaotisch weiter – und nahm dann beflissen die Arbeit auf. Aber nun droht schon wieder neues Chaos.

Stille ist immer dann besonders auffallend, wenn sie auf großen Lärm folgt. Insofern ist das metaphorisch geräuschlose Regieren der Koalition seit einer ganzen Weile bemerkenswert, weil es auf Monate des Chaos und des Streits folgt, auf sprichwörtliches Gezeter und Gelärme also.

Genau ein Jahr ist die Regierung jetzt im Amt, am 14. März 2018 wurde die Kanzlerin zum letzten Mal vereidigt, mit ihr die Kabinettsmitglieder. Vier Ziele haben sich die Koalitionsparteien gesteckt: gut regieren, den Koalitionsvertrag abarbeiten, dabei unterscheidbar bleiben und sich nach der Hälfte selbst befragen. Was wurde erreicht? Und Was kommt noch auf das Land zu? Hier eine Bilanz.

Abgestraft im Sommer

Um das gute, das erwachsen-verantwortungsvolle Regieren stand es lange schlecht. Erst war da die längste Regierungsbildung, eine Folge der Jamaika-Sondierungen, Groko-Sondierungen und Groko-Verhandlungen, eine Serie von durchgemachten Nächten, an deren Ende eine nicht wirklich glückliche schwarz-rote Koalition stand, die eher urlaubsfähig als arbeitsfähig war. Es folgten ein lähmender unionsinterner Streit um die Zurückweisung von einigen wenigen Flüchtlingen an der Grenze zu Österreich und schließlich die später zurückgenommene Strafbeförderung des ehemaligen Verfassungsschutzchefs Hans-Georg Maaßen.

Da war September, die Regierung gerade ein halbes Jahr im Amt, die SPD war endgültig im Jammertal angelangt, die CSU wurde abgestraft, Horst Seehofer hatte sich unter unschuldig-drängender Beihilfe von Markus Söder und Alexander Dobrindt selbst in seiner eigenen Partei zur Unperson gepoltert und nach der Hessen-Wahl war selbst die ewige Angela Merkel so angezählt, dass sie freiwillig und selbstbestimmt ihren Rückzug ankündigte.

Abarbeiten von Spiegelstrichen

Doch etwa um diese Zeit, Ende Oktober, nach den beiden Landtagswahlen in Bayern und Hessen, lange genug vor den Wahlen 2019, nach dem Ende der quälenden Maaßen-Kontroverse und mit der Aussicht auf eine Zeit nach Merkel, etwa um diese Zeit beruhigte sich alles. Die Nervosität ebbte ab. Das Geschrei wurde leiser. Die Politik ruhiger. Die Regierung begann auch in der Wahrnehmung zu regieren. Und das, was zuvor schon erreicht wurde, wurde nun nicht mehr überlagert.


Damit fließen Ziel 1, verantwortungsvoll regieren, und Ziel 2, den Koalitionsvertrag abarbeiten, zusammen. Und abgearbeitet wurde. Man kann die abgeschlossenen und erst recht die angestoßenen Vorhaben nur auszugsweise aufzählen.

Neue Pfleger, mehr Geld für Kitas

Arbeitgeber zahlen wieder die Hälfte der Krankenkassenbeiträge, nicht mehr weniger (Parität). Arbeitnehmer in größeren Betrieben haben jetzt das Recht, Teilzeit zu arbeiten und danach wieder in Vollzeit zurückzukehren. Menschen können sich jetzt zu einer Art Sammelklage zusammenschließen (Musterfeststellungsklage). Arbeitslose haben künftig mehr Anspruch auf Weiterbildung, mehr Menschen haben Anspruch auf Arbeitslosengeld I und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sind um 0,3 Prozentpunkte gesunken (Qualifizierungsoffensive). Außerdem bekommen Eltern künftig mehr Kindergeld.

Das Rentenniveau wurde bis 2025 auf 48 Prozent festgeschrieben (Rentengarantie) und Mütter von Kindern, die vor 1992 geboren wurden, bekommen ab jetzt etwas mehr Rente (Mütterrente). Der Bund stellt bis 2021 rund 5,5 Milliarden Euro zur Verfügung, um Kitas auszubauen, Erzieher einzustellen oder Kita-Gebühren zu senken (Gute-Kita-Gesetz). Er will auch Mittel bereitstellen, um bald 12.000 neue Pfleger einzustellen.

Baukindergeld umgedeutet

Wenn eine Familie ein Haus baut oder kauft, bekommt sie bis zu 12.000 Euro Zuschuss pro Kind (Baukindergeld). Der Bund darf künftig eigene Grundstücke, Ländern und Kommunen bevorzugt, zur Verfügung stellen. Wer mietet, soll künftig immer Auskunft über die Vormiete bekommen, Mieterhöhungen sollen stärker begrenzt werden (neue Mietpreisbremse).

Der Familiennachzug für Flüchtlinge, während der Verhandlungen eines der zentralen Themen, wurde stark begrenzt. Ein Fachkräftezuwanderungsgesetz ist in Arbeit. Eine Bafög-Erhöhung ist geplant.

Das Baukindergeld, einst auch als Mittel gegen Wohnraumknappheit gepriesen, wird jetzt nur noch als Maßnahme zur Vermögensbildung verkauft.

Kaum Klimaschutz

Die Kohlekommission hat Vorschläge für einen Kohleausstieg und zugleich Milliardenhilfen für die betroffenen Regionen vorgelegt, die allerdings erst umgesetzt werden müssen. Der Klimaschutz ist vielleicht die größte Leerstelle dieser Koalition, auch wenn formal noch kein Vorhaben gescheitert ist. Faktisch hängt das Klimaschutzgesetz der Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) zwischen den Ressorts fest, ohne Aussicht auf Klärung. Jedes Jahr, in dem nichts geschieht, erschwert das Erreichen der CO2-Ziele, macht damit künftig radikalere Maßnahmen nötig oder schlimmere Auswirkungen der Erderhitzung unausweichlich. Der Dürresommer 2018 machte dieses abstrakte Problem im ersten Koalitionsjahr sehr anschaulich. Noch geht untätige Ruhe glimpflich aus, bald mit großer Sicherheit nicht mehr.

Dass nichts passiert, liegt an der Indifferenz der Kanzlerin und dem Widerstand der Ressorts, wobei Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sich besonders schwer damit tut, verpflichtende CO22-Einsparungen im Verkehr anzuerkennen.

Wo ist der Aufbruch für Europa?

Insofern gelingt die Umsetzung der Spiegelstriche aus dem Koalitionsvertrag in weiten Teilen gut. Andererseits steht über dem Vertrag: "Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland." Europa, das erste Kapitel des Vertrags, spielt keine große Rolle, wenn nicht gerade Emmanuel Macron mal wieder Vorschläge verbreitet – auf die dann allerdings zuletzt Annegret Kramp-Karrenbauer antwortete, die der Regierung nicht angehört. Von einem neuen Aufbruch, gar für Europa, ist wenig zu sehen.

Intensiv gestritten wird vor allem um zwei Projekte: Die Grundrente, die die SPD gern ohne Bedürftigkeitsprüfung einführen möchte, die Union wie vereinbart nur mit Prüfung. Die Union würde ihrerseits gern den Soli auch für die 10 Prozent abschaffen, die am besten verdienen, während die SPD am vereinbarten Ziel festhält, ihn nur für die 90 Prozent darunter zu streichen.

Unterscheidbarkeit nimmt zu

Damit ist Ziel 3 angesprochen, sich unterscheiden und erkennbarer werden. Beides betreiben SPD und CDU seit Jahresbeginn mit viel Elan und sogar einigem Erfolg. Die SPD hat ihr Hartz-Trauma recht schlüssig aufgearbeitet, die CDU auf ihr "Merkels Flüchtlingspolitik"-Trauma mit einer Wunschliste harter Innenpolitiker reagiert. Die Rede von der Ununterscheidbarkeit war nie wirklich überzeugend, sie ist es aktuell umso weniger.

Die SPD hat damit ihren Umfrageabsturz immerhin gebremst, die CDU erholt sich seit der Kampfkandidatur um den Parteivorsitz auch leicht – aber genügt das, um mit Erfolg durch die Europawahl Ende Mai zu kommen, auch ohne Aufbruch für Europa? Und reicht es vor allem, um mit gutem Ergebnis durch die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen zu kommen? Reicht das auch, wenn die Steuereinnahmen absehbar nicht mehr so schnell wachsen wie gewohnt?

Mit den Landtagswahlen wird die Ruhe enden

Wenn ja, wird die Ruhe womöglich zurückkehren – im Wahlkampf wird der Lärm sowieso zunehmen. Sollte die CDU enttäuschen, wird das neue Führungsduo Kramp-Karrenbauer/Ziemiak angegangen werden. Einiges spricht dafür, dass zumindest die SPD bei den Landtagswahlen enttäuschen wird, weil auch genau dort gewählt wird, wo sie besonders schwach ist, in Sachsen und in Thüringen. Dann werden Andrea Nahles und Olaf Scholz wahrscheinlich immer noch die Partei führen und viele SPD-Abgeordnete werden ihre Mandate behalten wollen, aber die Diskussion über einen Bruch der Koalition wird dann wieder laut werden.


Denn dann naht ohnehin Ziel 4, die Selbstbefragung zur Halbzeit. Die SPD wollte diese Klausel, die CDU nimmt sie jetzt auch für sich in Anspruch. Von einem Koalitionsbruch hätten derzeit beide eher nichts. Aber zumindest der Lärm wird dann wieder anschwellen. So ruhig wie jetzt wird es kaum bleiben.

Verwendete Quellen
  • Koalitionsvertrag
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