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Grünen-Parteivize Sven Giegold im Interview über den Kurs der Partei


Grünen-Vize Giegold
"Das ist fatal"

  • Johannes Bebermeier
InterviewVon Johannes Bebermeier

04.03.2025 - 11:27 UhrLesedauer: 7 Min.
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Robert Habeck und Sven Giegold: "Die Verschiebung der Grünen nach rechts hat nicht funktioniert." (Quelle: IMAGO/Chris Emil Janssen/imago)
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Wie werden die Grünen wieder erfolgreich? Parteivize Sven Giegold hält die Verschiebung nach rechts für gescheitert. Und hat eine neue Idee.

Bei den Grünen geht es gerade oft um zwei Zahlen. Die eine lautet 20,5. So viel Prozent haben sie bei der Europawahl 2019 bekommen, ihrem besten Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl. Die andere ist 11,6 Prozent. Das ist das enttäuschende Ergebnis der Bundestagswahl nach einem Wahlkampf mit dem Mann an der Spitze, dem viele Grüne zugetraut haben, mehr Menschen anzusprechen: Robert Habeck.

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Was ist 2019 besser gelaufen als jetzt? Und wie können die Grünen an die alten Erfolge anknüpfen? Das sind die Fragen, die in der Partei gerade diskutiert werden. Der Parteilinke Sven Giegold hat beide Wahlen in führender Position erlebt. Er war lange Europaabgeordneter, ist dann Habecks Staatssekretär im Wirtschaftsministerium geworden und nun seit November stellvertretender Bundesvorsitzender. Er sagt: "Wir müssen lebendig und kräftig und schärfer werden."

t-online: Herr Giegold, wie besorgt sind Sie nach dem enttäuschenden Bundestagswahl-Ergebnis für die Grünen?

Sven Giegold: Es ist ein schwieriges Ergebnis, denn wir haben in zwei Richtungen verloren: nach links und nach rechts. Allerdings nacheinander. Schon vor zwei Jahren haben wir viele der Wähler verloren, die sich grundsätzlich vorstellen konnten, sowohl für die CDU als auch die Grünen zu stimmen.

Also die vielbeschworene Mitte. Was ist da passiert vor zwei Jahren?

Es waren die Diskussionen um zwei Entscheidungen, die herausstachen: der Atomausstieg und noch viel stärker das Heizungsgesetz. Beide Male sind den Grünen Dinge zugeschrieben worden, die uns bei möglichen Wechselwählern von der Union geschadet haben.

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Sven Giegold (Quelle: IMAGO/Chris Emil Janssen/imago)

Zur Person

Sven Giegold, 55 Jahre, ist seit 2008 bei den Grünen und gehört dem linken Parteiflügel an. Er ist Mitbegründer von Attac Deutschland. Für die Grünen saß er seit 2009 im Europäischen Parlament, lange Zeit als Sprecher der deutschen Grünen und Spitzenkandidat. 2021 ist er als Staatssekretär ins Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gewechselt, seit November ist er stellvertretender Bundesvorsitzender seiner Partei.

Was hätte beim Atomausstieg anders laufen müssen?

Ich weiß gar nicht, ob etwas hätte anders laufen müssen. Aber das war der erste Moment, bei dem es gelungen ist zu behaupten, wir Grünen hätten nicht mehr das Wohl aller im Blick, sondern vor allem unser Parteiprogramm.

Aber das stimmt nicht, wollen Sie sagen?

Nein, denn wir haben in der Bundesregierung ja den Streckbetrieb beschlossen, also die Atomkraftwerke über das eigentliche Ausstiegsdatum hinaus mit den vorhandenen Brennstäben zu Ende betrieben. Heute sehen wir, wie unverträglich Atomenergie und erneuerbare Energien eigentlich sind, weil wir solche unflexiblen Grundlastkraftwerke in immer mehr Stunden gar nicht gebrauchen können. Denn die Erneuerbaren sind dann im Überfluss vorhanden. Doch in der Energiekrise war der schmerzhafte Weg in der Koalition zu dieser Entscheidung natürlich ein Problem.

Und wann haben die Grünen die Wähler in die zweite Richtung verloren, nach links?

Realisiert hat sich das jetzt in Wahlkampf. Da haben wir erstmals einen richtigen Schwung in Richtung Linkspartei verloren nach der Abstimmung der Union mit der AfD im Bundestag. Beides zusammen erklärt im Kern den Abstieg vom Rekordergebnis bei der Europawahl 2019 mit 20,5 Prozent auf die 11,6 Prozent jetzt.

Was schließen Sie aus diesen Verlusten nach links?

Eines kann man eindeutig sagen: Die Verschiebung der Grünen nach rechts hat nicht funktioniert. Unseren Wählerinnen und Wählern aus der Zivilgesellschaft geht es durchaus um die Sache, nicht die Verpackung. Sie wollen grundlegende soziale und ökologische Veränderungen. Wenn wir für den Klimaschutz etwas durchsetzen, so ist das nicht zuerst aus wirtschaftlichen Gründen. Wir schützen die Natur auch um ihrer selbst willen. Die Ungleichheit ist für eine Demokratie zu groß geworden und braucht Korrektur auch durch Steuerpolitik. Grüne Politik muss nicht dauernd auf rechts gedreht werden. Sie kann grün kommuniziert werden, ohne quietschgrün zu werden. Kompromisse sollten wir künftig als Kompromisse benennen, statt nur die Erfolge darin zu verkaufen. Wenn dagegen linksgrüne Wähler eine bessere Wahlalternative für sich sehen, dann nutzen sie die auch. Selbst wenn viele von ihnen die Ukraine- und Außenpolitik der Linkspartei als unzureichend und vielleicht sogar neoimperialistisch empfinden. Daraus folgt für mich, dass wir als Grüne wieder grüner werden müssen.

Was heißt das: grüner werden?

Wir müssen lebendig und kräftig und schärfer werden. Ich gebe Ihnen mal ein konkretes Beispiel.

Gerne.

Wir haben in den drei Jahren der Ampel den größten ökologischen Fortschritt durchgesetzt, den Europa bisher gemacht hat. Das ist der Green Deal, der von Kreislaufwirtschaft über Biodiversität bis hin zum Klimaschutz insgesamt 38 Gesetze umfasst. Und während wir hier sitzen, wird dieser Green Deal von der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen sturmreif geschossen. Das wird zwar in Brüssel diskutiert, aber hier in Berlin ist es erstaunlich ruhig.

Was meinen Sie genau?

Das Lieferkettengesetz etwa wird gerade völlig entkernt. Produkte aus Ausbeutung und Naturzerstörung sollen auch künftig auf den europäischen Binnenmarkt kommen – zum Nachteil anständig wirtschaftender Unternehmen. Beim sogenannten Verbrenner-Aus und den Flottengrenzwerten für neue Pkw marschieren wir auch rückwärts. Und die Christdemokraten wollen an die Gebäude- und Heizungsregulierung auf europäischer Ebene ran. Viele osteuropäische Staaten stellen zudem den ETS 2 infrage, also die Ausweitung des Emissionshandels auf Gebäude und Verkehr.

Wo sehen Sie da die Rolle der Grünen?

Wir müssen den Green Deal verteidigen und weiterentwickeln. Wir müssen diese Themen laut stellen, statt Leisetreterei zu betreiben. Das wird der erste Test werden, ob die Grünen wieder kampagnenfähig sind, auch abseits des Wahlkampfs. Wir haben viele neue Mitglieder. Darin liegen enorme Chancen. Nur müssen wir die jetzt auch nutzen und zusammen mit der Zivilgesellschaft für diese Errungenschaften kämpfen.

Die grüne Kernaussage im Wahlkampf war, man müsse beim Klimaschutz "Kurs halten". War das also zu leise?

Jedenfalls haben wir an einigen entscheidenden Stellen nicht nach vorn verteidigt. Das Verbrenner-Aus zum Beispiel bedeutet natürlich für die deutsche Automobilindustrie eine große Umstellung. Gleichzeitig werden wir den Anschluss international verlieren, wenn wir nicht die elektrischen Alternativen in Europa schneller ausgebaut bekommen. Da verbinden sich die wirtschaftlichen Interessen mit den Notwendigkeiten des Klimaschutzes. Das ist Wirtschafts- und Mittelstandspolitik im besten Sinne.

Das klingt jetzt ein bisschen nach einem Plädoyer dafür, dass die Grünen nicht mehr so viel Angst haben sollten, dass ihre Positionen von starken Interessengruppen verhetzt werden könnten.

Ja, genau. Wobei wir dabei konkret sein und die Dinge so nennen müssen, wie sie sind. Da ist der Bürokratieabbau ein gutes Beispiel. Manche sagen zwar Bürokratieabbau, meinen aber eigentlich eine Rechtfertigung für Ausbeutung und Naturzerstörung. Das wollen wir nicht. Bürokratieabbau ist nicht Deregulierung. Für uns bedeutet Bürokratieabbau, die notwendigen sozial-ökologischen Schutzziele und den fairen Wettbewerb mit möglichst wenig Verwaltungsaufwand zu realisieren. Diese Unterscheidung müssen wir klar vertreten.

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Sie haben gesagt, die Verschiebung der Grünen nach rechts habe nicht funktioniert. Heißt das im Umkehrschluss, die Grünen müssen linker werden?

Ich würde es anders sagen. Wir Grüne haben auch bei Menschen Chancen, die früher Angela Merkel oder die FDP gewählt haben. Und auf der anderen Seite haben wir wichtige Wählerpotenziale bei Menschen, die der kritischen Zivilgesellschaft nahestehen. Die wollen auch klar und deutlich mit ihren Werten angesprochen werden. Wir müssen diese ganze Breite auch an der Spitze abdecken. Und das ist in den letzten Jahren nicht ausreichend geglückt.

Woran denken Sie da?

Nehmen wir das Thema Migration. Solidarität mit Flüchtlingen gehört zu den Grünen genau wie der Atomausstieg, der Naturschutz oder der Klimaschutz. Die Angriffe auf unsere Schutzverantwortung gegenüber Flüchtlingen sind in den letzten Jahren immer lauter und fundamentaler geworden. Aus wirtschaftlicher Sicht ist gleichzeitig klar, dass wir Zuwanderung dringend brauchen. Wir brauchen eine Nettozuwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr. Mit den derzeitigen Debatten zerstören wir aber das gesellschaftliche Klima, das wir brauchen, um diese Zuwanderung jemals zu bekommen. Das ist fatal.

Was heißt das für die Grünen?

Wir müssen als Grüne sagen: Nein, wir glauben, dass wir eben nicht nur hochqualifizierte Fachkräfte aufnehmen können, sondern auch einen Teil der Schutzbedürftigen der Welt willkommen heißen. Alles andere wäre international völlig unvertretbar. Und es würde nur um den Preis funktionieren, das gesellschaftliche Klima hier in Deutschland so zu ruinieren, dass nur noch sehr wenige kommen werden, weil sich niemand mehr willkommen fühlt. Gleichzeitig müssen wir die Probleme, die Zuwanderung in den Kommunen ja durchaus schafft, mit ausreichend Investitionen in Wohnraum, Gesundheit und Bildung lösen.

Die Grünen haben bei der Bundestagswahl besonders bei jungen Wählern massiv verloren. Wie wollen Sie das ändern?

Wir hatten Rekordergebnisse bei den Jungen bei der Europawahl 2019 und auch bei den Wahlen drumherum. Danach hatte die FDP bei der Bundestagswahl 2021 sehr starke Ergebnisse. Bei der letzten Europawahl hat Volt bei den Jungen sehr gut abgeschnitten. Und jetzt bei der Bundestagswahl war es die Linkspartei bei den jungen Frauen und die AfD bei den jungen Männern. Das zeigt für mich zweierlei.

Nämlich?

Der Wechsel alle paar Jahre legt nahe, dass keine starke Ideologie dahintersteckt. Vielmehr erwarten junge Menschen von der Politik ganz besonders klare Antworten, die deutlich kommuniziert werden und verständlich bei ihnen ankommen sollen. Alle diese Parteien haben in verschiedener Weise eine lebendige, kräftige, schärfere Ansprache gewählt. Wir sollten aber nicht einfach den Maximalismus der Linkspartei nachahmen, mit scheinbar einfachen Lösungen. Zu Recht erwarten unsere Wählerinnen und Wähler Konzepte, die visionär und umsetzbar sind.

Kann nach dieser Wahlniederlage personell bei den Grünen alles so bleiben, wie es ist?

Es hat ja schon grundlegende Veränderungen gegeben, mit Robert Habeck, der keine führende Rolle mehr einnehmen will, und der Neuwahl des Bundesvorstands. Ob es darüber hinaus weiteres braucht, darüber wird die Partei intern diskutieren. Aber jetzt müssen wir zunächst über unsere Strategie in der Opposition auf Bundesebene bei gleichzeitiger Regierungsverantwortung in den Ländern und Mitverantwortung in Europa diskutieren. Und im Ergebnis stellen sich dann die Personalfragen.

Sollte Annalena Baerbock Fraktionschefin werden, wie es gerade diskutiert wird?

Auch für diese Personalie gilt die Reihenfolge.

Herr Giegold, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Sven Giegold am 3. März in Berlin
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