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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Höcke auf Wahlkampftour Der größte Trug der AfD
AfD-Rechtsaußen Björn Höcke liefert in seinem Wahlkampf in Thüringen überraschend persönliche Einblicke. Das hat Strategie. Scheitert sie, könnte auch Höcke fallen.
Björn Höcke steht mit Headset auf der Bühne in Erfurt, Dutzende Handykameras sind auf ihn gerichtet. Er entschuldigt sich kurz, bückt sich nach einem Glas Wasser. "Ich muss die Stimme noch schonen für die erste Regierungserklärung", sagt er.
"Der wahre Ministerpräsident!", brüllt ein Mann mit nacktem Oberkörper in Latzhose in der Menge. Das Publikum johlt, klatscht rhythmisch, ruft: "Höcke, Höcke, Höcke!" Der Thüringer AfD-Chef grinst. Geschmeichelt sieht er aus – und äußerst zufrieden.
Kein Wunder. Die Menge in Erfurt skandiert das Ziel, das der Rechtsextremist in diesem Wahlkampf in ganz Thüringen verbreitet: Regierungsmacht soll die AfD nach der Landtagswahl am 1. September sein und er selbst Ministerpräsident. Nichts weniger.
Es ist die große Hoffnung, die Höcke unter seinen Wählern nährt, die er mit seinen Wahlplakaten groß tapeziert. Und es ist der größte Trug der AfD, den nicht nur Höcke in Thüringen, sondern auch seine Kollegen in Brandenburg und Sachsen pflegen. Auch dort wird im September gewählt.
Ministerpräsident? Zu "80 Prozent"
Zwar ist Höckes AfD in Umfragen stärkste Kraft im kleinen Thüringen, von der absoluten Mehrheit aber ist sie mit derzeit 30 Prozent in den Umfragen noch ein weites Stück entfernt. Und niemand will mit ihr koalieren. Dass die AfD regieren wird, ist damit Stand jetzt völlig unrealistisch.
Unter der Hand räumen das AfD-Funktionäre aus dem Osten auch ein: Mit viel Glück sei die Sperrminorität von 33 Prozent zu schaffen, mit der sich wichtige Gesetzesvorhaben blockieren lassen, heißt es da. Regieren aber sei bei dieser Wahl noch ausgeschlossen. Noch.
Manch Zuhörer in Erfurt aber weiß das gar nicht, anderen ist es egal. "80 Prozent", schätzt ein junger Mann mit dünnem Oberlippenbart die Chancen, dass Höcke Ministerpräsident wird.
An diesem Nachmittag, direkt vor Höckes Bühne, könnte man das glauben. Weit über 1.000 Menschen dürften gekommen sein. Kleine Kinder lassen AfD-Abschiebeflieger als Heliumballons steigen, Jugendliche sind in Deutschlandflaggen gewickelt, junge Männer mit Tattoos in Frakturschrift und ältere mit Socken in Sandalen trinken Bier. Eine Frau schiebt ihren Rollator in die erste Reihe vor die Bühne, eine jüngere filmt den gesamten Höcke-Auftritt mit ihrem Handy.
Höcke ist ein Publikumsmagnet für alle Altersklassen. Auch in der Thüringer Hauptstadt, der größten Stadt des Landes, wo die AfD es normalerweise schwerer hat als auf dem Land. Der Veranstaltungsort hilft dabei, er ist strategisch klug gewählt: Im Herzen der Plattenbausiedlung Rieth im Norden Erfurts, die nach der Wende viele ihrer Bewohner verloren hat, tritt Höcke auf. Direkt vor dem großen Einkaufszentrum, der Vilnius-Passage. Rewe statt Staatskanzlei. Mitten im Alltag der Menschen.
Höcke, plötzlich ganz privat
Bei den Fernsehauftritten, die Höcke als Spitzenkandidat zurzeit absolviert, wirkt er oft dünnhäutig, unsouverän, von Kritik und Konkurrenten rasch aus der Bahn geworfen. Die Bühne in Erfurt aber ist ein Heimspiel für ihn, ein Auftritt vor Fans und Gleichgesinnten. Hier zeigt er die Wahlkampfstrategie, auf die er in diesem Jahr setzt und die zum Teil auch für ihn neu ist: Radikale Forderungen und kaum verschleierter Rechtsextremismus – neuerdings gepaart mit einer großen Portion Privatheit.
"Die Kartellparteien schaffen sich grad ein neues Volk", sagt er. "Ihr sollt abgewickelt werden, es soll ein neuer Souverän entstehen, eine multikulturelle Gesellschaft." Für die "Kartellparteiextremisten" zähle das Grundgesetz nicht. "Da steht zwar was von 'deutschem Volk' als Souverän – aber das deutsche Volk soll abgeschafft werden", behauptet Höcke.
Es ist die rechtsextreme Verschwörungserzählung vom "Großen Austausch", gesteuert von Eliten, die Höcke da gleich zu Beginn seiner Rede zum Besten gibt. Einwanderung führt demnach zum Ende der weißen Bevölkerung, zum "deutschen Volkstod". Eine Erzählung, die nicht Menschen, sondern nur Hautfarben und Gene kennt, durch und durch völkisch. Ein Kampfbegriff der Neuen Rechten.
Das Publikum klatscht. "Keine Moscheen in Thüringen!", ruft ein Mann laut.
Viele seiner Wahlversprechen aber garniert Höcke, der sonst kaum über sein Leben jenseits der Politik spricht, mit Erzählungen von seiner Familie. Das Publikum erfährt so recht Banales: Dass eines seiner vier Kinder sich im Ausland gerade selbst sucht. Oder dass Höckes Frau gern einen Thermomix gekauft hätte. "Zum Glück", sagt Höcke, habe er ihr das ausreden können. Die Firma Vorwerk habe schließlich politisch gegen die AfD Stellung bezogen.
Ausführlich erzählt Höcke, dass die Schule für seinen älteren Sohn eine Qual gewesen sei. Lesen und Rechnen seien nicht seine Stärke, die Arbeit mit den Händen liege ihm mehr. Das deutsche Schulsystem nehme darauf keine Rücksicht, produziere viel zu viele Abiturienten. Der Sohnemann aber habe nun sein Glück gefunden und eine Lehre gestartet als – Höcke legt hier eine Kunstpause ein – "Dachdecker".
Bei seinen Zuhörern kommt das gut an. Sie klatschen laut, rufen "Jawoll".
Die Doppel-Inszenierung
David Begrich – Sozialwissenschaftler und Experte für Rechtsextremismus – sieht diesen Zweiklang in Höckes Wahlkampf in diesem Jahr als zentral an. Auf der einen Seite inszeniere sich Höcke wie üblich als "Denker mit grundsätzlich staatspolitischer Verantwortung, mit einer großen Vision für Deutschland", sagt Begrich t-online. "Als einer, der jenen Halt gibt, denen die Welt aus den Fugen erscheint." Viel Pathos und Paternalistisches, inszenierte Volksnähe und Führerschaft schwinge da mit. Für Höckes Selbstbild sei der Anspruch zu regieren deswegen "unglaublich wichtig".
Auf der anderen Seite sei in diesem Wahlkampf die Botschaft zentral: "Ich bin einer von euch." Höcke polarisiere nicht mehr nur mit harten rechtsextremen Aussagen, sondern stelle sich erstmals als nahbarer Familienvater dar.
Diese neue Nahbarkeit pflegt Höcke nicht nur auf der Bühne in Erfurt, sondern auch in seinen Wahlkampf-Clips und Fotos: Er lässt sich beim Wandern in kurzen Hosen im Wald ablichten oder fährt mit offenem Hemd und zerzaustem Haar ein Ostalgie-Moped der Marke Simson – dabei ist Höcke Westdeutscher. Insgesamt lächelt er häufig auf seinen Plakaten und Fotos, verzichtet auf die ihm sonst übliche Strenge und Ernsthaftigkeit.
"Ein Zeichen dafür, wie sehr der Rechtsextremismus schon normalisiert wurde und weiter in die Mitte der Gesellschaft drängt", sagt Experte Begrich.
"Höcke muss liefern"
Doch scheitert seine Wahlkampfstrategie, könnte das für Höcke der Anfang vom Ende sein. Denn in der AfD haben viele genug von dem bisher so mächtigen Strippenzieher. Das war auch früher schon so – niemand aber hätte es gewagt, sich gegen ihn zu stellen.
Das hat sich geändert: In seinem Landesverband steht Höcke gerade unter Druck. Parteikollegen revoltieren offen gegen ihn. Sie kritisieren ihn als Egozentriker, der seinen Verband undemokratisch führt.
Und auch Funktionäre in der Bundespartei würden Höcke gern fallen sehen. Zumindest einen Dämpfer gönnen sie ihm, bis hinauf in die Parteispitze. Jahrelang hat Höcke der Partei schließlich aus der zweiten Reihe diktiert, wie es laufen soll – und ist doch selbst nie ins Risiko gegangen, hat Ämter auf der Bundesebene immer gescheut. Genug haben viele vom "Feigling" und vom "Oberlehrer", noch dazu gibt es jüngere Strippenzieher, die ihn zunehmend ablösen.
Deswegen ist diese Wahl für Höcke, sehr viel stärker als für seine Kollegen in Sachsen und Brandenburg, Bewährungsprobe und Schicksalswahl. Und sein großes Versprechen zu regieren zugleich ein großes Risiko.
"Höcke muss liefern", sagt David Begrich. "Er flüstert seinen Anhängern seit Jahren zu: Unsere Stunde kommt, aber sie ist noch nicht da. Diese Erzählung kann er nicht ewig ausdehnen." Wenigstens 30 Prozent müsse Höcke schaffen, sonst werde es für ihn parteiintern gefährlich, schätzt Begrich, und neue Netzwerke Machtansprüche erheben. Höckes Wähler hingegen hätten Geduld, die würden auch noch fünf Jahre warten.
In Erfurt stimmt das. Eine 44-Jährige, die Höcke mit ihrer Tochter lauscht, wirkt zwar erstaunt, als sie erfährt, dass Höcke gar keine Chancen hat, zu regieren. Doch sie überlegt nur kurz, nickt dann. "Dann eben beim nächsten Mal."
Die größte Gefahr – sie droht Höcke aus der eigenen Partei.
- Eigene Beobachtungen und Recherchen vor Ort
- Gespräch mit David Begrich