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Joachim Gauck zu deutscher Migrationspolitik: "Ein Kontrollverlust"


Einwanderung
Gaucks deutliche Warnung

Von t-online, cc

Aktualisiert am 18.09.2023Lesedauer: 3 Min.
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck bei einer Gedenkveranstaltung im sächsischen Chemnitz (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Bundespräsident a. D. Joachim Gauck (Archivbild): "Die Politik muss neue Wege wagen." (Quelle: IMAGO/haertelpress)
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Joachim Gauck fordert ein Umdenken in der Migrationsdebatte. Der ehemalige Bundespräsident stellt der Politik kein gutes Zeugnis aus.

Ist die Politik in Sachen Zuwanderung an ihre Belastungsgrenzen gestoßen? Diese Frage sollte der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck am Sonntag im ZDF-Interview beantworten. Gauck sagte bei "Berlin direkt": "Sie [die Politik] muss vielleicht neue Möglichkeiten wagen, auch entdecken, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausgereicht haben, um den Kontrollverlust, der offensichtlich eingetreten ist, zu beheben."

Der 83-jährige Theologe und frühere DDR-Oppositionelle machte deutlich, dass die Sorgen der Bevölkerung von der Politik stärker wahrgenommen werden müssten. Zugleich stellte er den politisch Handelnden, nicht nur in Deutschland, kein gutes Zeugnis hinsichtlich der Asyl- und Einwanderungspolitik aus.

"Wir brauchen eine Entschlossenheit, die den Bevölkerungen in Europa den Eindruck vermittelt, die Regierungen sind handlungsfähig", sagte Gauck. "Und dazu bedarf es offenkundig auch der Debatte neuer Wege und nicht nur das Drehen an Stellschrauben, wie es die EU jetzt gerade versucht, wo das schon Vorhandene, nicht Funktionierende noch mal erneut versucht wird."

Dänemark als Vorbild?

Gauck übte nicht nur harsche Kritik an der Politik in Europa, er sprach indirekt auch das Erstarken rechtspopulistischer Parteien an, deren Einzug in die Parlamente in vielen westlichen Staaten, gerade auch in Deutschland, zum Teil auf einer als unzureichend empfundenen Migrationspolitik beruhe. Dem müsse konsequenteres und mutigeres Handeln entgegengesetzt werden, so Gauck. Allerdings scheitere dies am Unwillen der demokratischen Parteien, in der Frage der Zuwanderung auch unbequeme Maßnahmen zu ergreifen.

"Oftmals ist es Furcht vor einer brutal klingenden Politik der Abschottung oder Eingrenzung", sagte der einstige Bundespräsident. Es komme dann schnell der Vorwurf von der "Festung Europa" auf, insbesondere aus dem eher linken politischen Spektrum. Gauck macht sich in dem Interview gleich mehrfach zum Fürsprecher der Bevölkerung, die sich von der Politik alleingelassen fühle. Er sandte eine deutliche Warnung an die demokratischen Parteien: "Wenn die Bevölkerung den Eindruck hat, die Regierenden verstehen nicht, dass wir das Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Sicherheit haben, dann wird es zu einem weiteren Rechtsruck kommen."

Zwar hätten alle demokratischen Kräfte die besten Absichten, dennoch müsse man bald zu einer Begrenzung der Zuwanderung kommen. Gauck nannte in dieser Hinsicht das Beispiel Dänemark als Vorbild. Dort war es der sozialdemokratischen Regierung mit einer harten und von vielen noch immer skeptisch beäugten Politik gelungen, die Zuwanderung einzudämmen und zugleich rechtspopulistische Parteien bei Wahlen unter drei Prozent zu halten. Lesen Sie hier mehr zu Dänemarks strikter Asylpolitik.

Eine solche Abkehr von einer liberalen Einwanderungspolitik scheuen andere sozialdemokratische Parteien in Europa jedoch. Überdies kritisieren zahlreiche Experten, dass die restriktive Einwanderungspolitik der dänischen Regierung in Teilen gegen internationales Recht und internationale Abkommen verstoße. Dennoch forderte Gauck im ZDF, die Politik müsse "Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen". Er forderte progressive und rechte Milieus dazu auf, von ihren "Wunschvorstellungen" abzurücken und gemeinsamen Gestaltungsspielraum auszuloten.

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Ob man denn auch "bisher Undenkbares denken" müsse, fragte ZDF-Moderator Theo Koll daraufhin. "Ja, ich sehe es so", antwortete Gauck auch mit Blick auf die Verantwortlichen in den Städten und Gemeinden. "Wir sind an den Grenzen unserer Leistungsfähigkeit angekommen."

Gauck zog mehrfach Parallelen zur Situation 2015. Damals war der Migrationsdruck so groß geworden, dass die Bundesregierung unter der damaligen CDU-Kanzlerin Angela Merkel die Grenzen öffnete, um etwa Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan in hoher Zahl die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Ähnliche Stimmen waren in den vergangenen Monaten immer wieder von kommunalen Politikvertretern zu hören gewesen. Angesichts der prekären Lage müsse die Politik dringend mit den Bürgern sprechen und den Menschen zeigen, dass sie an Lösungen arbeite und gewillt sei, auch ungewöhnliche Wege zu gehen.

Was er damit meinen könnte, erhellte er kurze Zeit später in dem Interview. Da stellte Gauck sogar das individuelle Recht auf Asyl infrage, wenngleich er sich dabei auf andere bezog. Auf wen genau, sagte er nicht. Unter anderem hatte CDU-Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei vor Kurzem die Abschaffung dieses Grundrechts gefordert, weil er es für "zutiefst inhuman" halte. Sein Vorstoß war auf breite Ablehnung und Kritik gestoßen.

Gauck fuhr fort: "Wir müssen zwei Dinge zusammenbringen: Wir brauchen Zuwanderung, aber wir brauchen keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme, ohne dass die Fachkräfte, die wir brauchen, vorhanden sind." Ansonsten bestehe die Gefahr, dass die "wunderbare Solidarität" der Bevölkerung schwinde.

Verwendete Quellen
  • ZDF: Interview mit Joachim Gauck in "Berlin direkt", 17. September 2023
  • fes.de: "Restriktiv & Kontrovers: Neue sozialdemokratische Migrationspolitik in Dänemark"
  • aargauerzeitung.de: "Linke zeigen auf Ausländer: Wie Sozialdemokraten in Skandinavien Rechtspopulisten rechts überholen" (kostenpflichtig)
  • bild.de: "Von 21 auf 2 Prozent. So schrumpfte die Dänen-SPD die Dänen-AfD"
  • tagesschau.de: "Warum Asylrecht ein individuelles Recht ist"
  • bmi.bund.de: "Asylverfahren in Deutschland"
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