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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kaum Asylbewerber und "Ghetto"-Gesetz Vorbild Dänemark? Das steckt hinter Gaucks Vorstoß
Der ehemalige Bundespräsident Gauck fordert einen restriktiveren Umgang mit Migranten und schlägt Dänemark als Vorbild vor. Aber welchen Kurs fährt das skandinavische Land?
Deutschland ringt derzeit um den Umgang mit der Migration. Während die Ampelkoalition Ende August einen Plan beschlossen hat, der den Weg zur Staatsbürgerschaft erleichtern soll, mehren sich gleichzeitig Rufe nach einem deutlich restriktiveren Umgang mit Migranten und Geflüchteten. Einen konkreten Vorschlag dazu lieferte nun der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck – und schlägt in dieselbe Kerbe wie zuvor Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD).
Bei "Berlin Direkt" im ZDF forderte Gauck am Sonntagabend eine Wende in der deutschen Migrations- und Asylpolitik. Er prangerte an: "Sie [die Politik] muss vielleicht neue Möglichkeiten wagen, auch entdecken, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausgereicht haben, um den Kontrollverlust, der offensichtlich eingetreten ist, zu beheben." Deutschland solle sich an Dänemarks Sozialdemokraten orientieren (lesen Sie hier Gaucks Ausführungen nach). Ähnlich hatte sich im August auch schon Gabriel im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) geäußert.
Dänemark will Asylbewerberzahl auf null reduzieren
Dänemark hatte in den vergangenen Jahren seine Migrations- und Asylpolitik immer weiter verschärft, mit der Begründung, der Sozialstaat sei sonst in Gefahr. Die Devise: Um das skandinavische Sozialsystem aufrechtzuerhalten, dürften nicht zu viele Ausländer auf einmal kommen – das würde das Integrationssystem überfordern.
2021 kündigte die sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen dann an, gar keine Asylbewerber mehr aufnehmen zu wollen. Lediglich bei den ukrainischen Geflüchteten ab 2022 machte Dänemark eine Ausnahme. Doch was genau hat Dänemark verändert? Ein Überblick:
Kaum Aufnahme von Asylbewerbern
Bei diesem Punkt kommt Dänemark natürlich seine geografische Lage zupass. Das Land ist mit Schweden lediglich über eine Brücke verbunden und teilt seine einzige Landesgrenze mit Deutschland – und die wird verschärft kontrolliert. Zudem hat sich Dänemark, anders als Deutschland, nicht bereit erklärt, freiwillig Asylbewerber aufzunehmen, um die EU-Mitglieder am Mittelmeer zu entlasten.
Darüber hinaus hat Dänemark den Familiennachzug etwa für Menschen aus Syrien erheblich eingeschränkt. Insgesamt beantragten nur knapp 4.500 Menschen im vergangenen Jahr erstmals Asyl. Das sind mehr als "Null", wie es Frederiksen noch angekündigt hatte.
Aber dem Migrationsminister Kaare Dybvad zufolge bezieht sich die "Null" auf Migranten, die über irreguläre Wege nach Dänemark einreisen. Über das Umsiedlungsprogramm der UN aber sei Dänemark bereit, Menschen aufzunehmen. Doch kommen über dieses Programm kaum Menschen nach Dänemark: 2022 wurden nur etwas mehr als 150 Menschen nach Dänemark umgesiedelt.
Das stark kritisierte "Ghetto-Gesetz"
Diese Regelung, die die konservative Regierung 2018 verabschiedete, erfuhr besonders viel Aufmerksamkeit. Betroffen davon sind Stadtteile, in denen mindestens 50 Prozent der Bewohner aus "nicht-westlichen" Ländern kommen und die zusätzlich soziale Härten aufweisen, wie hohe Arbeitslosigkeit oder ein bestimmtes Maß an Kriminalität.
Wer in einem solchen Stadtviertel lebt, muss strengere Regeln über sich ergehen lassen als Bewohner anderer Viertel. Kinder müssen etwa ab dem ersten Geburtstag in den Kindergarten, Straftaten wie Vandalismus und Diebstahl werden härter geahndet als anderswo. Gilt ein Gebiet mehr als fünf Jahre als Ghetto, ergreift die dänische Regierung weitere Maßnahmen, reißt etwa Sozialwohnungen ab und zwingt die Bewohner dazu, umzuziehen.
Auch deswegen kritisieren Menschenrechtsorganisationen das Gesetz immer wieder als inhuman. Mittlerweile wird offiziell zumindest nicht mehr von "Ghettos" gesprochen, die Sozialdemokraten bezeichnen sie nun als "Parallelgesellschaften".
Strengere Regelungen für Einbürgerungen
Auch in Bezug auf den Erwerb der Staatsbürgerschaft geht Dänemark einen anderen Weg als Deutschland. Dort ist es in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden, sich einbürgern zu lassen. Insgesamt haben laut EU-Daten rund 500.000 Menschen keinen dänischen Pass, also knapp 10 Prozent der Bevölkerung Dänemarks.
Interessierte müssen einen Sprach- sowie einen Staatsbürgerschaftstest bestehen. Die Regierung hatte den Bürgertest vor zwei Jahren ausgeweitet. Danach bestanden nur noch rund 40 Prozent den Test – zuvor waren es 66 Prozent. Zudem muss der Bewerber neun Jahre im Land gelebt haben, für Geflüchtete gilt eine Frist von acht Jahren. 2018 wurde eine weitere umstrittene Regelung eingeführt: Bei der Einbürgerungszeremonie muss der Neubürger dem Bürgermeister oder der Bürgermeisterin die Hand geben. Der Hintergrund: Einige Antragsteller wollten wegen ihrer religiösen Überzeugung eine Person des anderen Geschlechts nicht berühren.
- Einbürgerungstest: Können Sie die schwierigsten Fragen beantworten?
Die dänische Regierung will die Regeln nun weiter verschärfen: Künftig soll es nicht mehr erlaubt sein, vor der Einbürgerungszeremonie im Ausland zu leben – auch wenn der Antragsteller bereits die Staatsbürgerschaft erhalten hat.
Leistungskürzungen für Asylbewerber
Das war eine der ersten Verschärfungen, die die liberalkonservative Regierung 2015 umsetzte. Die Sozialleistungen für Asylbewerber wurden fast um die Hälfte gekürzt. Bekam eine alleinstehende Person ohne Kinder zuvor rund 1.455 Euro, waren es nach der Reform noch knapp 800 Euro. Wer mehr als rund 1.300 Euro (10.000 dänische Kronen) besitzt, muss darüber hinausgehendes Geld und Schmuck abgeben.
Suche nach Übersee-Lösungen
Dänemark strebt eine Lösung an, nach der Asylanträge künftig außerhalb Europas in Aufnahmezentren gestellt werden. Daran will die Regierung gemeinsam mit der EU oder einer Reihe anderer Mitgliedsstaaten arbeiten. Pläne für ein dänisches Aufnahmezentrum in Ruanda hat die Regierung allerdings vorerst auf Eis gelegt – Ministerpräsidentin Frederiksen hatte vor der Wahl 2022 intensiv daran gearbeitet und es galt als eines ihrer Prestigeprojekte.
Eine Mehrheit im dänischen Parlament hatte im Juni 2021 ein Gesetz verabschiedet, das dänische Asylzentren in anderen Ländern möglich macht. Ein Schritt, den die EU-Kommission damals scharf kritisierte. Dänemark riskiere damit, "die Grundlagen des internationalen Schutzsystems für die Flüchtlinge der Welt zu untergraben". Seit der Wahl allerdings regieren die Sozialdemokraten gemeinsam in einer Koalition, in der Regierungsgrundlage blieb das Ruanda-Projekt unerwähnt.
"Der Schlüssel zu ihrem Erfolg"
Der Umschwung in Dänemark, das früher ein sehr liberales Einwanderungsrecht hatte, kam vor allem in den 2010er-Jahren, in denen die rechtspopulistische Dänische Volkspartei erstarkte. 2015 verloren die Sozialdemokraten die Wahl gegen die liberalkonservative Venstre-Partei – und begannen, ihren Kurs ebenfalls radikal zu ändern. Seit 2019 regieren nun wieder die Sozialdemokraten.
Der Politikwissenschaftler Rune Stubager von der Universität Aarhus sagte nach den Wahlen: "Der Schlüssel zu ihrem Erfolg ist die strengere Haltung zur Einwanderung." Die Partei sei bei der Einwanderung nach rechts gerutscht, bei der Wirtschaft etwas nach links. "Das hat sie [Anm. d. Red., die Parteivorsitzende Mette Frederiksen] exakt dort platziert, wo ihre traditionellen Kernwähler, die Arbeiterklasse, stehen." Seine Einschätzung: Zwar haben die Sozialdemokraten damit Wähler von links verloren, aber es auch geschafft, Wähler von der Dänischen Volkspartei zurückzugewinnen.
Deutschland verfolgt eine andere Politik
Ob das auch ein Weg für die deutschen Sozialdemokraten ist, wie es Gauck und Gabriel vorsehen? Der derzeitige Kurs ist jedenfalls ein anderer. In der EU trägt die Bundesregierung etwa deutliche Verschärfungen des Asylrechts an den EU-Außengrenzen mit – gegen innere Widerstände bei Grünen und Teilen der SPD.
Im Inneren setzt die Ampel in der Migrationspolitik eher Lockerungen durch – wie mit der im Bundeskabinett gebilligten Reform des Staatsbürgerrechts. Die Bundesregierung verkürzt etwa deutlich die Fristen, ab wann ein Ausländer die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen kann (lesen Sie hier mehr zu den Beschlüssen).
Innenministerin Nancy Faeser hatte sich schon im August gegen die Aussagen Gabriels gewehrt. Er hatte sich in dem damaligen RND-Interview unter anderem gegen das Individualrecht auf Asyl ausgesprochen – dass also jeder Asylantrag hinsichtlich der Frage einzeln geprüft wird, ob der Antragsteller politisch verfolgt wird. Das würde dem modernen Phänomen der Massenflucht nicht gerecht, sagte Gabriel.
"Das individuelle Asylrecht populistisch infrage zu stellen, löst keines der aktuellen Probleme und verhindert keine der Fluchtbewegungen, die wir auf der Welt erleben", sagte Faeser dem "Spiegel". Dass politisch Verfolgte nach dem Grundgesetz Asyl genießen, sei eine Lehre aus dem Terror des Nationalsozialismus. "In der NS-Zeit haben verfolgte Deutsche in anderen Staaten Schutz erhalten. Genauso sind wir dem internationalen Recht verpflichtet, der Europäischen Menschenrechtskonvention ebenso wie der Genfer Flüchtlingskonvention."
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- rnd.de: "Warum Sigmar Gabriel eine Asylwende wie in Dänemark will"
- de.statista.com: "Europäische Union: Anzahl der erstmaligen Asylbewerber in den Mitgliedstaaten im Jahr 2022"
- ec.europa.eu: "Denmark: European Court of Human Rights says three-year rule violates refugees’ right to family life" (englisch)
- dst.dk: "Immigrants and their descendants" (englisch)
- rsq.unhcr.org: "Resettlement Data Finder" (englisch)