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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Fehlende Medikamente "Lauterbachs Untätigkeit war grob fahrlässig"
Wichtige Medikamente sind mancherorts Mangelware. Die Opposition sieht die Bundesregierung in der Pflicht.
Die Lage ist ernst: Viele Medikamente sind in Deutschland wegen Lieferengpässen derzeit nicht oder nur schwer verfügbar. Apotheker berichten von weinenden Kunden in ihren Läden. Der Verband der Kinder- und Jugendärzte ist alarmiert – und fordert eine "von der Politik angeschobene Beschaffungsaktion" wie zu Beginn der Corona-Pandemie. Nur dieses Mal, um Antibiotika, Fiebersaft und seltene Medikamente für Kleinkinder zu besorgen.
Auch die Opposition sieht dringenden Handlungsbedarf. Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge (CDU), fordert unter anderem einen Bund-Länder-Gipfel zum Erwerb von Kindermedikamenten. "Noch vor Jahresende muss es einen Beschaffungsgipfel von Bund und Ländern geben, in dem Sofortmaßnahmen für diesen Winter koordiniert werden", sagte Sorge t-online.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) müsse sich "schnellstens" mit den Bundesländern, Herstellern sowie Großhändlern abstimmen und sich auch bei Nachbarländern um übergangsweise Lieferungen bemühen, fordert Sorge. So rasch wie möglich müsse auch ein Planungs- und Beschaffungsstab eingerichtet werden.
Die Not sei inzwischen so groß, so Sorge, dass Eltern im Ausland nach Medikamenten suchten. Dem Gesundheitsminister sei das längst bekannt, er habe aber nichts unternommen. "Lauterbachs Untätigkeit vor der Wintersaison war grob fahrlässig."
Aus Sicht von Sorge ist klar: "Eine staatliche Beschaffungsoffensive speziell für Kinderarzneimittel ist dringend notwendig." Dabei solle man sich an den Erfahrungen aus den ersten Corona-Monaten orientieren. "Wichtige Kinderarzneimittel müssen jetzt zentral vom Bundesgesundheitsministerium gekauft, gelagert und verteilt werden." Im Zentrum der Bemühungen müssten Fiebersenker, Antibiotika und Hustenmittel stehen.
Linken-Politikerin fordert steuerfinanzierten Zuschlag
Die gesundheitspolitische Sprecherin der Linken, Kathrin Vogler, ist ebenfalls alarmiert, will aber anders Abhilfe schaffen. "Das Problem ist nach Angaben der Apotheken so groß wie noch nie", sagte Vogler t-online. "Und es betrifft sehr viele Medikamente, die gerade dringend benötigt werden, etwa Ibuprofensäfte oder Antibiotika." Das Problem sei nicht neu, werde aber aktuell durch gestörte globale Lieferketten verschärft.
Ein Problem sieht Vogler im Preismechanismus. Speziell die Hersteller von Kinderarzneimitteln und Antibiotika beklagten, dass die Festbeträge, welche die gesetzlichen Kassen erstatten, nicht kostendeckend seien. "Deswegen wäre speziell bei solchen Arzneimitteln, die auch in anderen EU-Ländern noch erhältlich sind, ein steuerfinanzierter Zuschlag ein Instrument, das Linderung schaffen könnte", schlägt die Linken-Politikerin vor. Perspektivisch brauche es eine ganz andere Systematik der Arzneimittelpreisbildung.
Der Präsident des Verbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, kritisierte die Festpreisregelung ebenfalls. Sie habe zum Abwandern der Produktion in Billiglohnländer wie Indien und China geführt, wo es nun Lieferkettenprobleme gebe, die zu Engpässen führten.
Grüne: "Jedes zweite Rezept betroffen"
Der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Janosch Dahmen, warnt vor den dramatischen Folgen der Engpässe. "Zurzeit ist fast jedes zweite Rezept, was zur Behandlung von Atemwegserkrankungen in Apotheken eingelöst werden soll, von Lieferengpässen betroffen", sagte Dahmen t-online. Das verschärfe die ohnehin schwierige Versorgungssituation von Kindern und sei "ausgesprochen besorgniserregend". "Vereinzelt wird bereits berichtet, dass eine Krankenhausbehandlung nur allein aufgrund von der fehlenden Verfügbarkeit einfacher Arzneimittel in den Apotheken erforderlich geworden sei", so Dahmen weiter.
Es räche sich nun, dass "mancher" die absehbaren, großen Wellen von Atemwegserkrankungen bei der Anwendung einfacher Schutzmaßnahmen, wie beispielsweise dem Tragen von Masken, auf die leichte Schulter genommen habe. Es brauche nun ein "polypragmatisches Krisenmanagement", das Lieferketten, Verteilung und lokale Zubereitung in Apotheken in den Blick nehme, fordert Dahmen.
SPD: Lehren aus Corona-Zentralbeschaffung prüfen
Die gesundheitspolitische Sprecherin der Kanzlerpartei SPD, Heike Baehrens, zeigte sich ebenfalls besorgt – und offen für eine stärkere Rolle des Staates. Baehrens betonte, dass das Gesundheitsministerium Lösungen erarbeite, und forderte, dass dabei "auch die Lehren aus der zentralen Beschaffung während der Pandemie geprüft werden" sollten.
Das Problem gerade bei der Versorgung mit Paracetamol- und Ibuprofen-haltigen Fiebersäften für Kinder sei "jetzt im Fokus", sagte Baehrens t-online. Es werde "auf unterschiedlichen Ebenen mit Nachdruck an Lösungen gearbeitet".
So habe der Beirat für Versorgungsengpässe beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte schon dringende Empfehlungen abgegeben. Er habe etwa darauf gedrängt, dass Apotheken und Großhändler mit diesen Mitteln keine Vorräte anlegten – ein Reflex, der in Zeiten der Knappheit entstehen könne. Auch Baehrens sprach sich dafür aus, wieder mehr Medikamente in Deutschland und der EU zu produzieren.
FDP: Ministerium muss Überblick liefern
Der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Andrew Ullmann, sieht als Grund für die derzeitige Medikamentenknappheit vor allem "monopolistische Versorgungsstrukturen" und ein Versäumnis der Vorgängerregierung. "Die große Koalition hat hier, ähnlich wie bei der Energieversorgung, einseitige Abhängigkeiten geschaffen", sagte er zu t-online. Um diese Strukturen zu brechen, sei es nun wichtig, die Lieferketten zu diversifizieren. Dabei sei "jegliche vertretbare Flexibilität angebracht".
Dringend fordert Ullmann eine Bestandsaufnahme aus dem Ministerium: "Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM) und das Bundesgesundheitsministerium müssen ohne Frage jetzt an einem Gesamtüberblick arbeiten." Erst dann könne man sehen, ob weitere beziehungsweise welche Maßnahmen seitens des Bundes notwendig seien.
Nicht nur bei Medikamenten für Kinder, sondern auch manchen Medikamenten für Erwachsene hatte es zuletzt Lieferengpässe gegeben. Die Bundesregierung will als Reaktion auch das Vergaberecht ändern. Ziel ist laut Gesundheitsministerium, Lieferketten breiter anzulegen, damit die Abhängigkeit von einzelnen Herstellern abnimmt.
- Eigene Recherchen
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa