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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Silvana Koch-Mehrin "Ich war eine Vorführfrau"
Sexismus sei gerade in der Politik ganz normal, sagt Silvana Koch-Mehrin. Ein Gespräch über ihre Erfahrungen und die schlechte Frauenquote der FDP.
In den Nullerjahren war sie das junge, weibliche Aushängeschild für die FDP und führte die Partei zurück ins EU-Parlament. Dann folgten Plagiatsvorwürfe, Silvana Koch-Mehrin zog sich aus der Politik zurück. Nun meldet sie sich zurück in der Öffentlichkeit – mit einem Buch über ihre Ängste.
Die Veröffentlichung hat für Aufregung im politischen Berlin gesorgt. Denn Koch-Mehrin legt einen Fokus auf Sexismus und Gewalt und schildert auch Szenen aus ihrer Zeit als Politikerin: Wie Chefs und Kollegen tatschen, Sprüche reißen, Herabsetzung allgegenwärtig ist.
Ganz normal in der Politik, sagt Koch-Mehrin. Ein Gespräch über Machtmissbrauch, "Me too" und ihre drei Töchter.
Frau Koch-Mehrin, Sie schildern im Buch über Ihr Leben sexuelle Belästigung und Sexismus, auch aus Ihrer Zeit als Politikerin. Warum gehen Sie damit jetzt an die Öffentlichkeit?
Silvana Koch-Mehrin: Mir geht es darum, uns zu ermutigen, offen mit Angst umzugehen. Als bei mir Krebs diagnostiziert wurde, habe ich einen anderen Blick auf mein Leben bekommen. Ein großer Antrieb waren auch meine Töchter: Sie sind im Teenageralter und sehr radikal, was die Position von Frauen in der Gesellschaft angeht. Sie haben meinen Co-Autor Uli Hauser und mich dazu gebracht aufzuschreiben, was mir widerfahren ist.
Sie wurden also sensibilisiert von der jüngeren Generation?
Ich finde es großartig, wie klar meine Töchter sagen: "Das ist nicht okay, das ist Vergewaltigungskultur", also "rape culture". Das war ein Begriff, den ich so nicht kannte. Zuerst dachte ich: "Das hat ja nichts mit Vergewaltigung zu tun!" Aber sie haben recht: Das alles gehört zusammen.
Was meinen Sie genau?
Verletzt zu werden durch Taten, aber auch herabgewürdigt durch Blicke und Witze – das ist eine Dauerangst, unter der jede Frau leidet. Man muss sich als Frau ständig gedanklich damit auseinandersetzen, Opfer zu werden. Zum Opfer von Grenzüberschreitungen, im schlimmsten Fall zum Opfer von Vergewaltigung.
Was waren beim Schreiben des Buchs die Momente aus Ihrem Leben, die Ihnen sofort in den Kopf geschossen sind?
Ich war neun Jahre alt und der Vater eines Nachbarkinds hat mir beim Spielen unter das T-Shirt gefasst. "Lass mal schauen, was bei dir los ist", hat er gesagt. Die Angst, die Ohnmacht, auch die Überraschung, mich plötzlich verteidigen zu müssen, wo ich es gar nicht erwartet hatte – das ist eine meiner frühen, prägenden Erinnerungen. Nicht nur im Job gab es später immer wieder solche Momente. Jede Frau kennt das.
Zur Person
Silvana Koch-Mehrin, 51 Jahre alt, saß von 2004 bis 2014 für die FDP im Europäischen Parlament. In dieser Zeit holte die Partei bei EU-Wahlen Spitzenwerte. Nach Plagiatsvorwürfen gegen ihre Promotion zog sie sich 2011 von allen wichtigen Ämtern zurück und trat 2014 nicht mehr zur Wahl an. Sie ist Gründerin und Vorsitzende der Stiftung Women Political Leaders. 2019 wurde bei ihr Brustkrebst diagnostiziert. Daraufhin schrieb sie mit Autor Uli Hauser das Buch "Jetzt, wo ich schon mal nicht tot bin".
Auch die Szenen, die Sie aus Ihrer politischen Zeit schildern, sind krass: Sie erzählen, wie Ihnen als Praktikantin ein Chef unter die Bluse fasst, wie Kollegen Sie ungewollt berühren oder immer wieder erniedrigende Sprüche machen.
Anzüglichkeiten und blöde Bemerkungen, auf das Äußere reduziert werden – das war Standard. Für mein Buch habe ich noch einmal mit meinen ehemaligen Mitarbeitern geredet. Denen fielen Szenen ein, die ich gar nicht mehr auf dem Schirm hatte. Sexismus und Grenzüberschreitungen waren einfach normal. So normal, dass ich sie mitgetragen und dann verdrängt habe.
Braucht es eine eigene "Me too"-Bewegung in der Politik?
"Me too" in der Politik ist überfällig. Denn da geht es um Macht in ihrer reinsten Form. Und selbstverständlich gibt es auch Missbrauch. Es gibt manche Männer, die ihn kultivieren. Und Betroffene fühlen sich ziemlich allein.
Haben bestimmte Parteien ein größeres Problem als andere?
Das kann ich nicht beantworten, dafür blicke ich nicht tief genug in die Parteien. Aber es fängt an zu brodeln, und das weltweit – endlich! Immer mehr Frauen gehen an die Öffentlichkeit und zwingen Parteien und Parlamente so zu Reformen, von Australien bis Frankreich.
Welche Reaktionen aus dem politischen Berlin haben Sie auf Ihre Veröffentlichung erhalten?
Die FDP hat sich bei mir gemeldet. Das fand ich sehr erfreulich. Sie haben betont, dass sie meine Schilderungen zum Anlass nehmen wollen, ihre internen Reformbemühungen noch einmal zu verstärken. Auch Frauen aus einem SPD-Landesverband haben mich kontaktiert. Sie wollen nun Gesprächskreise für Frauen ausrichten.
Sie beschreiben Guido Westerwelle, den ehemaligen und 2016 verstorbenen FDP-Chef, als einen Förderer, einen Verbündeten. Nun heißt der Parteichef Christian Lindner. Nehmen Sie ihn auch als Förderer der Frauen wahr?
Ich habe mich 2011 aus der Parteipolitik zurückgezogen. Ich habe gelesen, dass die FDP seit 2019 einen Leitfaden zum "Respektvollen Umgang miteinander" hat und wohl auch andere Reformen einleitet. Das kann ich alles nur begrüßen.
Vielen ist noch diese Szene in Erinnerung: Lindner verabschiedet FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg 2020 auf offener Bühne mit einem sexuell aufgeladenen "Altherrenwitz" aus dem Amt, der suggeriert, dass die beiden oft miteinander geschlafen haben. Was haben Sie da gedacht?
Lindner hat sich später entschuldigt. Die öffentliche Empörung, die auf die Szene folgte, ist ein Riesenfortschritt. Aber das Problem an einzelnen Personen festzumachen, greift zu kurz.
Lindner ist allerdings der mächtigste Mann in der FDP und reduziert auf einer Bühne eine der wenigen führenden Frauen auf ihr Geschlecht. Für einen Schenkelklopfer. Das sagt doch einiges?
Westerwelle hat damals, das war 2004, immer gesagt: Er freue sich, dass für die FDP im Europäischen Parlament eine intelligente Frau und sechs gutaussehende Männer sitzen.
2013 gab es einen "Me too"-Moment in der deutschen Politik. Auslöser war der Bericht einer Stern-Reporterin, die beschrieb, dass der damalige FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle mit Blick auf ihr Dekolleté gesagt habe: Damit können Sie auch ein Dirndl ausfüllen.
Sexismus war und ist kein exklusives Problem der FDP. Und in der FDP gab und gibt es viele respektvolle und professionelle Kollegen, denen solch ein Verhalten zuwider ist. Es war richtig und mutig, dass die Journalistin öffentlich gemacht hat, was in der Berliner Politik jeder wusste, aber nicht aussprach. Der dann folgende Aufschrei, gerade auch in den sozialen Netzwerken, zeigte schon vier Jahre vor "Me too" die Dimension und Tiefe des Problems, das weit über die Politik hinausgeht.
Die Frauenquote der FDP ist schlecht. Nur die CSU und die AfD haben weniger Frauen in ihren Reihen. Was schreckt Frauen von dieser Partei so ab?
Es ist inzwischen hinreichend erforscht, dass es eine kritische Anzahl geben muss – man spricht von mindestens 30 Prozent –, damit Frauen in der Politik kein abschreckendes Einzelkämpferinnen-Dasein fristen. Um diese 30 Prozent zu erreichen, braucht es dezidierten Willen und konkrete Maßnahmen. Mit einigen wenigen "Vorführfrauen" ist es nicht getan.
Würden Sie sagen, dass Sie eine solche "Vorführfrau" waren?
Bei der ersten Wahl ins Europäische Parlament würde ich sagen: Definitiv ja, da war ich eine "Vorführfrau". Ich war das Aushängeschild für die Kampagne, die sehr erfolgreich war. Danach aber wollten die Männer die wichtigen Posten zuerst unter sich aufteilen. Ich musste kämpfen, um überhaupt beteiligt zu werden.
Oft kommt als Gegenargument aus den Parteien: Wir haben gar nicht genug Frauen in der Partei, um Qualifizierte für die hohen Posten zu finden.
Der kanadische Regierungschef Trudeau hatte dieses Problem auch. Er hat trotzdem versprochen, 50 Prozent der Posten im Kabinett mit Frauen zu besetzen. Dann haben seine Leute außerhalb der Parteipolitik Expertinnen angesprochen und für die Stellen gewonnen. Wer wirklich will, der schafft das.
Empfehlen Sie der FDP eine Frauenquote?
Ich bin schon lange raus aus der Parteiarbeit. Es ist nicht mein Job, Empfehlungen auszusprechen. Aber es ist ganz eindeutig, wissenschaftlich belegt: Quoten helfen. Das habe ich auch schon gesagt, als ich noch in der Partei war. Wollte aber keiner.
Sie schildern auch, wie schwer Ihr Job mit der Familie vereinbar war, wie Sie mehrere Geburtstage Ihrer Töchter verpasst haben. Gibt es andere Momente, die Sie bereuen?
Derzeit bedeutet Politik als Beruf, dass es quasi keine Wochenenden gibt. Da verpasst man viel Familienleben.
Wie lässt sich das ändern?
Manche Länder machen es bereits vor: Kalkulierbare Sitzungszeiten und konsequente familienkompatible Planung sind wichtig.
Die Forderung gibt es seit Jahren. Geändert hat sich wenig.
Regierungen müssen neue Schritte wagen. Island hat viele Frauen in Führungspositionen gebracht, indem es Väter ebenso wie Mütter verpflichtet, nach der Geburt drei Monate Auszeit zu machen. Es gibt dort nicht mehr den Ausweg: Schatz, du nimmst auch noch meine drei Monate! Arbeitgeber behandeln deshalb alle gleich. Niemand fragt einen Mann, wie er Karriere und Kinder unter einen Hut bringt.
Gibt es eine deutsche Politikerin, die Sie für Ihre Gleichstellungspolitik bewundern?
Ursula von der Leyen. Sie zeigt seit Jahren sehr gut, wie man Verbesserungen für Frauen schaffen kann, wenn man an der Macht ist. Sie hat die EU-Kommission zu 50 Prozent mit Frauen besetzt, hat Schlüsselpositionen an Frauen gegeben.
Wie blicken Sie auf Außenministerin Annalena Baerbock, die ganz gezielt eine feministische Außenpolitik machen will?
Annalena Baerbock macht einen hervorragenden Job. Inhaltlich und formal. Ich fand schon die Kritik, die sie im Anschluss an die Bundestagswahl bekommen hat, ausgesprochen unfair. Es hieß: Sie hat die Wahl vermasselt. Dabei hat sie das beste Ergebnis für die Grünen jemals geholt.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Koch-Mehrin!
- Gespräch mit Silvana Koch-Mehrin