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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Exklusive Auszüge aus Pandemie-Buch "Jens, wir haben ein Problem"
Er stand im Zentrum der Corona-Krise. Nun hat Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn seine Sicht auf die Pandemie aufgeschrieben. t-online veröffentlicht exklusiv zentrale Auszüge.
Kaum ein Politiker steht so sehr für die deutsche Corona-Politik wie Jens Spahn. Als Bundesgesundheitsminister wurde der CDU-Politiker zum zentralen Krisenmanager – und musste auch viel Kritik einstecken. Nun hat er ein Buch geschrieben: "Wir werden einander viel verzeihen müssen." Es ist ein Zitat von Spahn, das inzwischen symbolhaft für die Krise steht. Spahn schildert in seinem Buch, wie die Pandemie das Land veränderte, die Politik mitunter überforderte und ihn zu einem der am meisten verhassten Politiker machte.
t-online dokumentiert wichtige Stellen des Buches in Auszügen – vom Beginn der Krise über die quälend langen Ministerpräsidentenkonferenzen, von Spahns persönlichem Tiefpunkt bis zu seinen Lehren aus der Krise.
Über den Moment, als die Pandemie außer Kontrolle geriet
"Am Vormittag dieses Karnevalsdienstags, am 25. Februar 2020, saßen der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, und ich in der Berliner Bundespressekonferenz und verkündeten zur Überraschung vieler, dass wir gemeinsam als Team auf dem im April geplanten Parteitag antreten würden: Armin für den Vorsitz der Partei, ich als einer seiner Stellvertreter. (...)
Gleich nach der Pressekonferenz fuhr ich zum militärischen Teil des Flughafens Tegel und machte mich mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr auf den Weg nach Rom. Dorthin hatte Roberto Speranza, Italiens Gesundheitsminister, seine Kollegen aus den Anrainerstaaten Norditaliens sowie mich als Vertreter der Bundesregierung zu einem kurzfristig angesetzten Krisentreffen eingeladen, um über die aktuelle Corona-Situation in seinem Land zu berichten und das weitere Vorgehen abzustimmen. (...)
Von diesem Treffen in Rom ist mir eine Gesprächssituation in besonderer Erinnerung geblieben. Mit eindringlichen Worten berichtete Minister Speranza von den Zuständen in Bergamo: von den vielen Infizierten mit blau angelaufenen Lippen, eine Folge von bereits eingetretenem Sauerstoffmangel. Und er sagte mit Verzweiflung in der Stimme: "Sie kommen zu spät in die Kliniken, sie kommen einfach alle viel zu spät. (...)
Spät abends kaum im Flur meiner Wohnung angekommen, klingelte das Telefon. Karl-Josef Laumann (CDU), langjähriger Weggefährte und erfahrener Gesundheitsminister Nordrhein-Westfalens, war dran und eröffnete das Gespräch mit den Worten: "Jens, wir haben ein Problem. In Heinsberg." Das Virus hatte das gesellige Beieinander eines einzigen dörflichen Karnevalsabends in Gangelt genutzt, um sich binnen Stunden so sehr zu verbreiten, dass es unmöglich wurde, die Infektionsketten noch zu verfolgen und brechen zu können. An diesem Abend lag ich lange wach, denn mir war klar: Jetzt gibt es kein Zurück mehr, das Virus ist nun endgültig auch unser Virus."
Über die schwierige Abstimmung mit den Ländern
"Rund um die Zeit meiner häuslichen Isolation im Herbst 2020 fanden zwei ebenso entscheidende wie denkwürdige Ministerpräsidentenkonferenzen statt. Auf der ersten, die in Präsenz und mit dem nötigen Abstand im großen Internationalen Konferenzsaal des Kanzleramtes am 14. Oktober 2020 stattfand, wurde trotz der sehr eindrücklichen Mahnungen der Kanzlerin zu zaghaft zu wenig entschieden. Der Engländer würde sagen: too little, too late.
Kanzleramtsminister Helge Braun und ich unterstützten die Kanzlerin. Doch ebenso wie die zu Beginn der Sitzung anwesenden Wissenschaftler, die ihre Modelle zur weiteren Entwicklung vorstellten, predigten wir gegen Windmühlen. Der Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz verhielt sich, wie häufig in dieser Runde, eher passiv-abwartend, eine klare Position war nicht zu vernehmen. Und so konnte sich eine Mehrheit der anwesenden Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder trotz der immer dynamischeren Infektionslage nur zu halbherzigen Maßnahmen durchringen. Selbst eine Sperrstunde in der Gastronomie wurde ausdrücklich nur als Empfehlung in den Beschluss aufgenommen, nicht als verbindliche Maßnahme.
Viele erhofften sich nach einem sorgenfreien Sommer, dass wir dieses Mal ohne einen Lockdown durchkämen. Und die Hoffnung war ja verlockend, die Stimmung im Land war nicht eindeutig, zumindest noch nicht. Später haben Ministerpräsidenten wie Bodo Ramelow (Linke) und Michael Kretschmer (CDU) öffentlich erklärt, hier falsch gelegen zu haben. Das hatte Größe.
In Erinnerung geblieben ist diese MPK auch wegen der sehr uneinheitlichen Regelungen der Länder zum sogenannten Beherbergungsverbot. Es ging um die Frage, ob Reisende aus innerdeutschen Risikogebieten in einem anderen Bundesland übernachten oder auch nur einreisen dürfen. Gefühlt gab es sechzehn verschiedene Regelungen, und auch an diesem 14. Oktober gelang es nicht, eine bundesweit einheitliche Linie zu verabreden. Ich habe noch darauf hingewiesen, dass die Demoskopie klar zeige, dass genau dieses Wirrwarr zum Beherbergungsverbot die Akzeptanz für die Corona-Politik insgesamt beschädigte. Vergeblich."
Über den Vorwurf der mangelnden Vorbereitung
"Der Vorwurf an die Politik lautete: 'Ihr lauft immer wieder sehenden Auges in die nächste Welle hinein. Habt ihr nichts dazugelernt?' Nun, es gab Unterschiede zwischen den Wellen. Zum einen herrschten jeweils neue, andere Virusvarianten vor, zum Teil deutlich ansteckender als die Ursprungsvariante. Darauf mussten wir leider jeweils wieder durch stärker einschränkende Kontaktreduktionen reagieren. Und natürlich hatten wir von Welle zu Welle mehr und bessere Werkzeuge: mehr Wissen, mehr Testkapazitäten, Antigenschnelltests, die Zulassung von Selbsttests, erste Covid-19-Medikamente, digitale Werkzeuge wie die Corona-Warn-App, deutlich früher ausgeweitete Grippeimpfungen im zweiten Pandemiewinter, ein deutlicher Ausbau der Genomsequenzierung zur Erkennung der Varianten – und natürlich die Impfungen.
Aber eines war jedes Mal deutlich zu sehen: Hatte die Ausbreitung des Virus einmal eine exponentielle Dynamik erreicht und verkürzte sich die Verdopplungszeit der Infektionszahlen und in der Folge auch der Patientenzahlen immer weiter, dann war die Welle nur noch durch eine deutliche Reduktion der Kontakte zu brechen. Deshalb verstehe ich den Vorwurf, denn an der Stelle liegt der entscheidende Punkt: Zu oft kamen die kontaktreduzierenden Maßnahmen erst, nachdem das Wachstum schon exponentiell geworden war. Und dann mussten sie umso einschneidender ausfallen."
Vom Umfragestar zum Buhmann der Nation
Der CDU-Politiker Jens Spahn (40) war seit knapp zwei Jahren Bundesgesundheitsminister, als im Januar 2020 auch in Europa die Corona-Pandemie ausbrach. Ende 2020 war er laut einer Umfrage der beliebteste Politiker Deutschlands. Doch in der Krise mutierte er zum Buhmann der Nation, wurde für die schleppende Impfstoffbeschaffung und Probleme mit Schnelltests verantwortlich gemacht. Spahn sitzt seit 2002 im Bundestag und ist Vizefraktionsvorsitzender von CDU/CSU im Bundestag mit Zuständigkeit für Wirtschaft, Klima und Energie.
Bei wem sich die Politik entschuldigen muss
"Ich bin sehr oft gefragt worden, wen ich nach der Krise um Verzeihung bitten muss. Mein eigentlicher Punkt war ein anderer: dass es überhaupt erst einmal eine Bereitschaft gibt, zu verzeihen. Das Wort Verzeihen drückt zweierlei aus: Zum einen geht es um denjenigen, der um Verzeihung bittet – und zum anderen um denjenigen, der die Bitte erwidert und Verzeihung gewährt. Beide Seiten brauchen eine innere Haltung, die Verzeihen möglich macht. (...)
Die schwersten Entscheidungen, die wir zu treffen hatten, waren die Maßnahmen, die die Kinder und Jugendlichen sowie die Älteren in unserem Land betrafen. Besonders die Bewohnerinnen und Bewohner in den Pflegeeinrichtungen, die zu Anfang der Pandemie für viele zum Gefängnis wurden. Haben wir die Ältesten gut genug schützen können? Es gab zu viel Tod und Leid, bis der Impfstoff einen echten Unterschied machte.
'Die Entscheidungen, die dazu geführt haben, dass Menschen einsam sterben mussten, waren ein gravierender Fehler', sagte Armin Laschet am 30. Juni 2021 bei einer Gedenkstunde für die Opfer der Pandemie im Düsseldorfer Landtag. Die Politik müsse sich der Verantwortung stellen, dass zum Tod von Covid-19-Erkrankten auch Einsamkeit und soziale Isolation beigetragen haben. Er bat 'von ganzem Herzen' um Verzeihung. Ich finde, das hatte Größe. Ich kann mich dem nur anschließen.
Wenn wir unsere Politik kritisch aufarbeiten wollen, müssen wir auch die Familien um Verzeihung bitten. Sie waren in hoher Zahl außerordentlichen Belastungen ausgesetzt und das über eine lange Zeit. Bei allen Maßnahmen und Hilfspaketen ging es im Wesentlichen darum, unser Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu bewahren und die Folgen der Pandemie für die Wirtschaft und die Beschäftigten abzufedern. Was wir im Vergleich dazu zu sehr vernachlässigt haben, sind die Sorgen der Familien und Kinder. Sie standen weder bei der Frage des Gesundheitsschutzes – dieser betraf vor allem die Älteren und Vorerkrankten – noch beim Thema Wirtschaft und Beschäftigung im Fokus. Die Schließungen der Schulen dienten dazu, Kontakte zu reduzieren und so einen Beitrag dazu zu leisten, die jeweilige Welle zu brechen."
Über seinen persönlich schwersten Tag in der Pandemie
"Der 8. März 2021 war mein persönlicher Tiefpunkt in dieser Zeit. Gar nicht wegen aktueller Ereignisse oder Meldungen an dem Tag selbst. Sondern eher im Gegenteil, weil an diesem vergleichsweise ruhigen Tag, der als Weltfrauentag in Berlin ein Feiertag war, sich die vielen kleinen und großen Ereignisse, Debatten und Scharmützel der letzten Wochen in mir zu etwas zusammenbrauten. Im Januar, Februar, März 2021 ging es Tag für Tag Schlag auf Schlag. Der Fragenkatalog von Olaf Scholz, die Diskussion um zu wenig Impfstoff, der verschobene Bürgertest, die Rücktrittsforderung – jeder Tag war aufs Neue eine politische und emotionale Achterbahnfahrt. (...)
Ich kann gar nicht mehr sagen, was für mich das Fass zum Überlaufen brachte. Eine Presseanfrage zu viel, eine Schlagzeile, die nervte, eine weitere zugespitzte Kritik – alles für sich genommen kein Drama, kaum erwähnenswert. Aber ich saß in meinem Büro, und die Ereignisse der letzten Wochen, die Anspannung, die Emotionen übermannten mich. Seit Wochen ein Shitstorm nach dem anderen, journalistische Investigativteams, die jeden Stein meines privaten und politischen Lebens umdrehten und zu skandalisieren suchten, tägliche Kritik aus den Reihen der eigenen Regierungskoalition.
Und dann kommt einfach der eine Moment, da wird dir alles zu viel. Ich war durch. Ganz einfach durch. An diesem Montag im März konnte ich nicht mehr. Mir war nur noch nach Heulen zumute. (...)
Was macht man in einer solchen Situation? Ich rief meine engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an: 'Ich weiß, es ist Feiertag, aber kannst du reinkommen?' Und dankenswerterweise kamen sie tatsächlich. Sie waren, angeführt von Susanne Wald, der Chefin der Leitungsabteilung, jederzeit eine verlässliche Bank. Wir besprachen die Dinge, 'sortierten' sie, wie wir sagen. Und später tranken wir einen Schnaps auf den Tag. Am Abend auf dem Heimweg sagte ich zu mir selbst: 'Das alles macht ziemlich was mit dir. Und das sitzt viel tiefer, als du dir das vielleicht eingestehst.' Ich dachte an das Gespräch mit meiner Mutter und dass ich doch sonst im größten Stress und unter stärkstem Druck noch vergleichsweise ruhig und gelassen bleibe. Am nächsten Tag ging es schon wieder: Ich 'funktionierte', absolvierte meine Auftritte, erledigte meine Aufgaben, als wäre nichts gewesen. Da war sie wieder, meine Resilienz."
Über die wichtigsten Lehren aus der Pandemie
"Jede Krise ist anders. Wir wissen nicht, welche uns in nächster Zukunft noch herausfordern wird – abgesehen von der Klimakrise, die wie ein Damoklesschwert über uns hängt. Was uns die ersten beiden Jahre der Pandemie aber lehren: Wir brauchen ein Krisendrehbuch, um in Zukunft besser vorbereitet zu sein. Das Prinzip Vorsorge und Vorausplanung haben wir in zu vielen Lebensbereichen, im Zivilschutz, Pandemieschutz, Bevölkerungsschutz, auch im Militärischen, viel zu lange vernachlässigt. Die Bundeswehr hat zu wenig Munition, darüber mag man in Friedenszeiten spöttisch lachen. Im Ernstfall vergeht uns das Lachen schnell: Die Konsequenzen würden weit härter ausfallen als beim Maskenmangel zu Beginn der Pandemie. Den Füllstand der Gasspeicher kennen inzwischen viele Bürgerinnen und Bürger, Medien berichten teils täglich darüber – wen hat das vor einem Jahr interessiert?
Die politische Aufgabe, die daraus folgt: Zu analysieren und festzulegen, in welchen Bereichen wir kurz-, mittel- und langfristig besser vorsorgen müssen. Und für jeden dieser Bereiche dann ein entsprechendes Drehbuch festzulegen: Was wir physisch vorbereitet, welche Strukturen und Entscheidungswege braucht es, welche Pläne müssen geschrieben und geübt werden?
Mit den Bürgerinnen und Bürgern sollte dazu auf Augenhöhe kommuniziert werden. Die Krisen haben ein Verständnis gefördert für Kosten und Unwägbarkeiten. Ich bin sicher, wer das beherzigt, wird politisch belohnt werden: mit Vertrauen. Als Nation und als Europäische Union weniger abhängig und souveräner zu werden – wohl keine Aufgabe drängt so sehr und ist dabei so groß wie diese. Das wird anstrengend, das ist teuer, das verlangt allen einiges ab. Aber es ist an der Zeit."
- Buch von Jens Spahn : "Wir werden einander viel verzeihen müssen", Heyne Verlag 2022, 22 Euro.