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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grundversorgung in Gefahr? "Die Lage ist sehr kritisch – und wird nicht klar kommuniziert"
Der Expertenrat der Bundesregierung warnt eindringlich vor massiven Ausfällen des Personals – nicht nur in Krankenhäusern, sondern in der gesamten kritischen Infrastruktur. Wie steht es um die Grundversorgung in Deutschland?
Weiter vorausblicken als die Politik es tut, Gefahren früh identifizieren und warnen – das sind die Aufgaben des neu eingesetzten Expertenrats der Bundesregierung. Alarmieren muss deswegen die Einschätzung des Gremiums vom Sonntag: "Sollte sich die Ausbreitung von Omikron in Deutschland so fortsetzen, wäre ein relevanter Teil der Bevölkerung zeitgleich erkrankt und/oder in Quarantäne. Dadurch wären das Gesundheitssystem und die gesamte kritische Infrastruktur des Landes extrem belastet."
Standen in den letzten Wochen vor allem die Krankenhäuser wegen eines hohen Patientenaufkommens im Fokus, warnt der Expertenrat nun also vor einem Notstand durch Personalengpässe in der gesamten kritischen Infrastruktur – also auch bei Polizei, Feuerwehr, Telekommunikationsdienstleistern, Strom- und Wasserversorgern, in Logistik und Handel. Die Sorge sind dabei zurzeit nicht unbedingt schwerere Krankheitsverläufe durch Omikron, sondern der Ausfall von Angestellten in nie da gewesener Zahl durch Infektionen und Quarantänen.
Delta löste in Großbritannien "Pingdemie" aus
Ein Zustand, den Großbritannien bereits kennt. Schon im Juli griff hier mit der Verbreitung der Delta-Variante eine sogenannte Pingdemie um sich. Tausende Briten wurden wegen Kontakt zu Infizierten mit einer Alarmnachricht ("Ping") auf ihrem Handy in Isolation geschickt. Ein maßgeblicher Grund, warum Supermarktregale in diesen Wochen zum Teil leer blieben – es war niemand mehr da, um sie zu füllen.
Auch jetzt ist Großbritannien Deutschland in der Entwicklung wieder voraus: Hunderte Beschäftigte in Krankenhäusern fallen aus, die Feuerwehrgewerkschaft spricht von einem "beispiellosen" Personalmangel in ihren Reihen. Fast ein Drittel der Londoner Löschfahrzeuge waren deswegen in der vergangenen Woche nicht einsatzfähig, wie der "Guardian" berichtet.
"So geht es los", warnt der Charité-Virologe Christian Drosten, der auch Mitglied des Expertenrats ist, auf Twitter mit Blick auf die Lage auf der Insel. "Omikron wird zu massiven krankheitsbedingten Ausfällen führen. Auch in essenziellen Berufsgruppen."
Droht Deutschland mit Omikron der Zusammenbruch der Grundversorgung? Wie schlimm ist die Lage bereits, wie steuern Behörden und Dienstleister gegen?
"Die Lage ist sehr, sehr kritisch – und wird von der Politik nicht klar kommuniziert", kritisiert Holger Berens im Gespräch mit t-online. Berens ist Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands für den Schutz kritischer Infrastrukturen, ein Experte für die Betriebe, die in Deutschland die Grundversorgung sichern. Denkbar sei, dass sich Angestellte – wie zum Teil bereits im Winter 2020 – in Strom- und Wasserkraftwerken rund um die Uhr isolieren müssten, um auf jeden Fall arbeitstauglich zu bleiben.
Wasserbetriebe: "Haben die Schrauben angezogen"
Viele Betriebe in der kritischen Infrastruktur haben trotz der noch unklaren Lage bereits vor der Warnung des Expertenrats Maßnahmen ergriffen. Die Berliner Wasserbetriebe, die mit 4.600 Mitarbeitern in der Hauptstadt für die Wasserver- und Abwasserentsorgung für mehr als drei Millionen Bürger zuständig sind, haben für die Arbeit in Präsenz die Schichtpläne umgestellt: Oft wird nun zwölf statt acht Stunden gearbeitet. Eine komplette Schicht kann so zu Hause bleiben – und muss sich bereithalten, falls durch Corona große Teile der Belegschaft ausfallen sollten. Die Mehrbelastung schafft so eine Reserve für den Notfall.
Auch die Startzeiten der Schichten wurden verändert und entzerrt. So sollen sich die Mitarbeiter unterschiedlicher Gruppen in Gemeinschaftsräumen und Umkleiden gar nicht mehr begegnen, die Quarantänekreise im Ernstfall klein gehalten werden. Wo früher oft kleine Teams oder Duos loszogen – zum Beispiel, um Wasserzähler zu tauschen – übernehmen nun Mitarbeiter einzeln den Job. Zu Arbeitsbeginn muss ein Impf- oder Testzertifikat vorgelegt werden, in den Gebäuden der Wasserbetriebe herrscht eine strenge FFP2-Maskenpflicht. Wer seine Arbeit aus dem Homeoffice erledigen kann, muss das verpflichtend tun.
"Wir haben in den letzten zwei, drei Wochen die Schrauben schon wieder angezogen", sagt Stefan Natz, Sprecher der Berliner Wasserbetriebe, t-online. "Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste." Der Krisenstab des Wasserversorgers tagt inzwischen wöchentlich, eine Verschärfung der Maßnahmen ist je nach Lage nicht ausgeschlossen. Eine Kasernierung und Isolierung von Mitarbeitern rund um die Uhr lehnen die Berliner Wasserbetriebe aber ab. Natz sieht bei dieser Strategie erhebliche Nachteile: Befinde sich doch ein Infizierter in der isolierten Anlage, verbreite sich Corona dort erst recht unter der Belegschaft.
Corona-Demos machen der Polizei zu schaffen
Im Gegensatz zu den Wasserwerkern können Polizisten nicht auf Abstand bleiben. Sie sind in der Regel in Teams unterwegs – und haben oft sehr direkten Kontakt zu Bürgern, zurzeit gerade auch zu Ungeimpften. Denn deutschlandweit, besonders stark in Bundesländern wie Sachsen oder Baden-Württemberg, versammeln sich Impf- und Maßnahmengegner zu Demonstrationen in nicht erlaubten Größen.
Der öffentliche Druck, diese Veranstaltungen rasch aufzulösen, ist in den letzten Wochen gestiegen – damit aber auch das Infektionsrisiko für die Beamten. Denn die Wahrscheinlichkeit, angebrüllt, angespuckt und geschlagen zu werden, steigt beim Durchgreifen der Staatsgewalt.
Die "zahlreichen Demonstrationen und sogenannten Spaziergänge von Gegnern der Corona-Maßnahmen und Impfskeptikern" seien derzeit Hauptbelastung für die Polizeien, sagte Oliver Malchow, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), t-online. "Wir machen uns große Sorgen um die Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen, einerseits wegen des noch unklaren Wirkschutzes des Boosterns vor der Omikron-Variante, andererseits auch aufgrund der seit Längerem sehr hohen Belastungen."
"Manche Einheiten laufen nur noch im Notbetrieb"
Horrormeldungen lieferte schon Ende November der Freistaat Sachsen: Dort waren zu diesem Zeitpunkt 600 Polizisten mit Corona infiziert, 1.000 weitere saßen in Quarantäne. "Manche Einheiten laufen schon jetzt nur noch im Notbetrieb", warnte die Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Sachsen (DPolG) im Gespräch mit t-online.
Für die Beamten gelten die Schutzbestimmungen der jeweiligen Länder – das bedeutet unter Umständen, dass nicht einmal eine FFP2-Maske getragen werden muss, die Selbstschutz garantiert. Steve Alter, Sprecher des Bundesinnenministeriums, teilte am Montag allerdings mit, dass der Dienstherr FFP2-Masken "insbesondere für den Streifendienst" zur Verfügung stelle. Nach Erkenntnissen des Ministeriums würden diese Masken auch "sehr, sehr weit verbreitet" getragen.
Gewerkschafter Malchow schätzt, dass die Polizeien die Lage "aus momentaner Perspektive" trotz Personalmangels im Griff haben. Notwendig aber seien in jedem Fall eine enge länderübergreifende Zusammenarbeit und gegebenenfalls eine Aufgabenpriorisierung. Bedeutet, ganz ähnlich wie in den Krankenhäusern: Große und akute Lagen haben Vorrang, kleinere Delikte bleiben vorerst liegen.
Großteil der Krankenhäuser fehlt Intensivpersonal
In den Krankenhäusern ist die Belastung am größten. Die Zahl der Corona-Patienten steigt, zugleich ist die Infektionsgefahr sowie die Arbeitsbelastung nach eineinhalb Jahren Pandemie besonders hoch. Etwa Dreiviertel der Krankenhäuser haben ihren Regelbetrieb zumindest auf den zurzeit so wichtigen Intensivstationen bereits eingeschränkt, teilt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, t-online auf Nachfrage mit.
Exakte Daten über die aktuellen Ausfälle lägen zwar nicht vor, aber die übliche Ausfallquote liege bei fünf Prozent – also 18.000 Vollzeitkräften in der Krankenpflege. "Jedes Prozent mehr ist in dieser Ausnahmesituation bereits in der Versorgung spürbar." Und Gaß' Ausblick ist düster. Verbreite sich Omikron so rasant wie mit Blick auf andere Länder befürchtet, "würde dies zu einer noch mal deutlich gesteigerten Belastung der Krankenhäuser führen, wie wir sie noch nicht erlebt haben". Drohende Folgen: eine weitere Einschränkung der Regelversorgung, eine noch stärkere Priorisierung von Fällen – und lange Wartezeiten für viele Patienten, erklärt Gaß.
Auch Logistikbranche befürchtet Versorgungsengpässe
Die bei den systemrelevanten Berufen oft vergessene Logistikbranche hat gleich an mehreren Fronten mit Corona zu kämpfen: Erstens befürchtet man auch hier einen steigenden Krankenstand, zweitens sind wieder scharfe Test- oder Quarantäneregeln für Fahrten in fast alle Nachbarländer eingeführt worden und drittens sind viele Lkw-Fahrer aus Osteuropa mit Sputnik geimpft. Weil der russische Impfstoff in Deutschland bisher nicht zugelassen ist, gelten sie als ungeimpft und müssen Tests für die Arbeit nachweisen. Das alles kostet Zeit – in der durchgetakteten Branche fatal.
Schon jetzt seien Lieferketten beispielsweise im Automobilhandel abgerissen, so Berens, Experte für kritische Infrastrukturen. Das könne sich durch Personalmangel in Logistik und Handel auch auf die Grundversorgung ausdehnen: "Im schlechtesten Fall kann es zu Versorgungsengpässen auch bei Medikamenten und Lebensmitteln kommen."
Branchenverbände geben noch leichte Entwarnung: Die Logistikbranche sei im Umgang mit sich ständig ändernden Gesetzen in der Pandemie inzwischen äußerst routiniert, sodass "nach wie vor keine versorgungsrelevanten Ausfälle größeren Ausmaßes" zu befürchten seien, sagt Frank Huster, Hauptgeschäftsführer des DSLV Bundesverband Spedition und Logistik, t-online. Probleme sieht er in der niedrigen Impfquote und in fehlender Testinfrastruktur für international eingesetztes Fahrpersonal.
Ist ein Gegensteuern noch möglich?
Aus den unterschiedlichen Branchen kommen ganz unterschiedliche Forderungen: Die Polizeigewerkschaft dringt auf eine Intensivierung der Booster-Kampagne für ihre Beamten. Die Krankenhausgesellschaft bittet die Bevölkerung um "zurückhaltendes Feiern" an den Feiertagen, speziell an Silvester, "mit weniger Menschen, weniger Alkohol und ohne gefährliches Feuerwerk", um Zusatzbelastungen gering zu halten. Die Logistikbranche fordert eine vorausschauende Politik, die bei Rechtsverschärfungen sofort klarstellt, wie mit Fach- und Hilfskräften ohne deutsche Staatsbürgerschaft umgegangen werden soll.
Experte Berens geht einen Schritt weiter und bringt für alle Beschäftigten in systemrelevanten Berufen ins Spiel, was für Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeheimen bereits beschlossen wurde: "Wir müssen über eine Impfpflicht für die Berufe in kritischen Infrastrukturen nachdenken."
- Guardian: "Hundreds off work ill" (auf Englisch)
- Stellungnahme Expertenrat
- Twitterprofil Christian Drosten
- Gespräche mit und Anfragen an Deutsche Krankenhausgesellschaft, Polizeigewerkschaften, Berliner Wasserbetriebe, Logistikverbände
- Gespräch mit Experte Holger Berens