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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Talk bei "Markus Lanz" "Wir mussten als Stiko mehrfach 'ne Faust in der Tasche machen"
Eigentlich wollte Markus Lanz einen SPD-Ministerpräsidenten zu Beschlüssen der heutigen MPK oder Posten in der neuen Bundesregierung löchern. Doch ein Mitglied der Ständigen Impfkommission sorgte für eine größere Überraschung.
Am heutigen Donnerstag findet die nächste Ministerpräsidentenkonferenz zur Corona-Pandemie mit der noch amtierenden Kanzlerin und ihrem Nachfolger Olaf Scholz statt, auf der von vielen heftig geforderte Beschlüsse gefasst werden sollen. Und Scholz' Parteifreund sowie Lanz' Stammgast Stephan Weil schien bereit, das eine oder andere zu verraten. Zwar nicht, ob statt Karl Lauterbach Ex-SPD-Parteichefin Andrea Nahles das Gesundheitsministerium kriegt, aber, was die MPK beschließen werde: bundesweit einheitliche Regelungen für Kontaktbeschränkungen. Doch ein Mitglied der Ständigen Impfkommission zog dann mehr Aufmerksamkeit auf sich – indem es sowohl Selbstkritik als auch Kritik an den Bedingungen, unter denen die Stiko über die Pandemie hinweg arbeiten musste, äußerte.
Die Gäste
- Stephan Weil, Ministerpräsident von Niedersachsen (SPD)
- Martin Terhardt, Kinderarzt und Stiko-Mitglied
- Dirk Brockmann, Modellierer und Physiker
- Hannah Bethke, Journalistin
Moderator Markus Lanz setzte seine Show vom Vorabend sozusagen nahtlos fort. Zumindest beide Wissenschaftler hatten diese Sendung gesehen. Also war Stiko-Mitglied Martin Terhardt auch die Kritik bekannt, die Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff dort am geringen Tempo der Kommission geäußert hatte.
"Wir mussten als Stiko schon mehrfach 'ne Faust in der Tasche machen", sagte der Berliner Kinderarzt – aber auch, dass er solche Kritik nachvollziehen könne. In einer Pandemie sei es "wahrscheinlich sinnvoll, dass die Politik Empfehlungen vor der Stiko ausspricht". Es müsse sich ja niemand allein an der Stiko orientieren.
Stiko-Konstrukt "für Pandemien nur begrenzt geeignet"
"Jetzt machen sie sich kleiner, als sie sind", entgegnete ihm Weil. Ärzte verließen sich vor allem auf die Stiko, "da können die Gesundheitsminister viel erzählen". Schnellere, klarere Empfehlungen hätten geholfen. Ja, schnelleres Handeln hätte er sich auch gewünscht, konzedierte Terhardt. Doch hänge die Langsamkeit mit den Ressourcen zusammen: Die achtzehn Stiko-Mitglieder treffen sich als ehrenamtliches Gremium regelmäßig, inzwischen wöchentlich, in ihrer Freizeit. Nur drei Stellen der Stiko-Geschäftsstelle am Robert Koch-Institut seien hauptamtliche. Die Konstruktion der Stiko sei "für Pandemien nur begrenzt geeignet".
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Das und dass die Ressourcen im langen Verlauf der Pandemie nicht aufgestockt wurden, sorgte für Überraschung im Studio. Wer das Gesundheitsministerium, dem ja das RKI untersteht, übernimmt, sollte schnell mehr Möglichkeiten für die Stiko bereitstellen, forderte Weil. Modellierer Dirk Brockmann, der auch mit dem RKI zusammenarbeitet, erklärte, dass es in Ausnahmesituationen wie einer Pandemie sinnvoll wäre, die Expertise der Stiko zu erweitern, nämlich um die Rolle als "Kommunikationsprofis": "Es kommt ja nicht nur darauf an, dass das Richtige gesagt, sondern dass das Richtige gehört wird".
Manches blieb unklar, etwa ob die Stiko selbst beim Gesundheitsminister Spahn eine Erhöhung ihrer Ressourcen gefordert hatte. Doch entwickelte sich ein sachliches Gespräch aller Gäste. Terhardt hatte auch eine frische Info dabei: Wenn der neue Kinderimpfstoff am 13. Dezember zur Verfügung steht, werde es dazu bereits eine Empfehlung geben. Welche, daran werde noch gearbeitet.
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Generell müssten jetzt aber vor allem die Erwachsenen geimpft werden, "so schnell es geht". Bei Kindern gebe es hierzulande, anders als etwa in den USA, keine große Covid-Krankheitslast. Da widersprach wiederum Weil: Das Ziel, die Schulen offen zu halten, ließe sich mit einem nennenswerten Anteil geimpfter Kinder "wesentlich einfacher" erreichen. Und Brockmann berichtete von "Off-Label-Impfungen" an Kindern mit niedriger dosiertem Erwachsenen-Impfstoff, die derzeit in einer rechtlichen und wohl auch medizinischen Grauzone durchgeführt würden.
Weil neigt inzwischen zur Impfpflicht
Als vierter Gast trat die Journalistin Hannah Bethke aus dem Berliner Büro der "Neuen Zürcher Zeitung" nicht nur einmal dem relativen Optimismus entgegen, den vor allem Weil verbreitete (gewiss auch, um den Start der SPD-geführten Bundesregierung zu erleichtern). Das "Problembewusstsein in der Bevölkerung" sei inzwischen deutlich gestiegen, sagte er etwa. "Woher nehmen Sie den Optimismus?", konterte die Journalistin. Die Stimmung werde immer gereizter.
Um das umstrittene Thema Impfpflicht ging es auch. Das Meinungsbild vieler Politiker dazu wandelt sich gerade. Auch Weil, der bei früheren Lanz-Auftritten dagegen plädiert hatte, neigt inzwischen zur Impfpflicht. Die Omikron-Variante zeige, dass die Gesellschaft ohne hinreichenden Impfschutz immer wieder in neue Wellen hineingeraten werde. Da widersprach wiederum Stiko-Mitglied Terhardt: "Das Vertrauen geht verloren, wenn man es zur Pflicht macht". Und das Land Bremen habe ja gezeigt, wie man auch ohne Pflicht eine Impfquote über 90 Prozent erreichen könne, sagte er in Richtung des Ministerpräsidenten.
Als Weil dann erklären sollte, wie eine Impfpflicht konkret aussehen könnte (und natürlich plastische Formulierungen parat hatte: ungefähr so wie Führerscheinpflicht beim Autofahren, wobei aber nicht Kanonen auf Spatzen zielen dürften), war die Sendezeit sogar schon überschritten.
- "Markus Lanz" vom 1. Dezember 2021