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Altkanzler Schröder zu 9/11: Der Kampf ist noch nicht gewonnen


Klartext vom Altkanzler
Der Kampf ist noch nicht gewonnen

MeinungVon Gastautor Gerhard Schröder

Aktualisiert am 11.09.2021Lesedauer: 4 Min.
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Terroranschläge vor 20 Jahren: Was genau am 11. September 2001 in den USA geschah und welche Bilder an diesem Tag um die Welt gingen. (Quelle: t-online)

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 waren ein Angriff auf die gesamte zivilisierte Welt. Deshalb müssen wir noch immer bereit sein, Verantwortung zu übernehmen – trotz des Afghanistan-Desasters.

Es gibt Tage, die man nie vergisst. Der 11. September 2001 ist ein solcher Tag, der sich in das kollektive Gedächtnis der Welt eingebrannt hat – mit den Bildern der einstürzenden Türme des World Trade Centers in New York. An diesem Tag passierte das bis dahin Unvorstellbare: Terroristen steuerten Flugzeuge in diese Türme und in das Pentagon in Washington, eine Maschine zerschellte in Pennsylvania am Boden, weil sich Passagiere heldenhaft gegen die Kidnapper wehrten. 3.000 Menschen kamen zu Tode.

Es waren Anschläge, die sich nicht gegen die USA allein richteten, sondern gegen die gesamte zivilisierte Welt.

An diesem Tag saß ich in meinem Büro im Kanzleramt und arbeitete an meiner Haushaltsrede für den nächsten Tag. Kurz zuvor hatte ich den damaligen (und heutigen) Ministerpräsidenten von Ungarn, Viktor Orbán, zu einem Gespräch getroffen.

Also: ein eher ruhiger Arbeitstag für einen Bundeskanzler. Aber auf einmal stürzte meine damalige Büroleiterin herein und sagte: "Es ist etwas Schreckliches in New York passiert!" Sie stellte den Fernseher an, und da waren diese Bilder. Gerade krachte das zweite Flugzeug in einen der beiden Türme, diese riesigen Brand- und Staubwolken, Menschen, die aus Fenstern sprangen, die wussten, dass sie sterben würden, und nur dem weit qualvolleren Tod durch Ersticken oder Verbrennen entgehen wollten. Diese Bilder sind mir auch heute noch gegenwärtig.


Mir war schnell klar: Das ist ein terroristischer Angriff, der weitreichende politische und militärische Folgen haben wird. In einer solchen Situation muss man als Regierungschef das Gefühl von Ohnmacht und Wut, das einen zunächst befällt, abstreifen und die Entscheidungen in die Hand nehmen.

Ich bestellte sofort das Sicherheitskabinett ein. Natürlich gab es die große Sorge, dass es auch zu Attentaten in Deutschland kommen könnte. Später wurde bekannt, dass einige der Attentäter eine Zeit lang in Hamburg gelebt hatten. Wir beschlossen umfassende Maßnahmen, etwa für den Flugverkehr und zum Schutz öffentlicher Gebäude.

Gerhard Schröder war von 1998 bis 2005 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. An der Spitze einer rot-grünen Bundesregierung setzte er damals unter anderem umfassende Sozialreformen (Hartz-Gesetze) durch. Der 77-Jährige arbeitet heute als Rechtsanwalt in Hannover, wo er mit seiner Frau, der südkoreanischen Wirtschaftsexpertin Soyeon Schröder-Kim, lebt. Außerdem ist er Aufsichtsratsvorsitzender des russischen Energiekonzerns Rosneft und der Pipeline Nord Stream.

Anlässlich dieses Jahrestages habe ich einen Blick in meinen Kalender geworfen und bin erstaunt über die schnelle Folge von Gesprächen und Sitzungen an diesem 11. September: Telefonate mit Präsident Jacques Chirac, Premier Tony Blair und Präsident Wladimir Putin, um die internationalen Reaktionen abzustimmen; Gespräche mit den Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien und Fraktionen; und natürlich die Unterrichtung der Öffentlichkeit.

Es war eine schnelle Taktung der Entscheidungen, an Schlaf in der Nacht zum 12. September war nicht zu denken. Ich weiß noch, wie ich mich hinsetzte, um das Kondolenztelegramm an US-Präsident Bush persönlich zu formulieren. Und anschließend entwarf ich die Rede für die Bundestagssitzung am nächsten Tag, die natürlich nicht mehr um – nun zweitrangig gewordene – Haushaltsfragen ging, sondern um die Konsequenzen aus den schrecklichen Ereignissen.

Am nächsten Tag habe ich im Bundestag den Vereinigten Staaten die "uneingeschränkte Solidarität Deutschlands" zugesichert. Der Begriff war wohlüberlegt. Er sollte klar machen, dass wir eine Beteiligung an militärischen Interventionen nicht ausschließen konnten und nicht ausschließen wollten. Ein Nato-Mitglied, ein befreundetes Land, zudem unser wichtigster Partner, war auf seinem eigenen Territorium angegriffen worden.

Auch wir Deutschen hätten, wären wir angegriffen worden, von unseren Partnern nichts anderes als uneingeschränkte Solidarität erwartet. Wenn ich heute manche Kommentare in den Medien lese, man hätte sich damals der Intervention in Afghanistan entziehen sollen, dann kann ich nur den Kopf schütteln.

Vier Wochen nach dem Anschlag habe ich in New York "Ground Zero" besucht, um mir selbst ein Bild zu machen. In den Trümmern des World Trade Centers kämpfte ich mit den Tränen. Da waren wieder die Bilder von Menschen, die in die Tiefe gesprungen waren. Es war einer der erschütterndsten Momente in meinem Leben. Ich war Jahre zuvor im obersten Stockwerk der Türme gewesen und habe den Blick über Manhattan genossen. Jetzt waren dort nur noch Schutt und Asche und dieser Geruch der Zerstörung, an den ich mich heute noch erinnere.

Wir haben eine globale Verpflichtung

Wer die Bilder von "Nine Eleven" kennt, der weiß: Es gab keine sinnvolle Alternative zur Bündnissolidarität. Wenn Deutschland an dieser Stelle eine andere Position eingenommen hätte, wäre das deutsch-amerikanische Verhältnis zerrüttet gewesen, und das zu Recht. Die Nato rief den Bündnisfall aus, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen legitimierte eine Militäraktion in Afghanistan und es wurde eine internationale Anti-Terror-Allianz gebildet, der auch viele islamische Staaten angehörten. Und als Teil dieses internationalen Bündnisses wollte und musste Deutschland seinen Beitrag leisten.

Die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Einsatz war eine Entscheidung, die ich heute wieder so treffen würde. Die Fehler begannen später, als versucht wurde, den Irakkrieg zu einem Bestandteil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus zu machen. Erst hieß es, es gebe al-Qaida im Irak. Als sich das nicht halten ließ, war von Massenvernichtungswaffen die Rede. Auch hier stellte sich heraus: Es gab sie nicht.

Dann kam die dritte Begründung, und die hieß Regimewechsel. Dieser Krieg war damit nicht zu legitimieren, und wir haben ihn abgelehnt. Aber vor allem haben die USA damit ihren Fokus von Afghanistan weg verlagert. Das hat zum Wiedererstarken der Taliban geführt. Unsere Vorstellung im Jahr 2001 war, als westliches Bündnis gemeinsam reinzugehen und nach Beendigung auch gemeinsam wieder rauszugehen. Dieses Versprechen haben die USA nicht gehalten.

Der 20. Jahrestag von "Nine Eleven" erinnert an die globale Verpflichtung, uns für Frieden einzusetzen. Aber wer diese Verpflichtung ernst nehmen will, der muss auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Und dies schließt im Kampf gegen den globalen Terrorismus militärische Einsätze ein. Und eines ist klar: Dieser Kampf ist noch nicht gewonnen. Die Bundesrepublik Deutschland wird auch in Zukunft vor solch schwierigen Entscheidungen stehen.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung des Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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