Wahlkampf-Talk bei "Markus Lanz" Grünen-Politiker Özdemir: "Zug um Zug weniger Flug"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Grüne zoffte sich mit Linkspolitikerin Amira Mohamed Ali um Verkehrs- und Außenpolitik. Die Grünen und die Linke – könnte das in einer Bundesregierung matchen?
Unmittelbar im Anschluss an Kollegin Illner, die mit Gast Karl Lauterbach und Überlänge große Räder zum Thema Corona gedreht hatte, setzte Markus Lanz am Donnerstagabend ganz auf Wahlkampf. Er hatte den Grünen Cem Özdemir und Amira Mohamed Ali, die Bundestags-Fraktionsvorsitzende der Linken, zu Gast und versuchte, sie gegeneinander auszuspielen. Besonders bei außenpolitischen Themen gelang das. "Das matcht nicht", befand die Journalistin Anja Maier. Was Mohamed Ali prompt veranlasste, dann doch Gemeinsamkeiten zu suchen.
Zur kuriosesten Politik-Meldung des Tages – dass einige Parteifreunde die wohl prominenteste Linke, Sahra Wagenknecht, aus der Partei ausschließen wollen – äußerte Mohamed Ali sich knapp und klar: Das sei "absurd", dafür habe sie kein Verständnis.
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Die Gäste:
- Cem Özdemir, Politiker (Die Grünen)
- Amira Mohamed Ali, Politikerin (Die Linke)
- Anja Maier, Journalistin ("Weser-Kurier", Ex-"taz")
- Michel Friedman, Publizist und Talkshow-Moderator
Zunächst knöpfte Lanz sich die Grünen vor. Özdemir sollte die Fehler der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock erklären. Er geriet schnell in die Defensive, indem er die viele Parteiarbeit vor dem "Hammerparteitag" am Wochenende, mit dem der Wahlkampf losgehen soll, und die Verhältnismäßigkeit der Vorwürfe im Vergleich etwa mit Bereicherung durch Maskendeals betonte. Baerbock bewirbt sich um "das höchste Amt" im Land, da seien korrekte Angaben "eine Frage der Professionalität", warf Maier ein, und Bundestagsabgeordnete haben einen "ziemlich gut ausgestatteten Apparat", um solche Aufgaben zu erledigen. Friedman erklärte grüne Chancen aufs Kanzleramt bereits für erledigt: "Vielleicht werden sie noch Vizekanzlerin schaffen" – was ein gutes Vierteljahr vor der Wahl verfrüht sein könnte. In dieser zähen Diskussion, in der überwiegend bereits bekannte Argumente ausgetauscht wurden, hielt Mohamed Ali sich zurück.
- Tagesanbruch: Baerbock stürzt drastisch ab
Um sie ging es bald darauf. Auf Twitter hatte sie Baerbock ihrer Benzinpreis-Pläne wegen "unerträgliche Arroganz" vorgeworfen. Auf dem Weg zu ihrem Büro in Oldenburg sehe sie jeden Tag, wie Menschen bei der Tafel für Lebensmittel anstehen, erläuterte die Linke ihre Kritik. Die Grünen-Verteidigung übernahm, weil Özdemir mit Mohamed Alis Sprechtempo noch Probleme hatte, erst mal Maier. Kennt die Linke die genauen Pläne der Grünen überhaupt? Zumindest Mohamed Alis Argument, dass nachträgliche Ausgleichszahlungen für sozial schwächere Menschen, die ihr Auto brauchen, ungerecht seien, trifft eher nicht. Die Grünen wollen solche Ausgleichszahlungen im Voraus erstatten. "Regelungen über die Verbrauchspreise sind immer sozial ungerecht" kriegte Mohamed Ali mehr oder weniger die Kurve.
Özdemir als kompromissbereiter Pragmatiker
Özdemir betonte seine eigene Empathie für sozial Schwache ("Ich komme aus einer Arbeiterfamilie") und dass auch Umweltschutz mit sozialer Gerechtigkeit zu tun habe. Wichtig sei überdies, dass Ankündigungen bezahlbar sind. "Die Zeiten, in denen wir mit dem Füllhorn Geld ausgeben können, sind vorbei", sagte er, womit er sowohl die milliardenteuren Corona-Maßnahmen meinte als auch sein Image als sparsamer Schwabe pflegte.
Geklärt wurden die Benzin-Pläne im Detail nicht, da Lanz nach anderen Aspekten der Verkehrspolitik und nun wieder Özdemir befragte. Der staunte, dass seine Parteifreunde inzwischen statt "Tempolimit" lieber das positiver klingendere, jedoch dasselbe meinende Wort "Sicherheitstempo" verwenden wollen.
Und wollen die Grünen nun eigentlich inländische Kurzstreckenflüge verbieten? Auf diese Frage reimte Özdemir, der sich inzwischen gefangen hatte: "Zug um Zug weniger Flug". Also kein Verbot, sondern niedrigere Bahn- und höhere Flug-Preise. Außerdem erfuhren Lanz und sein Publikum, das die Show am Dienstag gesehen hatte, in der die Journalistin Cerstin Gammelin davon gesprochen hatte, warum in Sachsen-Anhalt viermal so viele Windräder wie im größeren Baden-Württemberg stehen: weil in Sachsen-Anhalt die CDU schon immer für Windenergie, in Baden-Württemberg dagegen lange Zeit "wie der Teufel" dagegen gewesen sei. Özdemir präsentierte sich nun als kompromissbereiter Pragmatiker für eine künftige Bundesregierung.
Könnten da auch Grüne und Linke koalieren?
Diese Frage entpuppte sich als zentrales Thema. Lanz ließ einen Tweet des linken Spitzenkandidaten Bartsch einblenden, der den Ukraine-Besuch des Grünen Robert Habeck kritisiert hatte ("Sich als deutscher Parteichef mit Stahlhelm in der Nähe der russischen Grenze ablichten zu lassen, ist angesichts unserer Geschichte unangemessen"). Der Tweet sei "unterirdisch", konterte Özdemir: "Es ist nicht überall da, wo russische Soldaten sind, Russland", zum Beispiel in der Ostukraine.
Um die Russland-Freundlichkeit der Linken und um Auslandseinsätze deutscher Soldaten, die sie kategorisch ablehnt, ging es hoch her. Mohamed Ali ließ sich Aussagen wie die, dass Wladimir Putin "schwere Menschenrechtsverletzungen" begeht, entringen. Özdemir – der manchmal ja als potenzieller Außenminister genannt wird – war in seinem Element. Warum stimmte die Linke im Bundestag gar gegen den UN-Einsatz von 50 Bundeswehr-Soldaten im humanitären Krisen-Gebiet Südsudan? Weil Deutschland sich an solchen Missionen zwar finanziell beteiligen sollte, praktische Einsätze aber von neutralen Staaten unternommen werden sollten, so Mohamed Ali. Österreich zum Beispiel, das nicht Nato-Mitglied ist, könnte das ja tun. Mit diesem wunderlichen Vorschlag hat sie Gegnern ihrer Partei gute Argumente gegeben (und man konnte sich wundern, warum sie Bundeswehr-Einsätze in Afghanistan oder in Mali, über die sich gut streiten ließe, nicht ansprach).
Eine rot-rot-grüne Koalition würde, auch wenn sie rechnerisch möglich sein sollte, inhaltlich wohl kaum funktionieren, meinte Anja Maier – worauf Mohamed Ali betonte, "dass wir sehr viele Gemeinsamkeiten haben", bloß in der Außenpolitik nicht. Und tatsächlich konnten sie und Özedmir gewisse Gemeinsamkeit demonstrieren, als Lanz das Thema wechselte und rasch noch das neue "kleine feine Büchlein" seines Gastes und Kollegen Friedman empfahl. "Streiten? Unbedingt!" heißt es.
Friedman hielt tatsächlich ein kleines, feines Plädoyer für Streitkultur, die Neugier enthält, und gegen "Verrohung", wie sie im Internet droht. Ein gar nicht kleines Lob wiederum für Lanz integrierte Friedman auch: "Sendungen wie Sie sie machen, sind unersetzbar. Wir haben nicht zuviele davon, wir haben zuwenige" – wobei er seine eigene Talkshow im Fernsehsender Welt mitgemeint haben dürfte.
- "Markus Lanz" vom 10. Juni 2021