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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Angehörige von Corona-Toten berichten "Dieses Virus macht dich kaputt"
Heute gedenkt die deutsche Politik der Corona-Toten. Was aber wünschen sich Hinterbliebene gerade von Regierung und Gesellschaft? Vier Menschen, die ihre Nächsten verloren haben, erzählen.
Mehr als ein Jahr hat Corona Deutschland jetzt fest im Griff, seither sind rund 80.000 Menschen an oder mit Sars-Cov-2 gestorben.
80.000 Mütter, Väter, Brüder und Schwestern, Töchter, Söhne, Liebende, Nachbarn, Kollegen, beste Freunde. Millionen Trauernde.
An diesem Sonntag wehen die Flaggen in Berlin auf halbmast, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zum Gedenken aufgerufen. Fünf Hinterbliebene werden an der Gedenkfeier teilnehmen – und die fünf Spitzen der Verfassungsorgane, darunter Kanzlerin Angela Merkel. Die Ministerpräsidenten haben dazu aufgerufen, am Abend eine Kerze ins Fenster zu stellen.
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Viele protestieren: "Zündet eure Kerzen selber an." Gerade rollt die dritte Welle, Intensivmediziner warnen seit Wochen vor steigenden Infektionszahlen und knappen Intensivbetten. Die Politik streitet derweil über mögliche Maßnahmen.
Sind Kerzen genug? Wie schwer wiegt die Schuld der Politik? Wir haben mit vier Menschen gesprochen, die einen oder mehrere Angehörige in dieser Krise verloren haben. Hier erzählen sie, was sie erlebt haben, wie sie trauern und was sie sich jetzt von Politik und Gesellschaft wünschen.
Petra Weigand: "Verdammt, verdammt, das hätte alles anders laufen können"
Petra Weigand (60) hat ihre Mutter (74) verloren:
Meine Mama wurde am 30. Dezember in einem Krankenhaus positiv auf Corona getestet. Sie wurde vorher wegen starker Schmerzen und einer Sepsis in wenigen Wochen in drei unterschiedlichen Krankenhäusern behandelt. Die Stationen waren voll, sie musste immer wieder verlegt werden. Im zweiten Krankenhaus muss sie sich mit Corona infiziert haben.
Ich war vollkommen geschockt. Dass sie sich im Krankenhaus ansteckt, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich bezweifle auch, dass die Versorgung in den letzten Häusern optimal war. Vieles wirkte dilettantisch. Bei einem Besuch von uns hat der Arzt immer wieder seine Maske unter die Nase gezogen. Ich weiß, es ist schwer, unter den Masken zu atmen. Aber ich muss immer wieder daran denken.
Als die Nachricht von ihrer Corona-Infektion kam, wusste ich gleich: Das schafft sie nicht. Am 4. Januar ist sie dann gestorben. Das ist wie eine Ohnmacht. Man denkt: Verdammt, verdammt, das hätte alles anders laufen können.
"Für Leute, die das Virus leugnen, habe ich gar kein Verständnis mehr"
Meine Mama ist schon früh, mit 14, mit mir schwanger geworden. Ich war das erste von vier Kindern. Sie hat ihr ganzes Leben lang nie etwas für sich selbst getan, sondern alles nur für uns. Zusammen haben sich meine Eltern ein schönes Leben aufgebaut und haben ihre große Familie sehr genossen. In diesem Jahr wäre meine Mama noch viermal Uroma geworden.
Jetzt sind bereits vier Monate vergangen und die Traurigkeit liegt immer noch bleiern über uns. Wir können es nicht glauben. Besonders mein Vater leidet. Er vermisst sie sehr. Wir Geschwister sprechen jeden Tag mit ihm. Aber er ist einsam.
Für Leute, die das Virus leugnen, ungeschützt auf Demonstrationen gehen und skurrile Gedanken verbreiten, für die habe ich gar kein Verständnis mehr. Wenn ich solche Bilder sehe, will ich auf die Bühne stürmen und die Menschen anschreien: "Habt ihr sie noch alle?! Ich habe es erlebt, es gibt dieses Virus! Es macht dich kaputt!"
Ich weiß, es herrscht Versammlungsfreiheit. Aber ich wünschte mir, dass die Politik bei diesen Protesten härter durchgreift. Dass sie wenigstens sofort aufgelöst werden, sobald die Teilnehmer gegen Auflagen verstoßen. Sie sind gefährlich – und ein Schlag ins Gesicht jedes Hinterbliebenen.
Jens Armbruster: "Es gibt viele Tage, an denen will ich meinen Fernseher anschreien"
Jens Armbruster (39) hat seine Großmutter (87) verloren:
Es gibt viele Tage, an denen will ich meinen Fernseher anschreien. Da macht mich die Politik wahnsinnig wütend. Söder, Merkel, Spahn, Laschet, Kretschmann – es gibt zurzeit für mich keinen glaubwürdigen Politiker mehr. Keiner kann behaupten, dass er sich bemüht, so viele Leben zu retten wie möglich. Die Corona-Gedenkfeier mit Steinmeier ist da ein Hohn.
Meine Oma ist an Heiligabend gestorben. Mit 87, im Pflegeheim. Als ich klein war, hat sie auf mich aufgepasst, wenn meine Mutter arbeiten war. Sie hat mich großgezogen. Sie wollte selbst erst nicht ins Pflegeheim, ist da aber noch mal aufgeblüht. Im Rollstuhl ab zum Tratschen in den Speisesaal, das war ihr Ding.
Corona hat sie überfordert, ihr Angst gemacht. Es war für sie schwer zu begreifen. Sie hat das ganze letzte Jahr über abgebaut. Auch, weil sie oft niemanden treffen konnte. Wir haben uns in den letzten Tagen nicht getraut, sie zu besuchen. Infektionen ins Heim zu tragen oder auch noch meine Eltern zu gefährden – das waren meine absoluten Horrorszenarien. Heute frage ich mich, ob das ein Fehler war, weil dadurch die letzten möglichen Begegnungen ausgefallen sind.
"Im November gab es den ersten Ausbruch"
Im Heim meiner Oma gab es im Sommer immer wieder Infizierte, die Corona von außen eingetragen haben. Im November dann gab es den ersten, größeren Ausbruch. Die Pfleger haben daran keine Schuld. Die Wahrscheinlichkeit einer Einschleppung in den Heimen steigt einfach, wenn die Infektionszahlen insgesamt hochgehen. Es wäre im Herbst die Aufgabe der Politik gewesen, hohe Zahlen und damit die vielen Toten in Pflegeheimen zu verhindern. Vor allem so wenige Wochen vor der Impfung.
Die Politik führt jetzt schon seit Monaten eine Lockerungsdebatte. Obwohl die Zahlen so hoch sind. Obwohl die Mutationen voll unterwegs sind. Obwohl die Impfungen nicht schnell genug vorankommen. Obwohl die meisten Leute nicht einmal lockern wollen. Sie wollen geringe Fallzahlen und Sicherheit! Im Privatleben schränken sich so viele maximal ein – aber viele Büros und Geschäfte sind weiter voll, die Schulen geöffnet. Das ist ein fauliger Kompromiss.
Das, was die Politik tut und das, was die Politik behauptet, was sie tut, geht gerade so weit auseinander. Das ist für mich schwer auszuhalten. Das lässt mich oft verzweifeln. Sie sorgt für ein "Jeder kümmert sich um sich selbst". Ich wünschte, das würde aufhören. Ich wünschte, es würde endlich geben, was es für ein so großes Solidaritätsprojekt eben braucht: ein klar formuliertes Ziel und eine gemeinsame Strategie, die Bürger mitnimmt.
Markus Fleischer: "Verwunderlich, an was man alles nicht zerbrechen kann"
Markus Fleischer (50) hat seinen Vater (81) und seinen Schwiegervater (73) verloren:
Am 17. Dezember ist mein Vater im Pflegeheim an Corona gestorben. Zehn Tage später ist mein Schwiegervater mit Corona gestorben. Und am Heiligabend wurden meine Frau, mein Sohn und ich positiv getestet. Es ist verwunderlich, an was man alles nicht zerbrechen kann.
Ich bin Diakon und meine Frau ist Referentin für Trauer- und Hospizseelsorge und Trauerbegleiterin im Bistum Speyer. Wir hatten die Chance, gemeinsam meinen Vater und sie allein ihren Vater noch einmal zu sehen, bevor sie starben. In voller Schutzkleidung konnten wir von meinem Vater Abschied nehmen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Ich habe beim Sterbesegen die Hand meines Vaters gehalten und ihm gesagt: "Wir hatten es nicht immer leicht, aber jetzt ist alles gut." Da hat er meine Hand gedrückt. Ich habe gespürt: Er ist hier, er hat verstanden. Das war so ein wichtiger Moment. Ich habe mich schlecht gefühlt, dann zu gehen. Unser Platz wäre bis zum Ende an seiner Seite gewesen.
"Gottesdienste und Beerdigungen in Präsenz haben ihren Sinn"
Die Beerdigungen konnten erst nach unserer Quarantäne stattfinden, Mitte Januar. Wir haben alles so persönlich gehalten wie möglich. Wir haben die Urnen gemeinsam mit den Familien bemalt. Ich habe beide Beerdigungen selbst gehalten, habe gesungen und Gitarre gespielt. Es war ein schöner, würdiger Abschied, trotz allem.
Kraft haben uns in dieser Zeit vor allem unsere Freunde und Nachbarn gegeben. Sie haben für uns eingekauft und Carepakete vor die Tür gelegt, haben lange, sehr persönliche Briefe und Trauerkarten geschrieben oder angerufen. Das klingt nach Kleinigkeiten, aber das hat viel ausgemacht. Das hat uns getragen.
Den Blick dafür, dass es noch anderes als Moneten gibt – den wünsche ich mir zurzeit öfters. Dass es nicht um schnelle Lockerungen geht, sondern darum, Mitmenschen zu schützen. Und dass Menschen mehr brauchen als Geld auf dem Konto, dass auch Gottesdienste und Beerdigungen in Präsenz ihren Sinn haben. Dieser Spagat ist nicht leicht, aber ihn zu schaffen ist wichtig. Neben all dem Traurigen und Schlimmen gibt es vieles, für das wir dankbar sein können.
Karl Fuchs: "Von ihm abgeschnitten zu sein war das Schlimmste"
Karl Fuchs (59, Name von der Redaktion geändert) hat seinen Vater (84) verloren:
Mein Vater wurde Ende Oktober ins Krankenhaus eingeliefert. Eine Woche später war er tot.
Er hatte wie immer mal wieder Schwindelanfälle und Kreislaufprobleme – dieses Mal aber war es irgendwie anders. Im Krankenhaus wurde er positiv auf Corona getestet und sofort auf die Pandemiestation gebracht. Ab dann waren wir von ihm abgeschnitten. Komplett. Wir konnten nicht mal mit ihm telefonieren, denn das Telefon auf dem Zimmer und sein Handy waren kaputt. Wir konnten nur jeden Tag die Schwestern anrufen, um zu erfahren, wie es ihm geht.
Fünf Tage lang war er wohl richtig fit. Ist durch die Gänge gelaufen und wollte sich sogar selbst entlassen. "Blödsinn, ich bin nicht krank", hat er gesagt, sagen die Schwestern. Dann ging es ganz schnell.
Mein Vater war ein Genussmensch, ein sehr herzlicher Mensch. Ich habe mich von ihm immer verstanden gefühlt. Geliebt, genauso, wie ich bin. Er hatte gesundheitliche Probleme, ja. Aber er war einigermaßen fit. Gerade in den letzten Jahren hat er verstärkt den Kontakt gesucht. Es war noch lange nicht Zeit für ihn, zu gehen.
Von ihm abgeschnitten zu sein war das Schlimmste. Wir konnten uns ja nicht einmal verabschieden. Und wir haben deswegen so viele Fragen. Meine Schwester und mich hat das lange beschäftigt, wir haben viel diskutiert, auch recherchiert: Ist da vielleicht ein Fehler unterlaufen? Hätte er noch eine Chance gehabt, wenn er beatmet worden wäre? Inzwischen habe ich für mich den Schluss gezogen: Es hilft nichts. Es macht ihn nicht wieder lebendig.
"Die Menschen sollten aufhören, sich zu zerfleischen"
Der Politik mache ich keinen Vorwurf. Vor denen, die in dieser Krise die Entscheidungen treffen, habe ich alle Hochachtung. Genauso viel Respekt wie vor den Angestellten in den Krankenhäusern. Die hatten alle seit zwölf, dreizehn Monaten keinen freien Tag. Sie leisten Großes. Dass Fehler passieren, ist nicht schön, aber gar nicht zu vermeiden.
Viel mehr stören mich die, die gerade entspannt zu Hause auf ihrem Hintern sitzen und große Töne spucken. Ein Volk von 80 Millionen Virologen – das ist schlimmer als bei jeder WM, wenn 80 Millionen Fußballtrainer zugucken.
Die Menschen sollten aufhören, sich zu zerfleischen. Und sich alle mal wieder auf das Wesentliche konzentrieren: Jeder kann hier ganz einfach seinen Beitrag leisten, einen ganz kleinen Teil – indem er sich an die Regeln hält.
- Gespräche mit den vier Angehörigen