Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kampf gegen Corona Versagen made in Germany
Schleppende Impfkampagne, fehlende Schnelltests – mit jedem Tag schwindet das Urvertrauen, dass unser Staat im Kern gut funktioniert, ein bisschen mehr. Worin liegen die Ursachen für das deutsche Chaos?
Vor ein paar Wochen stand die EU-Kommission massiv unter Druck, weil sie beim Bestellen der Impfstoffe zu kleingeistig vorgegangen war. Zwar bekommen die Mitgliedsstaaten ausreichend Impfstoff, aber eben viel später als etwa die USA, Großbritannien oder Israel. In den europäischen Ländern kommt er vorläufig nur tröpfchenweise an.
Für die Bundesregierung war die Lage da noch angenehm. Zwar trug sie für die verkorkste EU-Bestellpolitik eine Mitverantwortung, aber es blickten mehr Menschen kritisch nach Brüssel als nach Berlin.
Das hat sich geändert: Denn Deutschland verteilt nicht einmal den wenigen Impfstoff, den es gibt, schnellstmöglich. Millionen Dosen liegen ungenutzt herum. Außerdem fehlt es bislang an ausreichend Schnelltests, mit denen die Lockerung der Corona-Maßnahmen eigentlich begleitet werden sollte.
In Sachen Mangelverwaltung könnte die Bundesrepublik wahrscheinlich viel von der DDR lernen.
Deutschland hat ohne Zweifel viele Stärken: Unter anderem federn wir die ökonomischen Folgen der Krise gut ab. Doch die Pandemie hat bereits im vergangenen Jahr diverse Schwächen offengelegt – von der schleppenden Digitalisierung bis zum lähmenden Föderalismus.
Das Frühjahr 2021 deckt nun allerdings grundlegende Defizite von Staat und Verwaltung auf. Das gilt für die EU genauso, aber eben auch für die Bundesländer und den Bund.
Wir erleben Versagen made in Germany.
Aber warum scheitert unsere Bürokratie, die sich gern mal für die beste der Welt hält, gerade?
Wieso hilft es der Politik im Moment nicht, dass dieses Land im Vergleich zu vielen anderen in den vergangenen Jahrzehnten ganz gut regiert wurde?
Mögliche Antworten darauf gibt es viele. Hier sind drei Erklärungsansätze.
Erstens: Wir agieren viel zu unflexibel
Die deutsche Verwaltung ist recht groß und arbeitet eher langsam. Aber in normalen Zeiten produziert sie durchaus Ergebnisse. Sie ist also nicht unbedingt effizient, jedoch halbwegs effektiv.
Allerdings erleben wir derzeit die größte Krise der vergangenen 100 Jahre (außerhalb von Kriegszeiten). Da reicht das Prinzip "Hauptsache irgendwann ein Ergebnis" nicht. Da muss ein Staat, der für sich beansprucht, ausgesprochen leistungsfähig zu sein, auch wirklich besondere Leistungen erbringen.
Das tut er derzeit leider nicht. Das jüngste Beispiel: Kanzlerin und Ministerpräsidenten einigten sich am Mittwoch darauf, nun eine Taskforce zu gründen, die sich um die Beschaffung der Schnelltests kümmern soll. Bis die Ergebnisse produziert, könnte es dauern.
Wie es besser geht, zeigt der Markt: Ab Samstag soll es bei den ersten Händlern Schnelltests geben. Es wäre also vielleicht nicht die schlechteste Idee, wenn die Taskforce nur eine Entscheidung träfe: Ihre Aufgabe an Aldi, dm und andere abzutreten.
Uns wird gerade zum Verhängnis, dass wir einen öffentlichen Dienst haben, der darauf konditioniert ist, Gesetze und Verordnungen möglichst unfallfrei zu schreiben und Bescheide zu produzieren. Mit operativen Herausforderungen ist er erkennbar überfordert.
Da ist es nur ein schwacher Trost für Bund und Länder, dass sie mit der EU das gleiche Schicksal teilen: Die Brüsseler Kommission verhandelte die Beschaffung von Impfstoffen wie ein Freihandelsabkommen. Sie wollte für Europa das Maximale herausholen. Also kaufte sie Produkte möglichst günstig und mit möglichst wenig Haftungsrisiken. Was dabei auf der Strecke blieb, war das Tempo. Aber Schnelligkeit ist in außergewöhnlichen Krisen ein entscheidender Faktor.
Es spricht einiges dafür, dass es der deutschen Verwaltung im Moment auch nicht gerade hilft, dass sie von Juristen dominiert wird. Weil diese alles hinterfragen und viele Bedenken äußern, legen sie Prozesse eben auch lahm. Zumal unsere Bürokratie eh schon darauf konditioniert ist, nur keine Fehler zu machen. Deshalb wird lieber nichts getan als etwas ausprobiert. Und wer mal etwas wagt, tut dies möglichst im vorgegebenen Rahmen. Bloß keine Experimente.
Was mehr denn je gebraucht würde, ist flexibles – oder wie man neudeutsch sagt: agiles – Arbeiten. Also zum Beispiel auch einfach mal etwas auszuprobieren.
Was das sein könnte? Nicht Termine verfallen zu lassen (siehe Screenshot), sondern zum Beispiel in jedem Impfzentrum eine Impfstraße für all jene öffnen, die sich mit dem Produkt von Astrazeneca zufriedengeben. Das Problem ließe sich – was für viele in der Verwaltung wahrscheinlich völlig crazy klingt – natürlich auch digital lösen: Jeder kann sich binnen einer Woche online registrieren. Dann werden die Termine vergeben. Punkt.
Statt endlos über die Gefahr von Ansteckungsrisiken in Innenräumen zu diskutieren, ließen sich zum Beispiel in den Städten ab April auch bestimmte Straßen sperren, auf denen die Gastronomen dann Tische und Stühle aufstellen könnten.
Ob das klappt? Vielleicht nicht, wahrscheinlich aber ja. Doch statt pragmatischer Lösungen produziert der Staat lieber lebensfremde wie die verpflichtende Terminvereinbarung fürs Shoppen. Wer mag sich schon einen Slot im Laden reservieren, dann nur mal herumgucken und ihn unverrichteter Dinge wieder verlassen?
Zweitens: Wir wollen es immer allen recht machen
Halbgare Lösungen produzieren wir auch deshalb, weil die Politik immer alle mitnehmen will. Bloß niemanden verprellen, so die Devise. Deshalb gab es bei uns auch nie einen wirklich harten Lockdown. Dabei hätten uns kürzere, strengere Maßnahmen möglicherweise vier quälende Monate ohne die erhoffte Zielerreichung ersparen können.
Auch beim Impfen wollen wir es allen recht machen. Klar, irgendjemand wird mäkeln, wenn sich alle mit dem Produkt von Astrazeneca impfen lassen können. Und einige werden schneller sein als andere. Wirklich gerecht ist das nicht. Aber ist es nicht am ungerechtesten, wenn wir knappen Impfstoff herumliegen lassen?
Wir begehen in der öffentlichen Debatte auch häufig den Fehler, dass wir allen Argumenten einen vergleichbaren Stellenwert einräumen. Dürften etwa Gastronomen freigeräumte Straßen nutzen, würde sich bestimmt irgendeiner beklagen, er habe ja gar nicht genug Stühle. Und es würde sich sicherlich auch ein selbst ernannter Experte finden, der vor den Gefahren von Regenschauern beim Kaffeetrinken warnt. Aber statt sich das alles endlos anzuhören: Würde es nicht viel mehr Menschen optimistischer stimmen, wenn wir sagten "Wir machen das jetzt einfach"?
Drittens: Es fehlt uns an politischer Führung
Es gibt sie durchaus, die Labore, in denen etwas ausprobiert wird. Rostock etwa. Oder Tübingen. Das kommt nicht von ungefähr. Denn dort regieren zupackende Oberbürgermeister. Sie reden nicht nur, sondern geben ein Ziel vor, machen Druck, setzen sich gegen Bedenkenträger durch. Das nennt sich übrigens politische Führung.
An der mangelt es auch in einigen Bundesländern, die ja für das Impfchaos mitverantwortlich sind. Aber im Moment eben auch auf Bundesebene.
Angela Merkel verweist zu Recht immer wieder auf die Höhe der Inzidenzen, die Verbreitung der Mutationen und andere Gefahren. Aber sie hat bislang nicht wirklich den Eindruck vermittelt, als kümmere sie sich mit vergleichbarer Verve ums Impfen.
Natürlich ist ihr Handlungsspielraum im föderalen System begrenzt. Aber die meisten Bürger warten eher auf ein Signal der Kanzlerin als der Ministerpräsidenten, die eigentlich fürs Impfen zuständig sind. Deshalb wäre es wohl besser, wenn Angela Merkel nicht die bescheidene Performance schönredete, sondern die Probleme benennen und dann mit allen Beteiligten schnelle und pragmatische Lösungen besprechen würde.
Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wirkt nicht so, als klemme er sich so gut es eben geht dahinter, dass rasch Schnelltests vorhanden sind und bald deutlich mehr geimpft wird.
Möglichkeiten, auch mal durchzugreifen, gäbe es für ihn genug: Am vergangenen Freitag bedauerte der Chef der Ständigen Impfkommission mit Blick auf den Impfstoff von Astrazeneca: "Das Ganze ist irgendwie schlecht gelaufen." Er kündigte an, das Gremium werde seine Empfehlung, den Impfstoff nur an bis zu 64-Jährige zu verimpfen, überarbeiten. Die Stellungnahme war am Mittwoch fertig – also fünf Tage später. Das "vorgeschriebene Stellungnahmeverfahren" steht aber noch aus. Das kann und darf nicht sein.
Und da schließt sich wieder der Kreis zur EU: Warum die europäische Arzneimittelbehörde so viel länger für die Zulassung von Impfstoffen braucht als andere Regionen der Welt, mag sich im Kleinklein begründen lassen. Aber es wirkt eben nicht so, als hätten die Verantwortlichen die Größe der Aufgabe wirklich erkannt.
Die aktuelle Situation ist brandgefährlich
Natürlich sind alle Spitzenpolitiker nach einem Jahr Corona-Krise erschöpft und ausgelaugt. So wie die meisten Bürger. Doch das ändert nichts daran, dass die aktuelle Situation für die Politik und letztlich auch für unsere Demokratie brandgefährlich ist.
Gerade setzt sich bei vielen Menschen der Eindruck fest, die Regierung tue nur so, als würde sie regieren. Und mit jedem Tag geht das Urvertrauen, dass unser Staat im Kern gut funktioniert, ein bisschen mehr verloren. Das ist vor allem für die Union ein Problem, deren Markenkern "gutes Regieren" lautet. Aber auch für die SPD, da ihr Kanzlerkandidat Olaf Scholz ebenfalls genau dafür steht.
Wenn wir den Kampf gegen das Coronavirus nicht endlich besser organisiert bekommen, kann im Innern wirklich etwas kaputtgehen. Vom internationalen Reputationsschaden ganz abgesehen. Politiker erzählen bereits von Anrufern aus dem Ausland, die ungläubig sagen: "Dass wir das mit dem Impfen nicht hinbekommen, überrascht mich nicht. Aber dass ihr es nicht hinkriegt, ist ein Schock."
- Eigene Recherchen