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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Appell Hunderte Wissenschaftler: "Lockert nicht zu früh, sonst verspielt ihr den Erfolg!"
Keine Strategie in der Corona-Krise? Hunderte Wissenschaftler legen jetzt einen Plan vor: Erst einmal keine Lockerungen – um das Virus dann aber richtig in den Griff zu bekommen! Mit drastisch gedrückten Zahlen
Hunderte Wissenschaftler aus ganz Europa fordern in einem gemeinsamen Appell, an strengen Maßnahmen festzuhalten, um die Infektionszahlen deutlich zu drücken. "Lancet", eine der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften, hat in der Nacht zu Samstag ihr Papier veröffentlicht, das eine Diskussion auslösen wird: Es ist der "Aufruf zu europaweitem Engagement für eine schnelle und nachhaltige Reduzierung der SARS-CoV-2-Infektionen". Es heißt dort: "Wenn wir nicht jetzt entschlossen handeln, ist mit weiteren Infektionswellen zu rechnen, und als Konsequenz mit weiteren Schäden für Gesundheit, Gesellschaft, Arbeitsplätze und Betriebe." Und im Umkehrschluss: Die Zahlen zu drücken, hilft allen.
Das Papier rät der Politik faktisch, Schließungen für einen längeren Zeitraum einzuplanen und mit Lockerungen zu warten. Dann soll weiter intensiv getestet werden. Das über allem stehende Ziel: Die Infektionen schnell auf ein so niedriges Niveau zu bringen, dass sich Infektionsketten kontrollieren und unterbrechen lassen und es dann nicht zu weiteren Wellen kommt. Die Initiatorin des Aufrufs, Viola Priesemann, ist beim Max-Planck-Institut in Göttingen Expertin für Modellrechnungen zur Ausbreitung und Eindämmung von Pandemien. Sie fasst zusammen: "Lockert nicht zu früh, sonst verspielt ihr den Erfolg!" Mit einer klaren Zielvorgabe ließen sich die Menschen auch weiterhin zum Mitmachen gewinnen.
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Für den Appell hat Priesemann renommierte Wissenschaftler diverser Fachrichtungen aus ganz Europa als Mitunterzeichner gefunden. Deutschland ist am prominentesten besetzt: Die Präsidenten der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der großen Wissenschaftsorganisationen haben unterzeichnet. Es findet sich auch der Name von Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts und damit Chef der obersten deutschen Seuchenbekämpfungsbehörde. Stellung nehmen wollte das RKI dazu nicht.
"Niedrige Fallzahlen bedeuten mehr Freiheiten"
Neben Christian Drosten haben auch etliche weitere bekannte Virologinnen und Virologen unterzeichnet. Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und im Beraterkreis des Bundeswirtschaftsministeriums, ist der prominenteste Wirtschaftswissenschaftler unter den Unterstützern. Das Papier verweist auch darauf, dass Länder wie China und Australien gezeigt hätten, dass sich Volkswirtschaften rasch erholen, sobald die Verbreitung des Virus stark reduziert oder gestoppt ist. "Niedrige Fallzahlen sichern Arbeitsplätze und Unternehmen."
Physikerin Viola Priesemann verglich die Pandemie in einem Pressegespräch des Science Media Centers mit einem Fußballspiel, das nach unfairen Regeln gespielt wird: "Das Virus-Team bekommt für jedes erzielte Tor drei zusätzliche Spieler." Soll bedeuten: Wer das Virus spielen lässt, sieht sich schnell einer Übermacht gegenüber, die nicht mehr zu verteidigen ist. Und wer die Virus-Mannschaft dezimiert und in Schach halten kann, kann dann auch verschnaufen. "Bei niedrigen Fallzahlen haben wir mehr Freiheiten." Der Lockdown light in Deutschland sei zwar einen Versuch wert gewesen. "Spätestens Mitte, Ende November hätte man sich überlegen müssen: ganz oder gar nicht."
Mitunterzeichnerin Isabella Eckerle, deutsche Professorin am Zentrum für neu auftretende Viruskrankheiten in Genf, beklagt, derzeit sei die Situation am schlimmsten, "weil keiner weiß, wo wir hinwollen". Knackpunkt sei nun, es anzupacken, "weil einige der Maßnahmen unpopulär sind." Wenn man die anspreche, stoße man natürlich auf Widerstand.
Halbierung jede Woche
Der Appell vermeidet es aber auch, die schmerzhaften Einschnitte wie Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen direkt zu nennen: Die Rede ist von "entschlossenem Handeln" und "tiefgreifenden Interventionen", die sich als effizient erwiesen hätten. "Sie stellen das rasche Erreichen niedriger Fallzahlen bei kurzdauernder Belastung von Psyche und Volkswirtschaft sicher." Initiatorin Priesemann sagte auf Nachfrage: Idealerweise werde zum Bündel aller Maßnahmen gegriffen, und die seien alle bekannt.
So könne man es schaffen, den R-Wert auf 0,7 zu senken, wie andere Länder in der Pandemie bereits gezeigt hätten. "Diese Länder haben all das umgesetzt, was empfohlen wurde", sagt Isabella Eckerle. Wenn es gelinge, den Wert zu erreichen, halbiere sich die Zahl der Fälle pro Woche. In dem Szenario könnten dann Kreise mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 nach zwei Wochen bei 50 ankommen. Nur unterhalb dieser Marke haben Gesundheitsämter wieder die Chance, die Infektionsketten wirksam nachzuverfolgen und zu unterbrechen.
Danach sollten Eindämmungsmaßnahmen wie das Tragen von Masken, erhöhte Hygiene, moderate Kontaktreduzierung, Tests und Kontaktverfolgung fortgesetzt und verbessert werden. Denn das Ziel in dem Papier ist noch weit ehrgeiziger: eine Sieben-Tage-Inzidenz von maximal sieben. Das wäre quasi eine Strategie von CovidZero – so gut wie keine Fälle mehr, wie es in China der Fall ist. "Dieses kann in ganz Europa spätestens im Frühjahr wieder erreicht werden."
"Eventuell sieht das eine Handvoll Leute anders"
Das ginge aber nur, wenn alle europäischen Länder abgestimmt handeln. Der Appell kommt deshalb von Wissenschaftlern aus ganz Europa und fordert ein einheitliches Vorgehen: Sonst drohe ein Ping-Pong, wenn jeweils in der Nachbarschaft die Fallzahlen viel höher seien. Koordination erlaube, europäische Grenzen offen zu lassen.
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Die Wissenschaftler wissen aber auch: Nicht alle Kollegen halten sehr niedrige Zahlen für nötig. Physikerin Priesemann nannte keine Namen, sagte zu t-online: "Eventuell gibt es eine Handvoll Leute in Deutschland, die das Ziel anders sehen. Die sollte man fragen, was der Vorteil von hohen Fallzahlen ist. Es gibt aber nur Nachteile – für Gesundheit, Sozialleben und Wirtschaft."
Der Bonner Virologe Hendrik Streeck fehlte zunächst unter den Erstunterzeichner, er hatte immer wieder gesagt, dass Infektionszahlen zu wichtig genommen würden und auch 20.000 Neuinfektionen pro Tag im Grunde keine Angst machen sollten. Er findet sich aber wie Jonas Schmidt-Chanasit inzwischen auch unter den Unterzeichnern. "Das freut mich sehr", so Priesemann. Das Einverständnis sei wie bei einigen anderen gekommen, nachdem "The Lancet" bereits die Liste übermittelt worden sei.
Streeck twitterte am Montag: "Alle wollen in der Pandemie dasselbe erreichen: Wenig Infektionen, keine schweren Verläufe, keine Kollateralschäden. Ansichten ändern sich mit Wissensstand." Der Lockdown sei wichtig, um die Infektionszahlen runterzubringen. Es solle die Zeit zum Schutz von Risikogruppen genutzt werden.*
Bei hohen Fallzahlen spielen auch Schulen eine große Rolle für Infektionen, Schließungen haben offenbar erheblichen Effekt auf die Eindämmung. Eckerle, die zur Rolle von Kindern bei der Übertragung forscht: "Gerade, wenn einem die Kinder am Herzen liegen, müssen die Fallzahlen runter. Dann müssen Schulen nicht schließen."
Und die sofort spürbaren Lockdown-Folgen? Die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack von der Uni Wien forscht in Österreich zur Einstellung der Menschen in der Pandemie, gehört der österreichischen Bioethikkommission an. Dort ist gerade der dritte Lockdown beschlossen worden. Sie sagt: "Wir brauchen die strengen Maßnahmen, und wir müssen die Menschen unterstützen. Wir sprechen zu wenig über die Menschen, die die Kosten tragen." Aus ihrer Forschung ergebe sich auch: "Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass klar kommuniziert wird, dann sind sie auch bereit, Dinge mitzutragen, die sie eigentlich nicht gut finden."
Einen griffigen Namen hat das Statement der Politiker nicht. "Wir könnten es PEPP nennen – Pan-European Position Paper", sagt Priesemann. Und dann hoffen, mit PEPP aus der Krise zu kommen.
*Der Text ist an dieser Stelle damit aktualisiert, dass auch Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit zu den Unterzeichnern gehören.
- Pressegespräch mit Viola Priesemann, Isabella Eckerle und Barbara Prainsack
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