Im Wortlaut Der Corona-Appell: So beschreiben die Wissenschaftler ihr Ziel
Hunderte Wissenschaftler haben ihn unterzeichnet: Mit ihrem Appell drängen die Experten aus verschiedenen Fachrichtungen auf das Ziel, die Zahl der Neuinfektionen drastisch und dauerhaft zu reduzieren. t-online dokumentiert den Aufruf.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa fordern eine europäische Strategie mit dem Ziel (Lesen Sie mehr dazu hier). Der Aufruf ist auch auf der Seite containcovid-pan.eu veröffentlicht, wo auch die Liste der Unterzeichner zu finden ist und sich weitere Unterstützer eintragen können. Die Einträge werden manuell geprüft. Hier ist der Aufruf im Wortlaut:
Aufruf zu europaweitem Engagement für eine schnelle und nachhaltige Reduzierung der SARS-CoV-2-Infektionen
In allen Ländern Europas führt die COVID-19 Pandemie zu vermehrten Todesfällen, belastet die Gesellschaften, ihre Gesundheitssysteme und beeinträchtig ihre Volkswirtschaften. Bislang haben die Regierungen in Europa keine gemeinsame Vision für den Umgang mit der COVID-19-Pandemie entwickelt. Es liegt überwältigende wissenschaftliche Evidenz dafür vor, dass nicht nur für die öffentliche Gesundheit, sondern auch für die Gesellschaften und Volkswirtschaften niedrige COVID-19 Fallzahlen von großem Nutzen sind.
Auch wenn Impfstoffe helfen werden, das Virus unter Kontrolle zu bringen, ist damit nicht vor Ende 2021 zu rechnen. Wenn wir nicht jetzt entschlossen handeln, ist mit weiteren Infektionswellen zu rechnen, und als Konsequenz mit weiteren Schäden für Gesundheit, Gesellschaft, Arbeitsplätze und Betriebe. Angesichts offener Grenzen kann jedoch kein Land allein die Infektionszahlen niedrig halten, daher sind gerade gemeinsame Ziele und gemeinsames Handeln essentiell. Wir fordern daher eine starke, koordinierte europäische Antwort mit klar definierten mittel- und langfristigen Zielen.
Die oberste Prämisse sollte sein, in ganz Europa niedrige Fallzahlen zu erreichen und zu erhalten:
- Niedrige Fallzahlen retten Leben: Weniger Menschen müssen aufgrund schweren Verlaufs sterben oder an möglichen Langzeitfolgen durch COVID-19 leiden. Zudem müssen medizinische Ressourcen nicht von anderen Krankheiten abgezogen werden.
- Niedrige Fallzahlen sichern Arbeitsplätze und Unternehmen: Die wirtschaftlichen Folgen hängen unmittelbar davon ab, wie sich das Virus in der Bevölkerung ausbreitet. Länder wie China und Australien haben gezeigt, dass sich Volkswirtschaften rasch erholen, sobald die Verbreitung des Virus stark reduziert oder gestoppt ist. Umgekehrt steigen die wirtschaftlichen Kosten von Lockdowns mit ihrer Dauer.
- Bei niedrigen Fallzahlen kann die Ausbreitung effektiver kontrolliert werden: Die Kapazitäten für Tests und Rückverfolgung sind begrenzt, und die so genannte „Test-Trace-Isolate-Support“-Strategie (TTIS) führt nur bei niedrigen Fallzahlen schnell und effizient zur Eindämmung der Virusverbreitung. Bei geringen Fallzahlen reichen sanfte aber gezielte physische Distanzierungsmaßnahmen aus, Schulen und Betriebe können geöffnet bleiben. Beschränkungen zu lockern und damit höhere Fallzahlen in Kauf zu nehmen, ist hingegen eine kurzsichtige Strategie, die zu weiteren Wellen und damit zu höheren Kosten für die Gesellschaft insgesamt führen wird.
- Kontaktnachverfolgung und Quarantäne sind bei hohen Fallzahlen nicht durchführbar: Nehmen wir an, in einem Land gibt es täglich 300 neue Fälle pro Million EinwohnerInnen, zehn Kontakte pro Fall und zehn Tage Quarantäne – dann müssten ständig drei Prozent der Bevölkerung in Quarantäne sein. Das würde zu einer starken Reduktion der Arbeitskraft führen.
- Eine natürlich erworbene Immunität der Bevölkerung ist keine Option: Bei COVID-Erkrankten gibt es eine hohe Morbidität und Mortalität, die sich auch in der aktuellen Übersterblichkeit widerspiegelt. Zudem ist bisher nicht bekannt, wie lange eine erworbene Immunität anhält.
- Niedrige Fallzahlen erlauben Planbarkeit: Die Politik muss nicht überhastete, plötzliche Änderungen beschließen, was den wirtschaftlichen Schaden ebenso wie die Verunsicherung und psychische Belastung der Bevölkerung reduziert. Sollten die Fallzahlen stark steigen, müssen präventive Maßnahmen entschlossen ergriffen werden, um diese wieder zu senken – je früher, desto besser.
Um den Umgang mit der COVID-19 Pandemie zu verbessern, schlagen wir daher eine gesamteuropäische Strategie vor, die folgende drei Kernelemente enthalten sollte:
1. Rasch niedrige Fallzahlen erreichen
(i) Anzustreben sind maximal zehn neue COVID-19-Fälle pro Million Menschen pro Tag. Dieses Ziel wurde in vielen Ländern erreicht und kann in ganz Europa spätestens im Frühjahr wieder erreicht werden.
(ii) Um die Fallzahlen schnell zu reduzieren, braucht es entschlossenes Handeln. Tiefgreifende Interventionen haben sich als effizient erwiesen. Sie stellen das rasche Erreichen niedriger Fallzahlen bei kurzdauernder Belastung von Psyche und Volkswirtschaft sicher.
(iii) Um einen Ping-Pong-Effekt von importierten und re-importierten COVID-Infektionen zu vermeiden, sollten die Bemühungen um niedrige Fallzahlenin allen europäischen Ländern synchronisiert sein und so schnell wie möglich beginnen. Die Koordination der Maßnahmen erlaubt, dass die europäischen Grenzen offenbleiben können.
2. Fallzahlen niedrig halten
(i) Sobald die Fallzahlen niedrig sind, können die Beschränkungen – unter sorgfältiger Überwachung – gelockert werden. Eindämmungsmaßnahmen wie das Tragen von Masken, erhöhte Hygiene, moderate Kontaktreduzierung, Tests und Contact Tracing sollten fortgesetzt und verbessert werden.
(ii) Auch bei niedrigen Fallzahlen sollte es eine Überwachungsstrategie geben – mindestens 300 Tests pro Million EinwohnerInnen pro Tag. Damit kann ein Anstieg der Fallzahlen rechtzeitig erkannt werden.
(iii) Lokale Ausbrüche erfordern eine schnelle und rigorose Reaktion mit Reisebeschränkungen, gezielten Tests und möglicherweise regionalen Absperrungen, bis die Zielvorgabe wieder erreicht ist.
3. Eine gemeinsame, langfristige Vision entwickeln
Wichtig ist die Entwicklung von kontextabhängigen regionalen und nationalen Aktionsplänen, sowie von Zielen auf europäischer Ebene, abgestuft nach der Zahl der COVID-19-Fälle. Zudem bedarf es der Entwicklung von Strategien zum Screening, zu Impfungen, zur Eliminierung (sofern sie in Reichweite kommt), zum Schutz von Risikogruppen und zur Unterstützung derer, die am stärksten von der Pandemie betroffen sind.
Es ist entscheidend, das Ziel und den Vorteil von niedrigen Fallzahlen klar zu kommunizieren, um die Mitwirkung der Öffentlichkeit zu sichern: Der Erfolg aller Maßnahmen hängt entscheidend von der Kooperation und Beteiligung der Bevölkerung ab. Werden die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile niedriger Fallzahlen klar kommuniziert, wird das die Kooperationsbereitschaft stark erhöhen.
Die Kontrolle von COVID-19 wird einfacher werden: In naher Zukunft werden eine steigende Immunisierung, mehr Tests und ein verbessertes Verständnis der Eindämmungsstrategien die Kontrolle der Pandemie weiter erleichtern.