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Rekonstruktion der Corona-Krise: Wie Deutschland in die Katastrophe schlitterte


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Rekonstruktion der dramatischen Monate
Wie Deutschland in die Corona-Katastrophe schlitterte


Aktualisiert am 13.12.2020Lesedauer: 12 Min.
Markus Söder, Angela Merkel und Peter Tschentscher nach einer weiteren Bund-Länder-Runde: Die Lage wird schlechter, mit einer Hotspot-Strategie will man ihr Herr werden.Vergrößern des Bildes
Markus Söder, Angela Merkel und Peter Tschentscher nach einer weiteren Bund-Länder-Runde: Die Lage wird schlechter, mit einer Hotspot-Strategie will man ihr Herr werden. (Quelle: imago-images-bilder)

Nach Monaten des Zauderns und Zögerns versucht die Politik, doch noch die Kontrolle über die Krise zurückzugewinnen. Aber warum ist so lange so wenig passiert? Eine Rekonstruktion.

Jetzt geht es einfach nicht mehr anders. Kanzlerin Angela Merkel und die 16 Ministerpräsidenten werden den dritten Advent in einer Krisensitzung verbringen. Scheinwerfer statt Kerzenlicht. Stuhl statt Sofa. Kollegen statt Familie.

Das Coronavirus schert sich eben nicht um Weihnachtstraditionen.

Der Druck ist gewaltig. Während in anderen Ländern über Lockerungen diskutiert wird, fällt in Deutschland ein Corona-Rekord nach dem anderen: Am Freitag meldeten die Gesundheitsämter fast 30.000 neue Fälle und fast 600 Tote. Am Samstag sah es nicht viel besser aus.

Setzt sich der Trend fort, ist das gefürchtete exponentielle Wachstum zurück. Was eben auch bedeutet: Nach 40 Tagen "Lockdown light" ist die Situation schlechter als zuvor. Und die Feiertage, an denen Millionen Menschen durch die Republik reisen, kommen erst noch.

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Schon jetzt ist klar, dass es nun einen "harten Lockdown" geben soll, dieses Mal also wirklich Ernst gemacht wird. Es zeichnet sich sogar ab, dass die Politik die Wissenschaft überholt: Die Experten der Leopoldina hatten einen solchen Schritt für die Zeit ab Weihnachten gefordert, nun scheint ein viel früheres Runterfahren des Landes wahrscheinlich.

Das Wann ist dabei mindestens so entscheidend wie das Wie. Nicht nur wegen der Familienfeiern, sondern wegen der simplen Mathematik. In vielen Regionen ist die Lage außer Kontrolle. Je eher eingegriffen wird, desto größer ist die Chance, sie zu stabilisieren.

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Je früher, desto besser. Das ist die einfache Regel der Corona-Pandemie. Zumindest theoretisch. Denn in der Praxis wurde sie in den vergangenen Monaten immer wieder gebrochen.

Das liegt natürlich auch daran, dass es in Deutschland schwieriger ist, rigorose Maßnahmen durchzusetzen als in China. Es hat aber eben auch damit zu tun, dass zu viele Politiker und Bürger zu lange einem Selbstbetrug aufgesessen sind. Deutschland kommt eben längst nicht mehr vergleichsweise gut durch die Krise.

Warum das so ist?

Wer zurückblickt, was Bund und Länder seit Ausbruch der Pandemie in all ihren Runden beschlossen haben, stößt eben auch auf eine Erzählung, die zumindest in Teilen lautet: zu wenig, zu spät.

22. März: Deutschland macht erstmal dicht

Im Frühjahr erarbeitet sich Deutschland einen gewaltigen Vorsprung. Rückblickend wohl weniger durch eigenes Zutun als durch Glück. Aber immerhin.

Andere europäische Länder sind viel früher und viel heftiger von der Pandemie betroffen. Die schrecklichen Bilder aus Norditalien, wo es völlig überlastete Krankenhäuser gibt und Leichen nachts von Militärfahrzeugen abtransportiert werden müssen, sorgen dafür, dass die Deutschen bereits Anfang März ihr Verhalten ändern, weniger shoppen gehen oder sich mit Freunden treffen.

Auch deshalb kommen Kanzlerin und Ministerpräsidenten, als sie sich vier Tage nach der Fernsehansprache Angela Merkels am 18. März treffen, ohne den ganz großen Lockdown-Hammer aus – also ohne Ausgangsbeschränkungen, die woanders teils Monate bestehen. Dabei fällt der TV-Appell der Kanzlerin deutlich aus: Von einer Herausforderung von "historischem Ausmaß" spricht sie.

So viel Corona-Angst und -Einigkeit wie in dieser Zeit kommt nie wieder. Und genau das wird noch zum Problem. Denn es tritt zunehmend das auf, was Experten das Präventionsparadox nennen: Weil die Maßnahmen gegen das Virus wirken, denken viele, Corona sei doch gar nicht so schlimm.

Nicht nur die Skepsis in der Bevölkerung nimmt zu. Wohl auch manch einen Länderchef treibt zunehmend die Frage um, ob man nicht vielleicht doch überreagiert habe. Zumindest kann es den Ministerpräsidenten ab der zweiten April-Hälfte nicht schnell genug gehen mit Lockerungen. Zwischen ihnen entsteht ein Wettrennen, wer seinen Bürgern am schnellsten die meisten Freiheiten zurückgibt. Auch dieses Mal gilt: Je früher, desto besser. Nur eben umgekehrt.

Dass Angela Merkel bereits frühzeitig von "Öffnungsdiskussionsorgien" spricht und bei nachlassender Disziplin vor einem Rückfall warnt, wird nicht zu ihren Gunsten ausgelegt. Vielmehr wirkt sie wie die übervorsichtige Mahnerin, der immer weniger Ministerpräsidenten und Bürger folgen. Bei den Video-Schalten zwischen Kanzlerin und Länderchefs werden deshalb viele Lockerungen beschlossen.

Schon bald, so scheint es, ist Corona fast vergessen.

17. Juni: War doch alles nicht so schlimm

Entsprechend entspannt ist die Stimmung bei den meisten, als sich Angela Merkel und die Ministerpräsidenten Mitte Juni zum ersten Mal nach mehr als drei Monaten wieder persönlich in Berlin treffen. Klar, es gibt ein paar Hinweise, dass die Zeiten doch nicht ganz normal sind. Masken etwa, so der Beschluss, sollen weiter getragen werden. Und Großveranstaltungen soll es frühestens wieder im November geben.

Aber die wichtigsten Signale lauten: Die Sommerferien werden fast wie immer sein, zumal die Grenzen innerhalb des Schengen-Raums inzwischen wieder offen sind. Und spätestens nach den Ferien sollen Schulen und Kitas zum Regelbetrieb zurückkehren.

Wer wie die vorsichtige Kanzlerin noch immer mahnt, muss schon froh sein, nicht ausgelacht zu werden.

Denn im Sommer möchte Deutschland einfach kollektiv durchatmen. Die Sonne scheint, das Bier schmeckt – und die Corona-Zahlen bleiben niedrig.

Die Lage ist vielerorts tatsächlich unproblematisch. Nur einzelne große Ausbrüche stören das Bild des schönen Corona-Sommers. Aber auch die sind gefühlt weit weg. Deutschland diskutiert darüber, wie sich die Infektionen in Hotspots beherrschen lassen. Und noch mehr darüber, wie schlimm die Arbeitsbedingungen in den Schlachtstraßen von Tönnies sind.

Niemand kümmert sich so recht darum, was eigentlich passiert, wenn der Sommer vorbei ist: Was mit den Urlaubern passiert, die das Coronavirus als Andenken aus Spanien oder vom Balkan mitbringen. Oder was sich eigentlich in den Schulen tun müsste, damit sie im Herbst ausreichend lüften oder zur Not eben doch auf Distanzunterricht umschalten können.

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27. August: Lasst uns den Sommer genießen

Entsprechend tauchen die Worte Urlaub und Schulen im Beschluss der Videoschalte zwischen Angela Merkel und den Ministerpräsidenten Ende August kaum auf – und dann sind sie auch noch in Sätze verpackt, die kaum Konsequenzen haben: So wird versprochen, dass Reiserückkehrer aus Risikogebieten über Quarantäne verstärkt aufgeklärt werden und die Anstrengungen für den Ausbau digitaler Lernangebote intensiviert werden sollen. Übersetzt heißt das: Wir gucken mal, was geht.

Viel wird es nicht sein.

Immerhin stehen im Beschluss bereits Sätze, die zwar banal klingen, sich rückblickend aber als prophetisch – und untertrieben zugleich – erweisen: "In den letzten Wochen sind die Infektionszahlen jedoch wieder gestiegen." Und weiter: "Dieser Anstieg in den Sommermonaten ist deshalb besonders ernst zu nehmen, weil ... damit zu rechnen ist, dass mit dem Beginn der kalten Jahreszeit die Infektionsrisiken eher steigen."

29. September: Die Kanzlerin übertreibt mal wieder

Eher steigende Infektionszahlen gibt es Ende September bereits. Die Lage im Spätsommer ist nicht mehr so entspannt wie im Sommer, als sie bereits nicht mehr so entspannt wie im Frühsommer war. Aber sie wirkt eben noch nicht wirklich ernst. Als die Konferenz einberufen wird, nennt Kanzleramtschef Helge Braun als einen Grund zwar den "besorgniserregenden Umstand", dass es an mehreren Stellen zu "einer diffusen Ausbreitung" von Corona komme.

Doch als wenige Tage später die interne Warnung von Angela Merkel an die Öffentlichkeit dringt, wenn es so weitergehe, könne die tägliche Zahl der Neuinfektionen bis Weihnachten auf mehr als 19.000 steigen, entsteht dann doch wieder das Bild der Panikmacherin aus dem Kanzleramt.

Als sich Angela Merkel und die Ministerpräsidenten schließlich zusammenschalten, geht es einmal mehr weniger ums Grundsätzliche als um irgendwelche Details. Zwar wird eine sogenannte "Hotspot-Strategie" verabschiedet, nach der sich die Beschränkungen an den Infektionszahlen vor Ort orientieren. Es handelt sich allerdings nur um "dringende Empfehlungen".

Die Ministerpräsidenten wollen sich nicht zu einschneidenden Maßnahmen durchringen. Ihre Sorge, es zu übertreiben und Widerstand bei den Bürgern zu provozieren, ist groß. Zu groß. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärt den nicht gerade rigorosen Ansatz für sinnvoll, um die Akzeptanz der Beschränkungen nicht zu gefährden.

Wir unterschätzen die Lage, und unsere Maßnahmen sind zu lax – das traut sich noch immer niemand zu sagen.

Stattdessen steht im Anschluss an die Video-Schalte das Selbstlob im Vordergrund. Markus Söder, der zum letzten Mal den Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz innehat, bilanziert nach dem Treffen: "Heute sind wir für den Herbst ein großes Stück vorangekommen." Und Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher lobt die Geschlossenheit: "In den letzten Wochen ist wirklich allen klar geworden, dass die Corona-Dynamik wieder zunimmt."

Selbst die notorisch skeptische Kanzlerin möchte da nicht weiter stören. Sie sagt über einen bundesweiten Shutdown: "Das muss unbedingt verhindert werden." Schließlich wolle man, dass die Wirtschaft laufe und dass die Kinder in Schulen und Kitas gehen können.

14. Oktober: Jetzt bloß keine Hysterie

Erstmals seit Juni treffen sich Angela Merkel und die Ministerpräsidenten wieder persönlich im Kanzleramt. Mit Abstand natürlich. Der tut auch deshalb gut, weil die Stimmung zunehmend gereizt ist.

Zwar kündigen erste EU-Staaten wie Irland in diesen Tagen erneut harte Lockdowns an, und auch in Deutschland steigt die Zahl der Corona-Infektionen längst exponentiell, doch die Wird-schon-gut-gehen-Haltung ist immer noch verbreitet. Es gibt sogar Diskussionen, ob es den Termin wirklich brauche. Keiner bringt die Kritik so auf den Punkt wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, der bereits vor dem Treffen neue Maßnahmen im Kampf gegen Corona ablehnt – und vor Hysterie warnt.

Trotzdem sitzen Angela Merkel und die Ministerpräsidenten mehr als sieben Stunden zusammen. Was auch daran liegt, dass die Kanzlerin den Epidemiologen Michael Meyer-Hermann um einen Vortrag gebeten hat. Von ihm soll der Satz stammen: "Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf".

Markus Söder macht sich diese Aussage anschließend zu eigen und warnt: "Wir sind dem zweiten Lockdown viel näher, als wir das wahrhaben wollen." Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, der von Söder den Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz übernommen hat, spricht von einer "besorgniserregenden Situation", in der viel auf dem Spiel stehe.

Angela Merkel klingt inzwischen wie eine Lehrerin, die zunehmend an ihren Schülern verzweifelt: "Ein einleitender Vortrag ... hat uns noch einmal aufgezeigt, in welcher Phase wir sind. Ich glaube, das war recht einleuchtend und auch hilfreich." Sie beunruhige der exponentielle Anstieg der Infektionen und die Tatsache, dass Deutschland den Infektionen hinterherlaufe: "Wir müssen vor die Welle kommen, wir müssen die Infektionszahlen wieder eindämmen."

Danach ist eigentlich auch klar, dass die Frage, die sie stellt, für sie nur rhetorischer Natur ist: "Reicht das, was wir jetzt tun, oder reicht es nicht?"

Denn noch immer gibt es die Einstimmigkeit aller Beteiligten nur, wenn die Maßnahmen schärfer klingen, als sie sind. Die Maskenpflicht wird zwar erweitert, die Teilnehmer bei privaten Feiern begrenzt. Aber erst ab einer Inzidenz von 35. Und noch immer können sich dann bis zu 25 Menschen treffen. Auch strengere Kontaktbeschränkungen greifen erst ab einer Inzidenz von 50. Selbst dann dürfen bei Veranstaltungen bis zu 100 Menschen zusammenkommen. Beim heftig umstrittenen Beherbergungsverbot gibt es keine Einigung. Das Thema wird auf den 8. November vertagt.

28. Oktober: Der Versuch, die Welle zu brechen

Doch das nächste Gespräch zwischen Kanzlerin und Ministerpräsidenten kommt schneller. Es soll der große Wurf werden. Dieses Mal wirklich. Die Corona-Lage ist inzwischen wieder so kritisch, dass es schon vorher eine ungewöhnliche Einigkeit zwischen Bund und Ländern gibt. Angela Merkel wird nach den Beratungen am Abend sagen, dass "wir bundesweit für 75 Prozent der Infektionen nicht mehr wissen, woher sie kommen". Eine erschreckende Zahl. Gehe es so weiter, "kommen wir binnen Wochen an die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems".

Es brauche nun eine "nationale Kraftanstrengung", sagt sie noch, bevor der Müller an diesem Abend die eindringlichsten Worte für die Lage findet. Sie erklären allerdings auch, warum die Beschlüsse selbst an diesem Tag immer noch zu seicht ausfallen. "Wir alle haben schon wieder ein Stück Normalität genossen", sagt der Regierende Bürgermeister von Berlin. Das sei mit der Hoffnung verbunden gewesen, dass es so weitergehe. Aber: Pustekuchen.

Angela Merkel und die Ministerpräsidenten beschließen das, was zunächst "Wellenbrecher-Lockdown" heißt – und inzwischen nur noch "Lockdown light", weil die Welle eben munter weiterschwappt. Der Virologe Christian Drosten und der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach haben vor dem Treffen bei der Kanzlerin für diesen Weg geworben: Einmal möglichst kräftig runterfahren, damit die Infektionsketten gebrochen werden und sich die Kontakte wieder nachverfolgen lassen.

Ab dem 2. November – bis Ende November, so der Plan – schließen Restaurants und Kneipen, Fitnessstudios und Kinos, Schwimmbäder und Konzerthäuser. Veranstaltungen werden weitgehend verboten, die Zahl der Kontaktpersonen weiter beschränkt. Vom Frühjahr unterscheidet sich dieser “Lockdown light” vor allem durch zwei Dinge: Der Einzelhandel bleibt geöffnet, die Schulen und Kitas ebenso.

Die Kontakte der Menschen sollen sich trotzdem um 75 Prozent reduzieren. Das sei laut Experten nötig, um die Welle zu brechen, sagt Angela Merkel. Ein ambitioniertes Ziel, das ist schon an diesem Abend klar. Zu ambitioniert, wie sich in den folgenden Wochen zeigt. Denn die Kontakte sind laut Robert Koch-Institut (RKI) im Schnitt nur um 40 Prozent gesunken.

Viel zu wenig.

16. November: Die große Gereiztheit

Zwei Wochen später ist die Stimmung schon vor der Videokonferenz von Bund und Ländern auf einem Tiefpunkt. Aus dem Kanzleramt ist eine Beschlussvorlage bekannt geworden, die unter anderem Maskenpflicht in den Schulen und eine Selbstquarantäne bei Erkältungssymptomen vorsieht.

Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, kritisiert das Vorgehen in ungewohnter Schärfe. Das sei kein Vorschlag, der "mit den Ländern besprochen oder abgestimmt ist", schreibt sie auf Twitter. "Das Vorgehen des Kanzleramtes führt zur Verunsicherung anstatt zur gemeinsamen Orientierung für die Bevölkerung." An anderer Stelle nennt sie es "Salamitaktik". Die unbequeme Wahrheit, aber scheibchenweise.

Es sind harte Vorwürfe.

Tatsächlich ist eigentlich vorgesehen, dass Bund und Länder Mitte November erst einmal schauen, wie die Maßnahmen angelaufen sind, und erst eine Woche später neue Beschlüsse fassen. Doch das Kanzleramt macht Druck. Auch weil sich bereits abzeichnet, dass die Wirkung geringer ist als erhofft. Als sich Bund und Länder zusammenschalten, ist Angela Merkel genervt, heißt es. Schwesigs Salamitaktik-Vorwurf wird aus dem Umfeld der Kanzlerin demnach als "das Allerletzte" kritisiert.

Beschlossen wird dann: quasi nichts. Die Länder seien der Meinung gewesen, jetzt keine Änderungen vorzunehmen, sagt Angela Merkel nach dem Treffen. "Darüber gab es durchaus auch ein bisschen unterschiedliche Vorstellungen." Es ist Kanzlerinnen-Sprech für: ziemlich großen Streit.

Sie wollte, die zaudernden 16 nicht.

25. November: Das Hoffen auf ein Weihnachtswunder

Die Frequenz zwischen den Treffen wird kürzer, die Erwartungen daran allerdings längerfristiger. "Wir brauchen eine Corona-Strategie, die bis in den Januar trägt", fordert etwa der Fraktionschef der Union, Ralph Brinkhaus, im Interview mit t-online. Er ist damit nicht allein.

Aber die Wünsche werden auch Ende November nur zum Teil erhört. Die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin verlängern zwar den ursprünglich nur für diesen Monat gedachten Teil-Lockdown, aber erst einmal nur bis zum 20. Dezember. Auch gibt es nach mehr als sieben Stunden Verhandlungen weitere Verschärfungen. Zumindest auf dem Papier: Nur noch maximal fünf Menschen aus zwei Haushalten dürfen sich treffen, in Hotspots mit einer Inzidenz von mehr als 200 sollen weitere Maßnahmen ergriffen werden. Welche, das bleibt jedoch offen.

Angela Merkel benötigt nach dem Treffen nicht lange, um zum Punkt zu kommen: "Wir brauchen noch einmal eine Kraftanstrengung." Der Berliner Landeschef Müller warnt eindringlich, bereits ein Viertel der Intensivbetten werde in der Hauptstadt für Covid-Patienten gebraucht. Trotzdem wollen weder er und seine Kollegen noch Angela Merkel den Deutschen die Weihnachtslaune vermiesen: Ab dem 23. Dezember bis zum 1. Januar soll mit zehn Personen gefeiert werden dürfen.

Es ist eine merkwürdige Bescherung, denn es gibt gewissermaßen eine Belohnung für die verpufften Verschärfungen.

Oder aber es regiert nur noch das Prinzip "Hoffnung auf ein Weihnachtswunder".

2. Dezember: Eine Strategie für den Corona-Winter

Eine Woche später schalten sich Kanzlerin und Länderchefs erneut zusammen – dieses Mal im Rahmen ihres regulären Herbsttreffens, bei dem es eigentlich auch einmal um andere Themen gehen soll. Aber natürlich dominiert Corona. Doch es gibt, so zumindest die Hoffnung, endlich die Strategie, die bis in den Januar trägt: Der Teil-Lockdown soll bis 10. Januar verlängert werden.

Im Anschluss kündigt Angela Merkel das nächste Treffen mit den Ministerpräsidenten für den 4. Januar an: "Dann werden wir sehen, wo wir stehen." Eher nebenbei bemerkt sie: "Wenn irgendetwas ist, wenn die Hütte brennt sozusagen, dann sind wir jederzeit bereit, uns nochmal zu treffen."

9. Dezember: Der emotionalste Auftritt der Kanzlerin

Die Hütte brennt allerdings schneller, als Angela Merkel es wohl selbst erwartet hat. Denn die Infektionszahlen gehen nicht weiter langsam, aber stetig zurück, sie steigen plötzlich wieder.

Am 8. Dezember sagt der Epidemiologe Markus Scholz t-online: "Es war im Prinzip schon Mitte November klar, dass die aktuellen schwachen Maßnahmen keine ausreichende Bremswirkung entfalten." Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schreibt auf Twitter: "Wir haben zu schwach reagiert, die Kontakte sind zu wenig gesunken. Jetzt hilft nur noch ein schneller harter Shutdown."

Auch Angela Merkel ist erkennbar beunruhigt. Einen Tag später, am 9. Dezember, meldet das RKI morgens 590 Tote binnen eines Tages.

Um 9.13 Uhr tritt die Kanzlerin ans Rednerpult im Bundestag. Sie spricht mehr als eine halbe Stunde und wird von Minute zu Minute leidenschaftlicher. Es ist ihr vielleicht emotionalster Auftritt, den sie in 30 Jahren Zugehörigkeit zum Parlament hinlegt.

Es wirkt, als breche all der Frust aus ihr heraus – von all ihren verpufften Mahnungen bis zu den endlosen und häufig eben auch ergebnislosen Runden mit den Länderchefs. "Bis Weihnachten sind es noch 14 Tage. Und wir müssen alles tun, damit wir nicht wieder in ein exponentielles Wachstum kommen", ruft die Kanzlerin. "Wenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und es dann das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben."

Deutlich wie selten rüffelt sie auch das kleinkarierte Denken vieler Länderchefs: Wenn die Wissenschaft geradezu flehe, vor Weihnachten eine Woche der Kontaktreduzierung zu ermöglichen, solle noch einmal nachgedacht werden, ob es nicht einen Weg gebe, die Ferien nicht erst am 19. Dezember beginnen zu lassen, sondern bereits am 16.

Dann sagt sie den Satz, der vielleicht stellvertretend für die deutsche Corona-Misere der vergangenen Monate steht: "Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis mal sagen, wenn wir nicht in der Lage waren, für diese drei Tage noch irgendeine Lösung finden?"

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Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Protokolle der Pressekonferenzen nach den Bund-Länder-Runden
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