Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Corona-Krise Schluss mit der Realitätsverweigerung!
Am Mittwoch ist wieder Corona-Krisengipfel: Hoffentlich konzentrieren sich Kanzlerin und Ministerpräsidenten auf pragmatische Lösungen – besonders für die Schulen.
Lang scheint's her. Am Donnerstag, den 12. März, plante der FC Union Berlin, am folgenden Samstagabend vor Zuschauern gegen den FC Bayern München zu spielen. Am Freitag, den 13. März, beschlossen die Bundesländer, ab dem kommenden Montag die Schulen zu schließen.
Der Lockdown begann mit den Schulen.
Ganz anders die Lage im Herbst 2020: Restaurants und Museen sind geschlossen. "Jeder Kontakt, der nicht stattfindet, ist gut", sagt die Kanzlerin. Die Schulen aber sind offen, obwohl das Abstandsgebot dort viel schwieriger einzuhalten ist als in einem Museum und obwohl die Realität der Infektionslage längst bei dem Szenario angekommen ist, für das die Kultusminister bei Schuljahresbeginn die Schließung von Schulen vorsahen.
Die Schulen aber werden offen gehalten, "whatever it takes". Auch die Digitalisierung, für die seit Frühjahr allerorten Kapazitäten aufgebaut worden sind und Schulungen stattgefunden haben, spielt auf einmal keine Rolle mehr.
Da stimmt doch was nicht.
In der Tat deutet die aufgeheizte Diskussion über Offenhalten, Wechselunterricht oder Schließungen darauf hin, dass es hier nicht um pragmatische Maßnahmen geht, sondern dass Ideologie im Spiel ist. Das beste Indiz dafür ist, dass Argumente gebogen werden.
Die Befürworter des Offenhaltens weisen darauf hin, dass die Infektionszahlen in Schulen niedrig sind. Die Virologen sagen allerdings, dass Jugendliche ab einem bestimmten Alter sehr wohl Infektionsträger sind. Da sie häufig symptomfrei sind, werden sie allerdings viel weniger getestet, und die Nachverfolgung des Infektionsgeschehens ist akut gar nicht mehr möglich.
Corona bringt Gewissheiten in die Bredouille
Das heißt: Wir wissen schlicht und einfach nicht, wie stark sich die Infektion in den Schulen verbreitet. Zugleich gibt es auch dort Risikopatienten oder Lehrer mit schwerkranken oder alten Angehörigen, die sie nicht besuchen können.
Dass die Digitalisierung auf einmal keine Rolle mehr spielt, um über Fernunterricht nachzudenken, wie es im Frühjahr so vehement gefordert wurde, wird damit begründet, dass dadurch bildungsferne Schüler abgehängt werden.
Aber hier bringt Corona – wie auch in anderen Fällen – nur das ans Licht, was schon viel länger im Gange ist und die Verantwortlichen eben nur bedingt gekümmert hat.
Schließlich gibt es das Argument der häuslichen Gewalt, die Familien und Kindern droht, wenn die Schulen schließen. Gewalt in Familien ist ein sehr ernst zu nehmendes Problem. Es wird aber in den aktuellen Debatten so pauschal verwendet, dass man sich wundert, wie die Familie in der öffentlichen Einschätzung von der Keimzelle der Gesellschaft zur Brutstätte von Gewalt geworden ist.
Silvana Rödder ist Oberstudienrätin an einem Mainzer Gymnasium
Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und gegenwärtig Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington D.C.
Tatsächlich – und hier liegt des Pudels Kern – bringt die Pandemie politische und gesellschaftliche Gewissheiten in die Bredouille.
Die Familienpolitik der vergangenen 20 Jahre hat den Vorrang darauf gelegt, Erwerbstätigkeit beider Elternteile zu ermöglichen. "Familienförderung" lag primär darin, außerfamiliäre Betreuungsmöglichkeiten von Kindern zu schaffen. Nun erzeugen Schließungen von Schulen und Kitas ein Betreuungsproblem und bringen dieses Familienmodell in Schwierigkeiten.
Es geht nicht darum, das Rad der gesellschaftlichen Entwicklung zurückzudrehen. Offenkundig aber ist, dass die Diskrepanz zwischen Rollenmodell und Corona-Realität die Debatte um die Schulen mit so viel Gereiztheit auflädt.
Psychologen würden vielleicht von einer kognitiven Dissonanz sprechen, die Menschen dadurch bearbeiten, dass sie versuchen, Eindeutigkeit herzustellen, auch auf Kosten der Realität, in diesem Fall in den Schulen. Nach den Sommerferien hieß es, in der Klasse müsse das Abstandsgebot fallen – als müsse das Virus das aber nun wirklich einmal kapieren.
Lüften ist nur begrenzt möglich
Realitätsverweigerung macht die Sache auf Dauer aber nur schlimmer, denn sie verspielt Vertrauen und löst die Probleme nicht. Jedenfalls ist es kein haltbarer Zustand, wenn Jugendliche in der fünften Stunde mit nassen Haaren bei offenem Fenster in einem kalten Raum sitzen müssen, weil sie nach dem Schwimmunterricht in der Vorstunde die Haare im Schwimmbad coronabedingt nicht föhnen durften. Doppelstandards und nicht nachvollziehbare Regeln erzeugen Chaos, und sie tragen Streit in die Schulen und in die Familien.
Schulen brauchen keine ideologischen Debatten, wie sie zuletzt den Chaos-Gipfel zwischen Kanzlerin und Ministerpräsidenten blockierten, sondern pragmatische Lösungen, um Betreuungsbedarf und verantwortliche Beschulung in Pandemiezeiten zu gewährleisten. Und die erfordern, sich ehrlich zu machen. Das heißt, Zielkonflikte zwischen virologischen, betreuungs- und bildungspolitischen Notwendigkeiten zu benennen, und: zu differenzieren.
Konkret: An Schulen muss erstens systematisch und regelmäßig getestet werden, um Schüler und Lehrer zu schützen und das Infektionsgeschehen besser verfolgen zu können. Die dafür notwendigen Investitionen sind insgesamt überschaubar und allemal preiswerter, als Intensivbetten zu bepflegen. Ob es reicht, die geplanten Schnelltests auch an Schulen konsequenter einzusetzen, muss sich zeigen - und im Zweifel auch hier zielgenau reagiert werden.
Zweitens: Abstand ist nach wie vor ein zentrales Kriterium der Infektionsvermeidung. Es kann in den Schulen aber nicht zureichend eingehalten werden. Lüften ist im Winter auch nur begrenzt möglich.
Deshalb ist Wechselbetrieb eine ernst zu nehmende Option – aber differenziert: Für Schüler bis zur sechsten Klasse eignet er sich nicht, daher sollten sie in der Tat möglichst präsent beschult werden. Ab einem Alter von 14 Jahren sind Wechselbetrieb und phasenweise eigenverantwortliches Arbeiten aber zumutbar. Das sollte allen Kultusministern klar sein.
Längere Weihnachtsferien wären gut
Seit dem Frühjahr haben die Schulen viel getan, um aufzurüsten: Lehrer sind fortgebildet worden, Kommunen haben in die digitale Infrastruktur investiert. Um die Chancen, die hier geschaffen worden sind, auch zu nutzen, sind nicht nur die Schulen in der Pflicht, sondern auch Schülerinnen und Schüler – und die Familien!
Wenn wir eine aktive Bürgergesellschaft sein wollen, müssen alle mitmachen. Zugleich müssen zielgenaue Betreuungsangebote für diejenigen vorgehalten werden, die darauf angewiesen sind.
Schließlich sollten die Länder - so wie es einige bereits tun - insgesamt darüber nachdenken, die Weihnachtsferien zu verlängern und dafür Ferien im Frühjahr und im Sommer zu verkürzen. Denn die kommenden Winterwochen werden in den Schulen nicht nur besonders schwierig, sie werden auch entscheidend für die Bekämpfung der zweiten Pandemiewelle. Wenn auf diese Weise aber der Inzidenzwert gesenkt wird, kann ab dem zweiten Schulhalbjahr wieder der Regelbetrieb angestrebt werden.
Auch diese Regelungen sind nicht perfekt. Nichts in der Corona-Krise ist perfekt. Aber die Vorschläge folgen einer klaren Leitlinie: keine Realitätsverweigerung, sondern nachvollziehbare und pragmatische Lösungen, mit denen alle leben können. Einige Länder haben inzwischen Entscheidungen in diese Richtung angekündigt. So können Kanzlerin und Länder am Mittwoch zusammenkommen. Ohne Ideologie. Und im Interesse aller.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.