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Bremen: Carsten Sieling – Dieser Bürgermeister muss die SPD retten


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Historische Niederlage droht
Dieser Bürgermeister muss die SPD retten

  • Johannes Bebermeier
Eine Reportage von Johannes Bebermeier

Aktualisiert am 24.05.2019Lesedauer: 9 Min.
Carsten Sieling: Der Bürgermeister von Bremen muss die Serie der SPD in dem Stadtstaat verteidigen.Vergrößern des Bildes
Carsten Sieling: Der Bürgermeister von Bremen muss die Serie der SPD in dem Stadtstaat verteidigen. (Quelle: Fabian Bimmer/reuters)
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Die SPD regiert Bremen seit dem Krieg. Nun könnte die CDU an die Macht kommen. Es wäre ein Desaster für die Sozialdemokraten – nicht nur in Bremen. Verhindern muss es: Carsten Sieling.

Andrea Nahles hat fertig gebrüllt, hat "wow" gerufen und "pfui" und auch sonst eine typische Nahles-Rede gehalten, da macht sich ein schlanker Mann mit runder Brille bereit für seinen Auftritt. Die Band spielt: "I like to party, everybody does". Der Mann tritt auf die Bühne und sagt: "Liebe Bremerinnen und Bremer, liebe Bremerhavenerinnen und Bremerhavener."

Er redet zwanzig Minuten lang, sagt Sätze wie "wir wissen, worum es geht" und "die SPD ist vorbereitet". Wenn es besser läuft, sagt er auch Sätze wie "wir brauchen einen starken Staat" und "sie werden einen Raubzug durch das Bremer Tafelsilber machen". Dann klatschen die Zuhörer in der alten Industriehalle in Bremen, wenn auch nicht so laut und so oft wie für Nahles. Und wenn das passiert, redet er oft über den Applaus hinweg, als ob er überrascht ist oder nicht weiß, wie er damit umgehen soll.

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Dabei ist er an diesem Abend in Bremen die Hauptfigur. Sein Gesicht lächelt die Besucher von Plakaten und Flyern an. "Carsten Sieling regiert Bremen sozial", steht dort. Er tritt für die SPD als Spitzenkandidat bei der Landtagswahl Ende Mai an und will Bremens Bürgermeister bleiben. Für die SPD von Andrea Nahles muss er aber noch eine viel größere Rolle spielen: Er soll die Partei retten, indem er sie vor der Katastrophe bewahrt.

Der ungewöhnliche Retter

Denn die SPD steckt in der Krise. Wenn die Umfragen die Partei bundesweit bei 18 Prozent sehen, freuen sich die Genossen schon. Gerade jetzt stehen fünf wichtige Wahlen an: Bremen und Europa am 26. Mai, Brandenburg und Sachsen im September und Thüringen im Oktober. Richtig gut sieht es für die SPD nirgendwo aus, die Erwartungen sind niedrig, die Angst ist groß. Und Bremen hat besondere symbolische Bedeutung.

Hier deutet sich eine Revolution an. Die SPD ist seit 73 Jahren an der Macht, seit dem Krieg hat noch nie eine andere Partei das kleinste deutsche Bundesland regiert. Doch in den Umfragen liegt die CDU knapp vorn. Carsten Sieling soll die einzigartige SPD-Serie fortsetzen. Schafft er es nicht und die SPD verliert zu Beginn des Wahljahres sogar Bremen, lässt das für die anderen Wahlen Schlimmes befürchten.

Es ist eine gewaltige Aufgabe für Sieling. Er ist kein mitreißender Redner, ist eher leise, nicht laut. Nicht einmal in Bremen kennen ihn alle. In Berlin vergessen selbst politisch Interessierte schon mal seinen Namen. Ein ungewöhnlicher Retter. Doch er steht auch genau für die SPD, die Chefin Andrea Nahles für ganz Deutschland anstrebt: eine pragmatische Partei mit entschieden linker Politik, eine Kümmerer-SPD. Deshalb geht es in Bremen für die SPD nicht nur um die Fortsetzung einer sozialdemokratischen Ära und einen guten Start ins Wahljahr. Bremen ist auch ein Test für den neuen Linkskurs der SPD.

Er will und will und will

Das ist auch Carsten Sieling und Andrea Nahles an diesem Abend in der alten Industriehalle bewusst. Nahles lobt Sielings Bremen. Als Vorreiter beim Landesmindestlohn, den Bremen 2012 als erstes Bundesland für Mitarbeiter im Landesdienst eingeführt hat, oder dafür, dass die SPD Bremens Wohnbau-Unternehmen nicht verkauft hat. "Seit 70 Jahren geht Bremen voran", sagt sie. Sieling wiederum lobt Nahles' SPD: "Die Bremer SPD hat – glaube ich, kann man sagen – jubiliert, als du formuliert hast: Wir müssen und wollen Hartz IV hinter uns lassen."

Sieling verspricht soziale Wohltaten. Er will Erzieherinnen einstellen, Kitaplätze schaffen und die Beiträge für Drei- bis Sechsjährige abschaffen. Er will Schulen sanieren und die Sozialarbeit ausbauen. Er will jungen Menschen eine Ausbildung garantieren und den Landesmindestlohn auf 12 Euro erhöhen. Er will 2.500 neue Wohnungen im Jahr bauen und Familien mehr Geld für den Hausbau geben. Er will Straßen sanieren, Bus und Bahn günstiger machen, für Kinder und Jugendliche sogar kostenlos. Mehr Geld für Hochschulen, mehr Geld für Kliniken und Ärzte in sozialen Brennpunkten, mehr Geld für die Polizei. Er will und will und will.

Der Sozi vom Bauernhof in Niedersachsen

Carsten Sieling, 60 Jahre alt, hat das, was man eine gut-sozialdemokratische Biografie nennen könnte. Er wuchs in Linsburg auf, tiefes Niedersachsen, viele Felder, wenige Einwohner, 900 ungefähr, bis nach Hannover sind es 40 Kilometer. Die Familie betrieb einen Bauernhof, aber nur nebenbei. Der Vater arbeitete bei Volkswagen, die Mutter bei der Post im Dorf.

Sein politisches Erweckungserlebnis hat Sieling als Jugendlicher. So erzählt er die Geschichte zumindest, als er mit seinem Wahlkampfbulli von einem Termin zum anderen fährt. Wohl auch, weil sie gut passt. Denn sie hat mit Ärger über die CDU und einem tatkräftigen jungen Carsten zu tun.

Irgendwer im Dorf hatte die Idee, dass ein Jugendraum fehlte. Sieling und seine Freunde versuchten, die Ortspolitiker zu überzeugen, ihnen Geld zu geben. Die Politiker, meist von der CDU, gaben ihnen: 120 Mark. Viel zu wenig. Also nahmen die Jugendlichen es selbst in die Hand. Beim Osterfeuer verkauften sie Würstchen und Getränke und hatten bald 1.000 Mark zusammen. Wenig später wird Sieling SPD-Mitglied, mit 17 Jahren.

Für die Schule hat Sieling nicht so viel übrig. Nach dem Realschulabschluss machte er eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Heute trägt Sieling einen Doktortitel. Es zog ihn doch noch an die Hochschule, erst nach Hamburg, dann nach Bremen. Er studierte Wirtschaftswissenschaften, ohne Abitur, auf dem zweiten Bildungsweg. Alles dank der Politik der SPD, wie Sieling sagt.

Die Politik der SPD machte er dann bald selbst. Von 1993 an zunächst in Bremen, dann ab 2009 im Bundestag. Seit 2015 ist er zurück, als Bürgermeister. Er löste nach der Wahl Jens Böhrnsen ab, obwohl Sieling gar nicht als Bürgermeister kandidiert hatte. Doch Böhrnsen wollte nicht mehr, konnte nicht mehr, er hatte ein ziemlich schlechtes Ergebnis für die SPD eingefahren und zog sich zurück.

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Hohes Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit

Carsten Sieling steht an einem Samstag im Mai auf einem Parkplatz in Osterholz, ein Stadtteil Bremens. Es ist kühl, es nieselt immer wieder, ungemütlich. Hier, vor dem Weserpark, einem riesigen Einkaufszentrum, ist gerade Gewerbeschau. Sieling macht Wahlkampf, seinen ersten als Bürgermeister. Zwischen Bierbude und Würstchenstand blickt er auf eine Bühne.

Ein Mann aus dem Handwerk verteilt Tadel. Die Gewerbesteuer in Bremen passt ihm gar nicht, sie ist höher als im Umland, zu hoch, das ist schlecht für die Wirtschaft, sagt die Wirtschaft. Stimmt, wird Sieling später sagen, er hat sie vor zwei Jahren erhöht, will sie aber von 2020 an wieder senken. Bremen musste jahrelang das Geld zusammenhalten, in den letzten Jahrzehnten haben sich zu viele Schulden aufgetürmt, das Land ist in eine Haushaltsnotlage gerutscht. Die harte Schuldenbremse hat die Möglichkeiten der Politik arg eingeschränkt.

"Die SPD konnte zuletzt ihre Rolle als Sozialstaatspartei nicht ausspielen", sagt der Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst. Probst beobachtet die Politik in der Stadt seit Jahren. Das strenge Sparen habe die eigene Klientel verprellt. Und es gebe weitere hausgemachte Probleme. Die Wirtschaft wächst zwar, 2018 lag Bremen im Vergleich der Bundesländer auf Platz drei hinter Berlin und Hessen. Doch viele ärgern sich über die Verkehrspolitik. In Bildungsstudien ist Bremen regelmäßig auf dem letzten Platz. Mit knapp zehn Prozent hat das Bundesland die höchste Arbeitslosenquote Deutschlands.

"Sieht man vom Erfüllen der Schuldenbremse und der Integrationspolitik ab, ist die Bilanz in vielen anderen Politikfeldern, vor allem in der Bildungspolitik, eher negativ", sagt Probst. Bei den Wahlen der vergangenen Jahre lief es auch nicht: 2011 bekam die SPD 38,6 Prozent, immerhin. 2015, als Sieling von Böhrnsen übernahm, waren es nur noch 32,8 Prozent. Und 2019? Die letzte Umfrage sagt: 24 Prozent. Drei Prozentpunkte weniger als die CDU. Und das in einem Bundesland, in dem die SPD bis zu den Neunzigerjahren oft über 50 Prozent erreichte.

Den Kühnert mal ein bisschen stutzen

Carsten Sieling hat sich inzwischen vom Parkplatz ins Einkaufszentrum vorgearbeitet. Ein Tross von Mitarbeitern, Genossen und Fotografen drängt sich mit ihm durch die Gänge. Der Bürgermeister besucht die Stände, an denen sich Bremer Firmen und Institutionen präsentieren. Am Stand des Klinikums Bremen-Nord spricht Sieling mit einem Mitarbeiter. Wenige Meter entfernt werden die wichtigen Fragen geklärt. "Wer ist das?", fragt ein Mann eine Frau. "Das ist der Bürgermeister Sieling von Bremen." – "Welche Partei?" – "SPD." – Und dann nickt der Mann.

Sieling hat nur wenige Minuten an jedem Stand, ob Hundefutter, Neutralreiniger, oder Wohnbaugesellschaft, immer drängt ihn irgendjemand zum Weitergehen, der Zeitplan, man ist spät dran. Meist redet Sieling trotzdem noch ein bisschen weiter. Immer wieder sprechen ihn Bürger an. "Ihr solltet mal sehen, dass ihr den Kühnert da ein bisschen stutzt", sagt einer. "Ja, ja", sagt Sieling, schüttelt den Kopf, winkt ab, verdreht die Augen. Der Juso-Chef Kevin Kühnert und seine Überlegungen zum demokratischen Sozialismus sind ein unangenehmes Thema für ihn, er sagt dazu so wenig wie möglich.

Sieling gehört in der SPD selbst dem linken Flügel an, er führt den Wahlkampf mit einem linken Programm in einer linken Stadt. Doch Sozialismus geht hier vielen dann doch zu weit, und das ist hängengeblieben von Kühnert. Wenn Sieling etwas dazu sagen muss, lenkt er ab, sagt, das spiele nur ganz selten eine Rolle, obwohl es mehrmals eine Rolle spielt.

Kümmerer-Carsten und Tatkraft-Carsten

Lieber ist es Sieling, wenn ihn die Menschen wegen anderer Themen ansprechen: Kita, Schule, egal was. Dann legt er ihnen die Hand locker auf den Rücken, kommt mit dem Ohr etwas näher, lächelt, nickt, hört zu, sagt was. Es ist eine der zwei typischen Carsten-Sieling-Gesten, die des Kümmerer-Carstens. Wenn er sie nutzen kann, ist er in seinem Element.

Die zweite Geste nutzt Sieling immer dann, wenn er von seinen großen Plänen berichtet, wenn er sagt, er wolle Bremen nach vorne bringen, machen statt reden. Dann zieht er den Unterarm hoch, ballt die Faust und bewegt sie so schnell auf und ab, dass es seinen ganzen Körper durchzuckt, wie eine Becker-Faust auf Speed. Es ist die Geste des Tatkraft-Carstens. Beide Gesten nutzt er derzeit oft.

"Machen statt Runtermachen" ist einer der Wahlkampfsprüche der Bremer SPD. Er zielt auf den politischen Gegner. Der kommt von der CDU und heißt Carsten Meyer-Heder, ein IT-Unternehmer, der sich auch so inszeniert. Er ist erst seit einem Jahr in der Politik und tritt für die Bremer CDU mit dem Image des Anti-Politikers an, der alles anders machen will, besser natürlich.

Ob Meyer-Heder die CDU damit bei der Wahl erstmals seit 73 Jahren vor die SPD setzt, bleibt abzuwarten. Die Regierungsfindung wird in jedem Fall schwierig. Eine große Koalition hat Sieling ausgeschlossen. Am liebsten wäre es ihm, mit den Grünen weiterzuregieren. Weil die Koalition absehbar keine Mehrheit erreicht, müsste die Linke hinzukommen. Doch ob die Grünen da mitspielen, ist nicht gesagt. Anders als in den Jahren zuvor haben sie sich eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP offengehalten.

Beide Dreierbündnisse könnten am Ende eine Mehrheit erreichen. Die Grünen müssten dann möglicherweise darüber entscheiden, ob sie Sieling auch im Amt halten, wenn die SPD knapp hinter der CDU landet. Und genau da liegt für Sieling und die gesamte SPD die Grenze zwischen einer gerade noch verkraftbaren und einer katastrophalen Wahl: Bleibt Sieling Bürgermeister, wie auch immer – oder fällt Bremen an die CDU?

Hip-Hop im Schlachthof

Es ist Abend geworden. Harte Hip-Hop-Beats dröhnen über den Platz vor dem Schlachthof nahe dem Hauptbahnhof. Früher schlachteten Arbeiter hier Schweine und Rinder. Heute vertreiben sich Jugendliche die Zeit, wirbeln ihre BMX-Räder durch die Gegend, grillen, trinken, flirten.

Der Bürgermeister fährt mit Tourenrad und Fahrradhelm vor. Der Schlachthof ist inzwischen ein Kulturzentrum. Und Kultur heißt an diesem Abend: Harter Rap, harte Muskeln und harte Jungs. Mittendrin: Carsten Sieling. Hood Training nennt sich das. Es ist ein Projekt, das Jugendliche dort abholt, wo sie rumhängen: auf der Straße. Mit Sport und Musik sollen sie ihren Weg finden.

In der Kesselhalle des Schlachthofs ist es dunkel, manchmal blitzen pinkfarbene und blaue Scheinwerfer auf. "Lasst die Affen aus dem Zoo", rappt ein Rapper aus den Boxen. Auf der Bühne sind zwei Reckstangen und zwei Barren aufgebaut. Junge Männer ziehen und stemmen sich zum Beat in die Luft, einmal, zweimal, zwölfmal.

Der Herr Bürgermeister beim Hood Training

"Ich würde gerne den Herrn Bürgermeister auf die Bühne bitten", ruft ein junger Mann ins Mikrofon. Der Mann ist einer der Organisatoren, er hat Inklusionspädagogik studiert, so steht es auf einem Flyer, und doch klingt er eher wie Bushido in nett. "Ein Applaus für den Bürgermeister", ruft er. Das Publikum jubelt. Sieling betritt die Bühne und sagt: "Ich bin ja ein Fan von Hood Training." Ein Zuschauer brüllt: "Bester Mann!"


Am Ende des Abends wird niemand hier erfahren haben, wie der "Herr Bürgermeister" eigentlich heißt. Auch Sieling nennt seinen Namen nicht. Er ruft auch niemanden dazu auf, brav wählen zu gehen. Er erwähnt nicht einmal, dass bald eine wichtige Wahl ansteht. Eine Wahl, die nicht nur seine Zukunft mitbestimmen wird. Sondern die Zukunft der gesamten SPD.

Verwendete Quellen
  • Besuch des Wahlkampfauftakts mit Sieling und Nahles in Bremen
  • Einen Tag lang Carsten Sieling im Wahlkampf begleitet
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