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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verfassungsschutz begründet Prüfverfahren Höcke geht von baldiger Diktatur aus – und bedrohte Polizisten
Die AfD spricht von einem bürgerlichen Protest in Chemnitz – doch fast jeder dritte Teilnehmer war laut Angaben des Verfassungsschutzes ein bekannter Rechtsextremist.
Der sogenannte "Schweigemarsch" der AfD in Chemnitz war in weiten Teilen von Rechtsextremisten dominiert. Zu dieser Einschätzung gelangt der Verfassungsschutz Thüringen. In der Spitze nahmen den Angaben zufolge 2.500 bekannte Rechtsextremisten an der Demonstration teil. Insgesamt ging die Polizei Chemnitz von rund 8.000 Teilnehmern aus.
"Distanzierung von Extremisten rein strategisch"
Stephan J. Kramer, der Präsident des Landesamtes, begründete am Donnerstag bei einer Pressekonferenz ausführlich, warum seine Behörde nun prüfe, ob die AfD beobachtet werden müsse. Der sogenannten "Prüffall" ist ein gesetzlich vorgeschriebener erster Schritt zu einer tatsächlichen Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Dieser sei notwendig geworden, da die Behörde neue Anhaltspunkte habe.
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Die Distanzierung im Aufruf zur Demonstration von Gewalttätern und Extremisten sei der Auffassung der Behörde zufolge rein strategisch gewesen, "um zu erwartenden Extremismus-Vorwürfen gegenüber der AfD zu begegnen", sagte Kramer. Sowohl in der Pegida-Bewegung, als auch in der "Pro Chemnitz" seien maßgebliche Akteure als rechtsextremistisch bekannt. Während des Schweigemarsches sei "keine Distanzierung erkennbar" und somit ein "Schulterschluss" sichtbar geworden. Die Abgrenzung zu rechtsextremistischen Gruppen erodiere.
Gemeinsame Demo folgte einem Kalkül
t-online.de hatte bereits am Tag vor den Demonstrationen über das offensichtliche Kalkül der Organisatoren berichtet: Fast zeit- und ortsgleich hatten sowohl AfD und Pegida, als auch "Pro Chemnitz" Kundgebungen angemeldet. Die Bürgerbewegung schloss Neonazis explizit nicht von der Teilnahme aus. Stadtverwaltung und Polizei rechneten bereits vor den Demos mit einem gemeinsamen Marsch. Diese Auffassung teilt auch im Nachhinein der Verfassungsschutz Thüringen.
Hinzu komme, sagte Kramer, dass auch Führungspersonen der AfD zunehmend auf rechtsextremistischen Sprachgebrauch zurückgriffen. Vor allem der Landesvorsitzende Björn Höcke schließe mutmaßlich Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung nicht aus und tätige verfassungsfeindliche Aussagen. Höcke gehe von einer baldigen "Alleinherrschaft, Präsidentialdemokratie mit Notstandsgesetzen beziehungsweise Diktatur" aus. Als Beleg führte er verschiedene Reden, Interview-Passagen und Demo-Aufrufe Höckes an.
Höcke drohte der Polizei mit Vergeltung
So habe Höcke unter anderem die Bundespolizei bei einer Demo dazu aufgerufen, "ihren Vorgesetzten nicht mehr zu folgen – mit der Drohung, dass sie nach der Machtübernahme 'des Volkes' zur Rechenschaft gezogen würden". Seine Vorstellungen für das kommende Staatssystem schildere er in einem eigens herausgegebenen Buch, in dem er auch programmatische Parallelen mit der Neonazi-Szene offenbare. "Judentum und Christentum sind in dem Werk antagonistische Kräfte", sagte Kramer.
Die gesamt Begründung des Verfassungsschutzes ist in folgendem Video-Stream ab Minute 27:20 zu sehen und zu hören.
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Es gebe Indizien, dass sich die Partei Höckes Positionen angeschlossen habe – schließlich habe das Thüringer Schiedsgericht beschieden, Höckes Äußerungen stünden nicht im Widerspruch zum Parteiprogramm. Das prüfe der Verfassungsschutz nun in einem begrenzten Zeitraum von mehreren Monaten.
Der öffentliche Vortrag des obersten Verfassungsschützers Thüringens dürfte in der Geschichte der AfD einen einschneidenden Moment darstellen. Denn es geht nicht nur um den Landesverband. Der völkische Flügel um die Demo-Anmelder Björn Höcke, den Brandenburger Landesvorsitzenden Andreas Kalbitz – ebenfalls mit rechtsextremistischer Vergangenheit – und Sachsens AfD-Chef Jörn Urban hat innerparteilich das Machtgefüge zu seinen Gunsten verschoben. Die sogenannte Alternative Mitte ringt mit der Bedeutungslosigkeit.
Konsequenzen auch im Bund möglich
Die eigene Parteispitze hatte dem Thüringer Landesvorsitzenden im Ausschlussverfahren bereits eine Nähe zum Nationalsozialismus attestiert. Letztendlich wurde Höcke aber nicht ausgeschlossen. Das könnte nun zum Problem auch für die Bundespartei werden.
Denn wiederholt nahmen Parteivorsitzender Alexander Gauland und andere Vorstandsmitglieder des Bundesverbandes Höcke gegen die Vorwürfe in Schutz. Sollte der Verfassungsschutz in Thüringen also zu der Auffassung gelangen, dass ein solches Verhalten Anlass für eine Beobachtung des Landesverbandes bietet, könnte es der AfD im Bund ähnlich ergehen. Bereits jetzt werden zwei Landesverbände der Jungen Alternative vom Verfassungsschutz beobachtet. In Hamburg stellte das Landesamt öffentlich Verbindungen zu Rechtsextremisten fest. In Bayern stehen einzelne Mitglieder unter Beobachtung.
AfD-Landessprecher Olaf Möller erklärte, die AfD werde prüfen, ob das angekündigte Vorgehen rechtmäßig sei. Bis dahin beginnt in Thüringen die Prüfung der Verfassungsfeindlichkeit – sie könnte aber im Bund mit einer kontinuierlichen Beobachtung enden.
- eigene Recherchen
- mit Material von dpa