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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chronik der Ermittlungspannen Was bei der Jagd nach Anis Amri falsch lief
Abgehört, beobachtet, verhaftet: Anis Amri war im Visier der Sicherheitsbehörden. Und wurde trotzdem zum Attentäter. Weil seine Überwacher viele Fehler gemacht haben.
Vor einem Jahr steuerte Anis Amri einen gestohlenen Lkw auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz und tötete zwölf Menschen. Es war der erste große islamistische Terroranschlag in Deutschland. Vieles deutet darauf hin, dass er hätte verhindert werden können. Dass die Behörden Amri hätten stoppen können.
Amri nutzte falsche Namen, falsche Identitäten. Er wechselte oft seinen Wohnort, pendelte zwischen Berlin und Nordrhein-Westfalen. Das machte es den Sicherheitsbehörden schwer, denn zuständig war immer das Bundesland, in dem Amri gerade lebte. Wo das war, das wusste man oft nicht.
Doch Amri hinterließ trotzdem Spuren. Die Behörden kannten bald seine Ideologie und seine Gewaltbereitschaft. Er wurde abgehört, vernommen, observiert. Sogar festgenommen. Spitzel horchten ihn aus. Vergeblich.
Die Chronik einer gescheiterten Überwachung:
April 2011
Der gerade volljährige Anis Amri, ein tunesischer Kleinkrimineller, dem zu Hause eine Gefängnisstrafe droht, reist nach Italien aus. Einen Asylantrag stellt er nicht. Sein Plan ist angeblich: Geld verdienen und dann nach Hause zurückkehren. Aber es gibt Hinweise, dass er schon in Tunesien Kontakt zum IS hatte. Bei der Einreise nutzt er seinen richtigen Namen.
Oktober 2011
Amri verprügelt einen Sozialarbeiter und legt in einem Jugendheim Feuer. Er muss für vier Jahre ins Gefängnis.
Juni 2015
Amri hat seine Haft abgesessen und wird entlassen. Italien würde ihn gerne abschieben. Aber die Behörden in Tunesien reagieren nicht. Er zieht weiter nach Deutschland. Illegal. Eigentlich dürfte er Italien nicht verlassen. Niemand bemerkt es.
Juli 2015
Amri meldet sich als „Anis Amir“ in Freiburg asylsuchend. Später lässt sich Amri noch mehrfach als Flüchtling registrieren – jeweils unter falschem Namen. Meist gibt er sich als Ägypter aus. Am Ende jongliert er nach Angaben des Verfassungsschutzes 14 Identitäten. Es fällt zunächst nicht auf.
Oktober 2015
Die Ausländerbehörde Kleve in Nordrhein-Westfalen teilt der Polizei mit, ein Zimmernachbar eines Mannes habe auf dessen Handy Fotos von bewaffneten Kämpfern gesehen. Offenbar Islamisten. Der Mann ist Amri, doch er lebt unter einem Pseudonym in seiner Flüchtlingsunterkunft. Die Behörden können ihm den Hinweis nicht zuordnen.
November 2015
Ein V-Mann, der Kontakt zu einer Hildesheimer Moscheegemeinde um den radikalen Prediger Abu Walaa hält, berichtet, dass ein Tunesier namens “Anis” womöglich einen Anschlag plane.
Dezember 2015
Der V-Mann erklärt, „Anis“ habe nun erzählt, er wolle in Paris eine Waffe kaufen, um einen Anschlag zu begehen.
Januar 2016
Die Behörden haben jetzt Daten aus Italien erhalten. Sie sind sich fast sicher, dass es sich bei „Anis“ um Anis Amri handelt.
Februar 2016
Das LKA in NRW stuft Amri als Gefährder ein. Er wird von jetzt an observiert. Aber vor allem das BKA ist weniger nervös. Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum in Berlin, in dem sich die Sicherheitsbehörden koordinieren, stuft einen Anschlag als eher unwahrscheinlich ein.
Als Amri nach Berlin umzieht, warnen die Behörden aus NRW ihre Berliner Kollegen. Sie empfehlen eine Observation. Die Berliner kontrollieren Amri noch am Busbahnhof, nehmen Fingerabdrücke und ziehen sein Handy ein.
Am nächsten Tag treffen sich die Chefs der 17 Verfassungsschutzämter in Deutschland. Sie reden über Islamismus und wie deren Verfolgung besser koordiniert werden könnte. Über Amri reden sie nicht. Für den sind die Landeskriminalämter zuständig, seit er als Gefährder gilt.
Behörden aus Nordrhein-Westfalen schlagen vor, Amri abzuschieben. Der Paragraph 58 des Aufenthaltsgesetzes erlaubt Abschiebungen, wenn eine akute Gefahr droht. Doch Beamte im Innenministerium in Düsseldorf glauben nicht, dass die Beweislage ausreicht.
Die Behörden wissen mittlerweile, dass Amri die „Tötung von Ungläubigen“ billigt.
März 2016
Bei der Auswertung des Handys stellen die Ermittler fest: Amri hat Bombenbauanleitungen gesucht und hält Kontakt zu Kämpfern des Islamischen Staates. Mehr noch: In einer Unterhaltung hat er ein Codewort benutzt, das zeigt, dass er einen Anschlag begehen will.
Was niemandem auffiel: Es waren auch Bilder auf dem Gerät, die Amri mit Waffen zeigen. Das LKA in Nordrhein-Westfalen hatte einen automatischen Filter über die Daten laufen lassen. Der sortierte Fotos mit schlechter Bildqualität aus.
April 2016
Das Berliner LKA hört ein Gespräch mit, in dem ein Freund Amri berichtet, dessen tunesischen Reisepass in einer Moschee gefunden zu haben. Amri hatte behauptet, keinen Pass zu besitzen. Echte Dokumente würden eine Abschiebung deutlich erleichtern. Doch das LKA geht der Spur nicht weiter nach.
Unter einem falschen Namen stellt Amri einen erneuten Asylantrag, diesmal in Dortmund. Jetzt fliegt er auf. Die Behörden kennen nun seine falschen Identitäten.
Juni 2016
Anis Amris Asylantrag wird endgültig abgelehnt. Prinzipiell könnte er jetzt abgeschoben werden, ohne dass man ihm schwere Straftaten nachweisen muss.
Juli 2016
Mit zwei weiteren Männern verwüstet Amri eine Cocktailbar in Berlin-Neukölln. Es soll sich um eine Racheaktion im Drogenmilieu handeln. Schon lange treibt sich Amri in diesem Milieu herum, dealt, nimmt selber Drogen. Einer seiner Mittäter sticht einen Barbesucher nieder, Amri soll einen Mann mit einem Hammer angegriffen haben.
Weil das LKA ihn abhört, erfahren die Ermittler davon. Der Angriff würde zusammen mit Drogendelikten und Betrugsversuchen womöglich reichen, um Amri viele Jahre ins Gefängnis zu bringen. Seine Bewacher kennen seine Vorgeschichte. Doch die Berliner Staatsanwaltschaft, die wegen des Angriffs auf die Bar ermittelt, kennt sie wohl nicht. Sie beantragt keinen Haftbefehl, die Beweise reichen ihr nicht. Amri bleibt in Freiheit.
Daraufhin beschließt er offenbar, Deutschland zu verlassen, aus Angst vor Racheakten anderer Drogenhändler. Mit gefälschten Pässen und ein wenig Bargeld steigt er in einen Bus nach Süden. Er will offenbar nach Zürich. Die Ermittler wissen davon. Ausreisen darf er nicht. Später heißt es, man habe dem Nachbarland nicht einfach so die Einreise eines möglichen Terroristen zumuten wollen.
Bei einer gezielten Kontrolle nahe Friedrichshafen am Bodensee greift die Polizei zu. Sie findet seine falschen Pässe und nimmt ihn in Haft, bis über seine Abschiebung entschieden ist. Aber die Frist läuft nur bis zum nächsten Tag. Ihn in dieser Zeit abzuschieben, ist unmöglich zu schaffen, vor allem, weil Tunesien nicht kooperiert. Amri kommt wieder frei.
August 2016
Er zieht wieder nach Berlin und rutscht immer tiefer in die Drogenszene. Nimmt Ecstasy und Koks. "Wenig gefestigt" kommt er den Ermittlern vor. Aber handelt so ein Islamist, ein religiöser Fanatiker, fragen sie sich?
September 2016
Die anlassbezogene Überwachung von Amri wird eingestellt. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin urteilt, dass keine schwere staatsgefährdende Straftat bevorstehe.
Amri begeht das islamische Opferfest nicht. Für viele Ermittler ein Signal, dass er es mit der Religion nicht zu ernst meine. Andere sind alarmiert. Sie bemerken eine besondere Dynamik in islamistischen Kreisen – auch um Amri.
Unterdessen schickt der marokkanische Geheimdienst eine Warnung an das BKA und den BND. Amri habe Kontakt zum IS im Ausland und in Berlin und habe versucht, Mitglieder für die Terrormiliz anzuwerben.
Oktober 2016
Der marokkanische Geheimdienst warnt die deutschen Behörden erneut. Ein Anschlag stehe unmittelbar bevor.
Das tunesische Generalkonsulat lehnt einen Antrag ab, Amri zurückzunehmen. Die eingeschickten Fingerabdrücke habe es keinem Staatsbürger zuordnen können. In Kleve erhält Amri eine Duldung. Diese Papiere wird er nach seinem Attentat wohl absichtlich im Lkw zurücklassen.
Es wird ruhiger um Amri.
Dezember 2016
Am 19. Dezember tötet Amri erst den polnischen Fernfahrer Łukasz Urban, dann elf weitere Menschen, als er einen Lkw in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz steuert. Auf seiner Flucht zeigt er eine islamistische Siegesgeste in eine Überwachungskamera.
Zwei Tage später geht die Bestätigung bei den Behörden ein, dass Amri tunesischer Staatsbürger ist. Er ist mittlerweile nach Italien geflohen. Dort erschießen ihn zwei Tage später Polizisten, als er sie bei einer Kontrolle angreift.