"FKK bei der Klassenfahrt" Die nackte Wahrheit über Ost und West
Als Lars Schmidt, heute Redakteur bei t-online.de, 16 Jahre alt war, konnte er tiefe Einblicke nehmen: Zum Abschluss der Realschule war seine Klasse samt Lehrer und Lehrerin auf den Darß gefahren. Am Strand des beliebten Ostseebades zeigte man sich dann zwanglos: Nicht nur Schüler und Schülerinnen zogen sich aus. Auch die noch jungen Pädagogen legten alles ab und verbrachten die Tage mit der Klasse ohne Zwirn.
Im Osten sei man das gewohnt gewesen, so Schmidt heute. Niemand regte sich deswegen auf: "Wir riskierten vielleicht mal den einen oder anderen Blick. Im Großen und Ganzen aber war das Nacktsein nichts Besonderes."
FKK - nur was für Protestanten?
Nackt mit den Lehrern am Strand feiern? Im Westen praktisch undenkbar. Dabei war Prüderie traditionell weder hier noch dort sehr verbreitet: Bereits um die Jahrhundertwende hatte die Lebensreform-Bewegung Gesundheit und Nacktsein miteinander verknüpft.
In den eher fortschrittlichen protestantischen Gegenden, trafen neue Vorstellungen vom natürlichen Leben auf offene Ohren. Gemeinsam mit Schweden und Norwegen seien die protestantischen Regionen Deutschlands weltweit Vorreiter der FKK-Kultur gewesen, so Friedemann Schmoll, Leiter des Jenaer Instituts für Volkskunde.
Rolle der Nazis falsch eingeschätzt
Ausgerechnet die Nazis, verschafften der Toleranz gegenüber dem Körper später einen zweiten großen Boom. Dabei war weitgehend egal, wer Kinder mit wem zeugte, solange die Eltern als Arier galten - und junge Soldaten zeugten. Vor- und außerehelicher Sex? Bitte schön, aber dann wenigstens ohne Aufpassen, lautete das unausgesprochene Motto. "Gerade das Nazitum hat viele Brüche mit dem Konservatismus vollzogen", so Schmoll.
Nach dem Krieg entwickelten sich Ost und West erst einmal kräftig auseinander: Gestützt von den Kirchen und quasi als Reaktion auf die Unmoral des Dritten Reiches zog im Westen eine ganz neue Verklemmtheit ein. Vor allem Mädchen wurden wieder an die Kandare genommen.
Ausgezogen und nackt an Bäume gebunden
Im sozialistischen Osten dagegen ging es von Anfang an vergleichsweise lustig zu: Schon ab 1950 machte sich die Nackbadekultur an der Ostsee breit - zum Verdruss der SED.
Die schickte Kundschafter an die Strände und musste feststellen: Die meisten Nackten waren auch noch "Genossen unserer Partei" und die Ermittlungen nicht nur deshalb "schwieriger Natur", wie es in Akten der Volkspolizei heißt, die nach der Wiedervereinigung entdeckt wurden.
Vor allem Künstler und Intellektuelle tummelten sich nackt an Badeorten wie Ahrenshoop. Überall sei eine "große Sympathie für die Freikörperkultur" anzutreffen, warnten Beobachter. In der SED witterte man Dekadenz und Verfall und verbot das Nacktsein in der Öffentlichkeit weitegehend - ein schwerer Fehler.
Nicht nur in der Partei regte sich Protest. Von jetzt an, wurde das Umgehen des Verbots auch noch zum Volkssport für junge Leute: Bei sogenannten "Kamerun"-Festen tanzten halbnackte und martialisch körperbemalte Jugendliche um Totempfähle. Angezogenen Badegästen konnte es passieren, dass sie ausgezogen und nackt an Bäume gebunden wurden. Mancher angezogene Sittenwächter wurde von einer Horde nackter vollbekleidet ins Wasser geworfen.
Bis 1956 dauerte der Kulturkampf. Dann gab die SED klein bei und erlaubte das Nacktbaden in ausgewiesenen Zonen, die sich aber immer schneller ausdehnten. In den 80ern, so Zeitzeuge Schmidt, habe es faktisch keinen Unterschied zwischen FKK- und Textilzonen mehr gegeben. Spätestens seit der gesellschatlichen Liberalisierung der 70er Jahre waren viele in ihrer Freizeit nackt: Nicht nur am Strand, sondern auch in der Datsche, beim Campen, Grillen oder einfach nur zu Hause. Rund 80 Prozent aller DDR-Familien sollen FKK-Erfahrung gehabt haben.
Warum aber hatten die Ossis den Wessis bei der Nacktkultur so viel voraus? Im Westen war der Knoten erst mit der Liberalisierung durch die 68er-Bewegung geplatzt. Dann freilich zog die BRD-Gesellschaft schnell nach - wenn auch nie so umfassend wie die Brüder und Schwestern im Osten.
"Der Wessi muss nach außen hin perfekt sein"
Der bekannte Hallenser Psychiater Hans-Joachim Maaz sieht im Nacktsein der DDR-Bürger vor allem einen "Befreiungsakt": "FKK war eine Möglichkeit, sich außerhalb der DDR-Zivilisation anders zu geben, freizügig zu sein", so Maaz. Gerade bei der öffentlichen Nacktheit sei es paradoxerweise um die Verteidigung der Privatsphäre gegangen, glaubt auch Volkskundler und Soziologe Schmoll.
Als jedoch am Ende die Wiedervereinigung kam, hatte die Freie Körper-Kultur im Westen ihre Bedeutung schon wieder eingebüßt. Nase rümpfend starrten die ersten Wessi-Urlauber auf ihre nackten Landsleute an den Ostsee-Stränden.
Viele der Nackten seien ja nicht mehr gerade junge und auch entsprechend wenig attraktiv gewesen, so Maaz: "Den Ostdeutschen war das egal. Der Wessi hingegen ist mehr genötigt nach außen hin perfekt zu sein." Er achte mehr auf Etikette und Garderobe. Es sei ihm wichtig, vermeintlich Unschönes zu verbergen.
Heute hat die Wiedervereinigung auch hier Einzug gehalten: Baden die Alten immer noch gerne nackt, so hätten sich die Jungen eher an das westliche Empfinden angepasst und trügen Badekleidung. "Gerade, die es sich eigentlich "leisten" könnten", schmunzelt Maaz.
Hat die Wiedervereinigung Deutschland also verklemmter gemacht? Eher nicht. Immer noch gilt Deutschland als das Land mit der weltweit größten Akzeptanz für Nacktheit. Vielleicht sind wir ja jetzt so frei, dass wir uns selbst in Badehose und Bikini nicht mehr eingeengt fühlen.