Verhängnisvolle Pressekonferenz Schabowski öffnet versehentlich die Grenze
Am Abend des 9. November soll Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz eigentlich nur bekannt geben, dass die DDR eine neue Reiseverordnung plant. Doch das ZK-Mitglied ist schlecht vorbereitet - und gibt auf Nachfragen der Journalisten sehr missverständliche Informationen weiter. Die Folgen sind gravierend: "Die DDR öffnet die Grenze", melden die Nachrichten.
Die Meldung schlägt ein wie eine Bombe - und Tausende strömen zur Grenze, wollen bei diesem historischen Ereignis dabei sein - und schaffen dadurch Fakten, die die SED-Führung nicht mehr korrigieren kann.
Aus einer neuen Verordnung wird die Grenzöffnung
Der Reihe nach: Das Politbüro hatte im November dem Ministerrat den Auftrag erteilt, kurzfristig eine Reiseverordnung auszuarbeiten. Darin sollen eigentlich zwei Dinge neugeregelt werden: Zum einen soll eine ständige Ausreisen (also die Übersiedlung in den Westen) möglich sein, aber nur nach der Genehmigung eines entsprechenden Antrags. Zum zweiten sollen auch Besuchsreisen in den Westen möglich sein - bis zu 30 Tage im Jahr, die Erlaubnis soll jedoch an die Erteilung eines Visums und den Besitz eines Reisepasses gekoppelt sein. Einen Reisepass besitzen aber gerade einmal vier Millionen Bürger der DDR.
Am Nachmittag des 9. November stimmen Politbüro und Zentralkomitee dem Entwurf zu. Die neue Reiseverordnung soll am 10. November offiziell bekannt gegeben werden, damit man die Grenzbeamten noch entsprechend instruieren kann. Man übergibt Günter Schabowski ein Papier mit dem Entwurf und beauftragt ihn, die geplante neue Regelung auf einer Pressekonferenz vorzustellen.
Schabowski war weder bei den Beratungen dabei, er kennt weder den Wortlaut der neuen Reiseverordnung noch weiß er, wann sie gelten soll.
Auszug aus der Pressekonferenz:
Günter Schabowski: ...Und deshalb (äh) haben wir uns dazu entschlossen, heute (äh) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht (äh), über Grenzübergangspunkte der DDR (äh) auszureisen.
Frage: (Stimmengewirr) Das gilt...? Ohne Pass? Ohne Pass? Ab wann tritt das...? (...Stimmengewirr...) Ab wann tritt das in Kraft?
Schabowski: Bitte?
Frage (Peter Brinkmann, Journalist): Ab sofort? Ab...?
Schabowski: ... (kratzt sich am Kopf) Also, Genossen, mir ist das hier also mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon (äh) vorbereitet worden ist. Also (liest vom Blatt): "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu berteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen."
Frage (Riccardo Ehrman, Journalist): Mit Pass?
Frage: Wann tritt das in Kraft?
Schabowski: (blättert in den Papieren) Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich... (blättert weiter in den Unterlagen)
Frage (Peter Brinkmann, Journalist): Gilt das auch für Berlin-West?
Schabowski: (zuckt mit den Schultern, verzieht die Mundwinkel, blättert in den Papieren) Also (pause), doch, doch (liest vor): "Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen."
Bürger sind außer sich - und schaffen Fakten
Die Mitteilung wird sofort Spitzenthema in den Nachrichtensendungen der Bundesrepublik. Die unpräzisen Informationen von Schabowski eröffnen Interpretationsspielräume. "DDR öffnet Grenzen" meldet die Nachrichtenagentur Associated Press um 19.05 Uhr, die Deutsche Presseagentur meldet "Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach West-Berlin ist offen". Um 20.15 Uhr vermeldet auch die ARD-Tagesschau "DDR öffnet Grenze".
Die Berichte lösen einen Massenansturm in Ost- und West-Berlin aus. Die DDR-Grenzbeamten sind darauf völlig unvorbereitet - und überfordert. Am Grenzübergang Bornholmer Straße ist der Andrang besonders groß. Um 23.30 stellen die Grenzer alle Kontrollen ein und öffnen den Schlagbaum. Gegen Mitternacht stehen alle Grenzübergänge offen. Ost- und Westberliner feiern den Fall der Mauer.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung