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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schwarzes Leben in Deutschland "Wir reden hier von Menschenrechtsverletzungen"
Ob in der Schule, auf der Arbeit oder beim Arzt:
In Deutschland leben über eine Million Schwarze Menschen. Mit dem "Afrozensus" zeigt nun zum ersten Mal eine Studie auf, wie sie ihre Lebensrealität in Deutschland einschätzen – und die Ergebnisse schockieren: Mehr als 90 Prozent der Befragten geben an, Rassismus erlebt zu haben.
Die Politik müsse dringend aktiv werden, sagt Joshua Kwesi Aikins, einer der Autoren des "Afrozensus". Der Experte erklärt, nach welchen Mustern Rassismus funktioniert, was sich in der Gesellschaft ändern muss und warum der Koalitionsvertrag der neuen Regierung Hoffnung gibt.
Herr Aikins, der "Afrozensus" ist die erste systematische Untersuchung über die Lebensbedingungen von Schwarzen Menschen in Deutschland. Was zeigt die Studie?
Sie macht die Vielfalt Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Präsenz in Deutschland deutlich. Fast 5.800 Menschen aus 144 verschiedenen Geburtsländern haben daran teilgenommen – gleichzeitig sind über 70 Prozent aller Befragten in Deutschland geboren worden.
Im "Afrozensus" haben wir gefragt: Wie groß ist die erfahrene Diskriminierung – und wie groß das Vertrauen in die Institutionen in Deutschland? Es ging uns aber nicht nur um Diskriminierung und Rassismus. Wir wollten auch wissen: Wie bringen sich die Befragten in diese und andere Gesellschaften ein, wie steht es um ihr Engagement? Dabei kam heraus: Die Befragten sind in vielen Bereichen ehrenamtlich aktiv und tatsächlich etwas engagierter als der Durchschnitt der Bevölkerung in Deutschland.
Gab es in dem Bereich Diskriminierung besondere Auffälligkeiten?
Wir haben Diskriminierung in 14 Lebensbereichen untersucht und gefragt, welche bestimmten Formen von Rassismus Menschen erleben. Es war sehr auffällig, dass die Befragten trotz unterschiedlicher Lebensrealitäten viele Erfahrungen im Bereich des Anti-Schwarzen Rassismus teilen. Bestimmte Muster wiederholen sich immer wieder.
Joshua Kwesi Aikins ist Politikwissenschaftler an der Universität Kassel und Senior Research Scientist in der zivilgesellschaftlichen Organisation Citizens for Europe. Aikins ist Co-Autor der Studie Afrozensus 2020.
Welche Muster meinen Sie?
Zum Beispiel das Muster der Exotisierung. 90 Prozent der Befragten haben angegeben, dass ihnen ungefragt in die Haare gegriffen wird. Oder das Muster der Kriminalisierung: Über die Hälfte der Befragten wurden ohne Grund gefragt, ob sie Drogen verkaufen oder wurden von der Polizei kontrolliert. Diese Muster setzen sich leider fort, wenn es darum geht, Rassismus anzusprechen. Vielen wird dann vorgeworfen, sie seien selbst schuld oder das Thema wäre unpassend.
Im "Afrozensus" wurde nach verschiedenen Lebensbereichen wie Arbeitsleben, Wohnungsmarkt oder Gesundheitswesen gefragt. In welchem Bereich gibt es die drängendsten Probleme?
Schon in der Vorbereitung und im Austausch mit verschiedenen Organisationen wurde ziemlich deutlich, dass wir uns den Gesundheits- und Bildungssektor noch einmal vertieft anschauen müssen. Menschen erleben in diesen wichtigen Bereichen keine Gleichbehandlung. Dort läuft Anti-Schwarzer Rassismus so musterhaft ab, dass man sagen kann, er ist dort strukturell verankert.
Haben Sie ein Beispiel?
Beispielsweise im schulischen Kontext: Die rassistischen Zuschreibungen vom Lehrpersonal gingen so weit, dass Schwarzen Menschen von einer höheren Bildungskarriere abgeraten wurde. Wenn das Lehrpersonal solche Ideen in sich trägt, hat das natürlich große Auswirkungen auf Versetzungsempfehlungen – und den weiteren Bildungsweg.
Es gibt außerdem rassistische Inhalte im Lehrmaterial und rassistische Verhaltensweisen von Lehrern und Schülern. Das Problem: Diese Muster können sich wechselseitig verstärken. Wenn zum Beispiel im Geschichtsunterricht die Geschichte des Kolonialismus auf rassistische Weise gelehrt wird, dann erleben Schwarze Schüler direkt, dass sich Anfeindungen auf dem Pausenhof verstärken.
Wie kann das verhindert werden?
Institutionen müssen den Umgang mit Diskriminierung und Anti-Schwarzem Rassismus professionalisieren. Dafür müssen wir erst einmal anerkennen, dass Rassismus in Deutschland ganz offensichtlich strukturell verankert ist und breit geteilt wird.
Es muss klare Regeln und Definitionen geben. Menschen, die Rassismus erleben, sollten sich an Beschwerdestellen wenden können, bei denen mit ihrer Beschwerde professionell umgegangen wird. Im Bildungsbereich braucht es zum Beispiel in jedem Bundesland eine unabhängige Beschwerdestelle. Beratungsstrukturen, Selbstorganisationen und der staatliche Schutz müssen gestärkt und gefördert werden.
Ist das Aufgabe der Gesellschaft oder der Politik?
Wir reden hier von Menschenrechtsverletzungen. Es ist ganz klar eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sowohl der Staat als auch die Zivilgesellschaft sind aufgerufen, Anti-Schwarzen Rassismus zu adressieren und zu reduzieren. Das gilt auch für alle weiteren Diskriminierungsformen in Deutschland.
Die Frage kann nicht sein: Können wir überhaupt etwas verändern? Diesen Luxus eines solchen Fatalismus haben wir als Schwarze Menschen, habe ich als Vater von Schwarzen Kindern, nicht. Die Frage muss lauten: Was sind konkrete Schritte, die jetzt nötig sind? Dazu bieten wir im "Afrozensus" Handlungsempfehlungen auf Basis unserer Ergebnisse – sie sollen eine Grundlage sein, um in konkrete Diskussionen und ins Handeln zu kommen.
Anti-Schwarzer Rassismus vermindert Lebenschancen, sorgt für ungleiche Behandlungen und ist in einigen Fällen sogar tödlich. Wir müssen dringend aktiv werden. Da ist es ein wichtiges Zeichen, dass Rassismus gegen Schwarze Menschen zum ersten Mal in einem deutschen Koalitionsvertrag benannt wird.
Im Koalitionsvertrag hat die neue Bundesregierung Akzente gesetzt, zum Beispiel will sie die koloniale Vergangenheit Deutschlands aufarbeiten und Diskriminierung bekämpfen, insbesondere gegen Schwarze Menschen. Wie sieht für Sie antirassistische Politik aus?
Es ist eine Querschnittsaufgabe. Die genannten Maßnahmen sind zu begrüßen – aber sie reichen noch lange nicht. Der gesamte Politikbetrieb muss sich dieser Aufgabe stellen. Antirassistische Politik muss unterschiedliche Menschen in allen Bereichen von Politik und Verwaltung befähigen und animieren, aktiv zu werden mit der Frage: Wie können wir in unserer Rolle zur Zurückdrängung von Rassismus beitragen?
Trauen Sie das der neuen Bundesregierung, die von Menschen ohne Migrationshintergrund dominiert ist, zu?
Die Vorhaben dürfen sich nicht nur in wenigen Symbolprojekten erschöpfen. Wir beobachten jetzt intensiv, ob nach dem positiven Signal im Koalitionsvertrag handfeste Schritte erfolgen. Es ist gut, dass Schwarze Abgeordnete in den Bundestag gewählt wurden, die auch zu diesen Themen arbeiten. Man darf sie aber auch nicht auf diese Themen reduzieren.
Parteien müssen ihren internen Umgang mit Rassismus und anderen Diskriminierungshürden verbessern, statt einfach zu behaupten, so etwas gäbe es bei ihnen nicht. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass Schwarze Menschen und andere Menschen mit rassistischen Erfahrungen in allen Politikbereichen aktiv werden können. Die Perspektiven, die sich aus ihren Erfahrungen ergeben, sind für jedes Politikfeld relevant. Rassismus sollte kein Nischenthema bleiben. Aus der Schwarzen Perspektive besteht dringender Handlungsbedarf. Menschen, die jetzt in der Verantwortung stehen, dürfen nicht den Luxus haben, sich dem zu entziehen.
Ich bin – wie die meisten meiner Kollegen – weiß. Welchen Einfluss hat das auf Berichterstattung, was würden Sie ändern?
Schwarze Menschen müssen Zugang zum Medienapparat haben, der generell in Deutschland wesentlich weniger divers ist als die Gesellschaft. Das ist ein grundlegendes Problem. Es geht schon beim Zugang zum Studium oder zur Journalistenschule los. An den Orten, die zu einer journalistischen Qualifikation befähigen, sind Diskriminierung, Rassismus oder Sexualisierung Hürden, die ausschließend wirken.
Es ist wichtig, dass sich alle Menschen diesem Thema stellen – also auch Sie und Ihre weißen oder andere nicht-Schwarzen Kollegen. Dabei ist es wichtig anzuerkennen, dass Rassismus auch in Deutschland eine jahrhundertelange Geschichte hat, die die Gegenwart prägt.
Wie stärken wir denn Schwarze Menschen in den Medien?
Es geht um verstärkte Repräsentation, um Zugänge, um Mentoring und Empowerment. Schwarze Menschen sollten weder auf bestimmte Themenfelder reduziert werden, noch darf ihnen verwehrt werden, ihre Expertise und Analyse in die kollektive Schwarze Erfahrung einzubetten.
Auch hier ist wieder sehr wichtig: Die Berichterstattung und die Institutionen müssen professionalisiert werden. Wir müssen über die Diskussion von einzelnen persönlichen Erlebnissen – so wichtig sie auch sind – hinauskommen und sie in die Strukturverhältnisse der Gesellschaft einbetten.
Gibt es Fragen in Interviews, die Sie nicht mehr hören können?
Mir ist vollkommen klar, dass einzelne Erlebnisse zu einer guten Story dazugehören. Gleichzeitig zeigen die "Afrozensus"-Daten, wie weit verbreitet und tief verankert Anti-Schwarzer Rassismus in Deutschland ist. Und wenn dann die Frage gestellt wird – "Haben Sie denn tatsächlich schon einmal Rassismus erlebt?" –, dann greift das viel zu kurz, dann bringt uns das nicht weiter.
Natürlich habe ich als Schwarzer Mensch in Deutschland sehr vieles von dem, was im "Afrozensus" steht, selbst erfahren müssen – anderes, wie die spezifischen Erfahrungen Schwarzer Frauen, Schwarzer Transpersonen oder Geflüchteter, nicht. Ich kenne sie aber aus meinem Umfeld und der Arbeit zu Schwarzen Lebensrealitäten. Ich würde mir wünschen, dass es die Bereitschaft gibt, einzelne Erfahrungen stärker in das größere Gesamtbild einzuordnen. Wir publizieren seit Jahrzehnten zu diesem Thema – es gibt einen reichen Schatz an Quellen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Aikins!
Anmerkung: Schwarz wird in diesem Interview bewusst großgeschrieben. Warum? Das lesen Sie hier.
- Interview mit Joshua Kwesi Aikins am 22. Dezember 2021
- Afrozensus 2020