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Nach Russland aus Deutschland auswandern? Experte erläutert Kreml-Propaganda


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Kreml schürt Frust
"Es braut sich was zusammen"

  • Lars Wienand
InterviewVon Lars Wienand

29.12.2024Lesedauer: 6 Min.
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Autokorso zur Unterstützung Russlands (Symbolfoto): Unter Menschen mit russischem Hintergrund ist auch Auswandern aus Deutschland Thema, zeigt Forschung. (Quelle: THILO SCHMUELGEN/reuters)
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Auswandern nach Russland, weil da die Welt in Ordnung ist? Der Kreml kommt mit solcher Propaganda in Deutschland bei manchen Menschen mit russischem Hintergrund an, sagt ein Experte.

t-online-Recherchen zeigen, dass ein Netzwerk aus dem deutschsprachigen Raum Menschen aus dem Westen nach Russland lotsen will, angeführt von der Duma-Abgeordneten und Ex-Agentin Maria Butina. In russischen Quellen ist die Rede, Hunderttausende Unzufriedene wollten aus Europa und den USA auswandern. Doch was ist wirklich dran?

Das Phänomen gibt es, sagt Politikwissenschaftler Félix Krawatzek vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Er und ein Kollege haben nach einer aufwendigen Umfrage die aktuellsten und umfangreichsten Daten zu Überzeugungen und Haltungen von Menschen, die aus dem Raum der Russischen Föderation nach Deutschland gekommen sind. Bei ihrer Forschung sind sie zu ihrer eigenen Überraschung darauf gestoßen, dass Auswandern ein verbreitetes Thema ist.

t-online: Aus Russland wird behauptet, Hunderttausende aus dem Westen wollten nach Russland auswandern. Ist das bei Menschen mit russischem Hintergrund in Deutschland ein Thema?

Félix Krawatzek: Ich habe kürzlich bei einer Konferenz dazu mit Kollegen gesprochen und sehe mich in der Wissenschaftscommunity bestätigt: Da braut sich etwas zusammen. Aber es kann niemand einschätzen, in welchem Umfang. Wir hatten den Aspekt auch so zunächst bei der Umfrage noch gar nicht auf dem Schirm. Wie sehr das Thema ist, haben wir zu unserer Überraschung in anschließenden Gesprächsrunden in Kleingruppen festgestellt. In acht Gesprächsrunden mit insgesamt 80 Teilnehmern gab es immer Teilnehmer, die das aufgebracht haben.

Da waren Leute, die nach Russland auswandern?

Es haben selten Personen gesagt, dass sie das jetzt selbst vorhaben. Aber immer wieder kam auf, dass im Bekanntenkreis Personen sind, die dies ernsthaft planen, mit der Botschaft deshalb in Kontakt stehen oder den Schritt schon gegangen sind. Das verdichtet sich auf jeden Fall, auch wenn ich bisher noch keine Zahlen darüber gelesen habe. Auf Unterschiede zwischen Russen und russlanddeutschen Spätaussiedlern sind wir dabei nicht gestoßen.

Félix Krawatzek.
Félix Krawatzek. (Quelle: ZOiS)

Félix Krawatzek

Interviewpartner Félix Krawatzek hat im November die Studie "Mit Russlandhintergrund in Deutschland: Ansichten zu Politik, Gesellschaft und Geschichte" veröffentlicht, die auf Basis einer Meinungsumfrage unter 500 Menschen mit Russlandhintergrund und einer Vergleichsgruppe aus der allgemeinen deutschen Bevölkerung entstand. Krawatzek leitet seit September 2018 den Forschungsschwerpunkt Jugend und generationeller Wandel am ZOiS und seit 2022 das vom Europäischen Forschungsrat finanzierte Projekt Moving Russia(ns): Intergenerational Transmission of Memories Abroad and at Home. Promoviert hat er am Department of Politics and International Relations der Universität Oxford. Als Gastdozent war er am Center for Russian and Eurasian Studies der Universität Harvard und der Universität Aarhus tätig.

In Ihrer Umfrage kam raus, dass die zweite Generation eine skeptischere Haltung gegenüber der Demokratie hat und sich deutlich weniger an Wahlen beteiligt. Sind das die, die gehen wollen?

Wahlbeteiligung ist nicht der beste Erklärungsansatz. Wenn man frustriert ist und kremlnahe Positionen und grundsätzlichen Wechsel in der deutschen Politik will, gibt es ja Parteien, die einen da abholen. Es sind eher die Älteren, die nach unseren Eindrücken Deutschland verlassen wollen, und da sehen wir eine Gemengelage aus Frustration mit gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland.

Frust worüber?

Keine große Rolle für die Menschen spielen in unseren Daten Wirtschaftspolitik, sachpolitische und materielle Fragen. Im Vordergrund stehen ideelle Fragen. Vor allem Geschlechternormen, was hier eigentlich "das Normale" ist und, wie wir miteinander umgehen. Diese Fragen haben eine stärkere emotionale Komponente, und hier liegt der Schlüssel.

Das polarisiert auch in der übrigen Bevölkerung.

Man sieht aber in unserer Umfrage bei der Bevölkerung mit russischem Hintergrund deutliche Unterschiede und eine viel größere Streuung bei den Antworten. Die Ablehnung dafür ist deutlich größer bei der Gruppe mit russischem Hintergrund als in der befragten Personengruppe mit Menschen ohne russischen Migrationshintergrund.

Sie haben dazu gefragt, ob Männer die Freiheit haben sollten, Kleider und Make-up zu tragen und ob Befragte eine Person im eigenen Haushalt aufnehmen würden, die sich weder als Mann noch als Frau identifiziert.

Unter den Jungen mit russischem Hintergrund gibt es mehr Toleranz als bei den Älteren aus der eigenen Gruppe und so viel wie unter den Älteren in der Bevölkerung ohne Russlandhintergrund. Vom Durchschnitt weichen bei den Menschen mit russischem Hintergrund mehr einzelne Einschätzungen stark ab, etwa anderthalbmal mehr. Das heißt, dieses Thema polarisiert deutlich stärker in der russischen Gemeinschaft in Deutschland. Wir haben auch häufiger gehört, dass es das bestimmende große politische Thema in Deutschland sei. Das ist eine Fixierung.

Weil diese Menschen es in Beiträgen aus Russland so gezeigt bekommen?

Wenn man sich die Kreml-Narrative anschaut, dann ist Europa tatsächlich eine endlose Gay Parade und die Menschen im Westen beschäftigt nichts anderes. Es ist aber schwierig, eine Kausalkette zu zeigen im Sinne von "Die konsumieren russische Staatsmedien und deswegen denken die so". Da muss man vorsichtig sein. Klar ist, und das hat die Umfrage auch gezeigt, die Russen und Russlanddeutschen in Deutschland sind in Summe deutlich konservativer. Und in den russischen Medien gibt es noch einen anderen Aspekt.

Welchen?

In Beiträgen russischer Staatsmedien wird hervorgehoben, dass die russische Wirtschaft erfolgreich sei und Menschen auch nach Russland auswandern möchten, um dem vermeintlich perspektivlosen Europa zu entkommen. Der schillernde Sprachgebrauch ist dann häufig "Repatriierung". Mit einer gewissen Genugtuung wird in der Propaganda der Kontrast zur Abwanderung aus den Ex-UdSSR-Staaten in den 90er Jahren hervorgehoben.

Nach Ihren Eindrücken geht es aber darum eher weniger, wenn Menschen mit russischem Hintergrund über Auswanderung nachdenken. Gab es für solche Pläne denn auch Widerspruch?

Bei Teilnehmern in unseren Kleingruppen gab es Unverständnis für Auswanderung. Das muss man auch festhalten: Wir reden von einer Minderheit, und in der Gruppe mit Russlandhintergrund gibt es auch entschiedene Putin-Kritiker. Und bei denen, die über Auswandern nachdenken, sehen wir auch einen Zwischenschritt: Drittstaaten. Man ist zwar frustriert von Umständen in Deutschland, findet aber einen Umzug nach Russland zu kompliziert fürs eigene Unternehmen oder für den Kontakt mit der Familie in Deutschland. Gerade Männer denken auch an das Risiko, eingezogen zu werden. Interviewpartner sprachen beispielsweise davon, erstmal nach Mazedonien oder Serbien zu ziehen.

Und welche Rolle spielt der Gedanke, dem Krieg führenden Russland beizustehen?

Vielleicht in einzelnen Fällen. Aus den Antworten zum Komplex Krieg lässt sich auf einen harten Kern von 20 Prozent der Leute mit russischem Hintergrund schließen, die beim Ukraine-Krieg ganz klar auf der Kreml-Linie sind. Das ist nicht die Mehrheit. Frappierend ist vor allem, wie in der Gruppe auch ein anderes Geschichtsbild dominiert.

Wie das?

Wer die aus unserer Sicht revisionistischen Narrative auf den russischen Krieg in der Ukraine unterstützt, blickt anders auf die Stalinzeit und auf die Verbrechen der Roten Armee an der Bevölkerung und aufs gesamte Sowjet-Erbe. In dieser Weltsicht war man immer auf der Seite der Guten und hat Europa selbstlos vom Faschismus befreit, was "der Westen" nicht hinreichend würdigt. Die gegenwärtige Politik wird mit einer Zeitlichkeit nach hinten verbunden.

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Zuvor hatte es keine Anzeichen gegeben, dass Rückkehr nach Russland ein Thema sein könnte?

Russen und Russlanddeutsche in Deutschland sind eine Migrantengruppe, die gar nicht mehr so transnational verbunden ist – wie etwa Türkischstämmige – und wenig Zeit in Russland verbracht hat. Bei der Umfrage waren zwei Drittel der jüngeren Generation mit russischem Hintergrund in den vergangenen fünf Jahren gar nicht in Russland. Und nur ein ganz kleiner Teil war mal länger da. Geringe Bindung ist ein Anhaltspunkt, dass man eigentlich nicht viele Auswanderer zurückerwarten sollte.

Das spricht für Sie gegen eine Auswanderungswelle.

Ich würde es trotzdem nicht runterspielen. Selbst wenn es vielleicht nur Tausende sind: Es ist ein weiteres Indiz, dass diese russischen Narrative, wo Gut und Böse ist, auf Reisen gehen, hier ankommen und zu Handlungen führen. Leute mit vernünftigem Job sind bereit, einen stabilen, komfortablen Lebensstandard in Deutschland aufzugeben für ein Gesellschaftsideal und aus Frust. Hier ändern sich nicht nur Meinungen, und jemand wählt AfD oder BSW, wofür wir in der Gruppe eine erhöhte Wahrscheinlichkeit sehen. Man geht auch diesen nächsten Schritt. Es gilt also hinzuschauen, wie weit diese Narrative in Deutschland Wurzeln schlagen.

Ein Teil der Aufgabe des ZOiS ist es, der Politik Informationen an die Hand zu geben.

Im Kontext unseres Berichts kamen schon Fragen, und wir sind mit verschiedenen Ministerien in Kontakt. Aber das Ausmaß lässt sich derzeitig schlecht qualifizieren und auch in russischen Medien spricht man schlicht von "vielen" Personen, die Deutschland für Russland angeblich verlassen haben.

Gibt es denn absehbar Forschung, die daran anknüpft?

Es wäre sehr spannend. Aber Teilnehmer für Umfrage und Fokusgruppen zu finden, die breit gestreut sind in die verschiedenen Gesellschaftsschichten, geografisch, sozial und mit verschiedenen Zuwanderungshintergründen, ist ungemein kostspielig. Traditionell ist das auch eine Gruppe, die sich nicht gerne in sozialwissenschaftlichen Studien erforschen lässt.

Danke für das Gespräch.

Verwendete Quellen
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