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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mädchen gequält Mobbing-Video aus Heide: AfD-Politiker unter den Beschuldigten
Populistische Politiker posten gerne Videos, die Empörung schüren. Zwei AfD-Politikern drohen Strafen, weil sie die Rechte eines zwölfjährigen Opfers ignoriert haben sollen. Sie sind nur die prominentesten Beschuldigten.
Der Mord an der zwölfjährigen Luise in Freudenberg durch zwei 12 und 13 Jahre alte Mädchen löste im März 2023 eine Welle von Entsetzen, aber auch von Wut und Falschmeldungen aus. Als bekannt wurde, dass die beiden Kinder ihre Mitschülerin erstochen hatten, wurde auch ein Video von brutalem Mobbing eines Mädchens verbreitet, obwohl das mit dem Fall gar nichts zu tun hatte. Bis heute gehen deshalb noch Anzeigen ein. Eine hat gerade einen AfD-Abgeordneten seine Immunität gekostet und könnte einem früheren AfD-Landesvorsitzenden einen Strafbefehl einbringen.
Der Rechtsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags hat dem AfD-Landtagsabgeordneten Joachim Paul in der vergangenen Woche die Immunität entzogen, damit gegen ihn weiter ermittelt werden kann. Am 21. März 2023 hatte er ein Video getwittert. Paul postete die 59 Sekunden, in denen ein Kind vor der Kamera von Jugendlichen erniedrigt und gedemütigt wird, verzweifelt um Gnade fleht und mit dem schwer zu ertragenden Video auch noch ungefragt der Öffentlichkeit ausgesetzt ist.
Dutzende Anzeigen bei Staatsanwaltschaft Itzehoe
Es wurde an diesem Tag oft gepostet – von den einen mit der falschen Behauptung, es zeige, wie das Mordopfer Luise kurz vor der Tat drangsaliert, geschlagen und bespuckt wurde. Andere posteten den Clip als weiteren Beleg dafür, dass die Strafmündigkeit von Kindern gesenkt werden müsse und zur Stimmungsmache: Unter den Tätern waren Kinder und Jugendliche mit möglichem Migrationshintergrund.
Eine hilfloses Opfer ohne dessen Zustimmung zur Schau zu stellen – das kann strafbar sein. Es geht um den Paragrafen 201a, die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen. Deshalb läuft nun das Verfahren gegen den AfD-Politiker. Es ist nur eines von "Dutzenden", von denen allein die Staatsanwaltschaft in Itzehoe in Schleswig-Holstein weiß. Denn in deren Zuständigkeitsbereich in Heide hatte sich das Geschehen in dem Video am 21. Februar 2023 abgespielt. Deshalb meldete sich auch Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU): Dass die Täterinnen alles gefilmt und das Video verbreitet hätten, verlängere die Qualen des Opfers. "Wer das Video teilt, schädigt das Opfer wieder und wieder."
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AfD-Politiker Paul bekam auch solche Reaktionen nach seinem Posting und ließ per Umfrage abstimmen: "Sollte man das Täter-Video aus Heide posten, um die Öffentlichkeit aufzuklären? Oder leidet das Opfer so erneut?" Bei der doppelten Frage war nicht eindeutig, was ein "Ja" und was ein Nein heißen soll, die Mehrheit stimmte mit "Nein" ab. Manche Nutzer leiteten ein Recht der Öffentlichkeit ab, solche Bilder zu sehen – ohne Rücksicht auf das Opfer.
Paul schimpfte über Sperrung des Videos
Dem AfD-Politiker wurde die Entscheidung über sein Video abgenommen – Twitter sperrte es. Paul, der als Berufsschullehrer in die Politik einstieg, zeigte sich damals uneinsichtig: "Ich nehme an, dass das auf Grundlage des NetzDG (Netzwerkdurchsetzungsgesetz zur Entfernung illegaler Inhalte aus Netzwerken, Anm. d. Red.) erfolgt ist. Das ich natürlich ablehne und politisch bekämpfe."
Einen Monat später bekam er die Information, dass er offenbar angezeigt wurde. Der Eingang war bei der Onlinewache der Polizei Rheinland-Pfalz, teilt die Staatsanwaltschaft Koblenz t-online mit. Die Ermittlungen bedeuten keinen Schuldspruch, es gilt die Unschuldsvermutung.
In der AfD läuft gegen ihn, Mitglied im Bundesvorstand bis 2022, auch ein Verfahren. Wegen des Vorwurfs, für ein Foto das rechtsextreme "White Power"-Zeichen geformt zu haben, bekam er eine Sperre für Parteiämter. Er kündigte an, dagegen vorzugehen. Er habe nur das Okay-Zeichen ohne extremistischen Hintergrund gemacht.
Anzeigen wie die gegen Paul wegen des Verbreitens des Videos können überall erstattet werden. Die Zuständigkeit liegt in solchen Fällen dort, wo der Ersteller eines Beitrags wohnt. Deshalb ist keine Zahl bekannt, wie viele Ermittlungsverfahren es wegen des Videos aus Heide deutschlandweit gibt. Sicher ist: Quer durch die Republik waren oder sind Ermittlungsbehörden mit dem Folter-Video befasst.
Strafbefehl gegen Georg Pazderski beantragt
Die Staatsanwaltschaft Itzehoe hat den Großteil der Anzeigen, die bei ihr gegen Verbreiter des Videos eingegangen sind, an örtlich zuständige Staatsanwaltschaften abgegeben. Die bislang letzte wurde bei ihr kurz vor Jahresende 2023 erstattet, sagte ein Sprecher t-online. Es gibt immer noch Menschen, die das Video der Tortur des Mädchens neu verbreiten.
In Itzehoe selbst sind alle Verfahren gegen Verdächtige von dort eingestellt worden: Die Erziehungsberechtigten des gequälten Mädchens hätten Ruhe in die Sache bringen wollen und keinen Strafantrag gestellt. Staatsanwaltschaften können dann dennoch weiter ermitteln, wenn sie selbst ein "besonderes öffentliches Interesse" feststellen. Das hat die Staatsanwaltschaft Koblenz im Fall von Paul getan.
Und das hat auch die Staatsanwaltschaft Berlin getan. Sie hat den Erlass eines Strafbefehls gegen den früheren Berliner AfD-Landesvorsitzenden Georg Pazderski beantragt, der das Video auch geteilt hat. Die zuständige Richterin am Amtsgericht Tiergarten hat darüber noch nicht entschieden, teilte eine Sprecherin der Berliner Strafgerichte auf Anfrage von t-online mit. Wenn das Gericht einen Strafbefehl verhängt, kann Pazderski diesen annehmen oder Einspruch einlegen, dann käme es zu einer Verhandlung.
Pazderski war von 2017 bis 2019 stellvertretender AfD-Bundesvorsitzender, gehörte bis 2021 dem Berliner Abgeordnetenhaus an und war dort Fraktionsvorsitzender der AfD. Er hatte zu dem Video aus Heide geschrieben, es seien "Drecksweiber". Und weiter: "Alle sofort bestrafen, wegsperren und ihre Eltern gleich mit. Und wo möglich abschieben."
Das Mobbing in Heide endete mit Verwarnungen für vier Mädchen wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung, Sachbeschädigung und Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen. Die Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 müssen zudem jeweils 50 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten und ein Anti-Gewalt-Training absolvieren. Die Mutter des gequälten Kindes berichtete, dass zwei der Prügel-Mädchen zu ihnen gekommen seien, um sich bei ihrer Tochter zu entschuldigen. Die Teenager hätten miteinander gesprochen, sich umarmt, geweint, berichtete sie RTL.
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Verbreiten der Fotos der Freudenberg-Täterinnen bleibt folgenlos
Das Verfahren gegen die beiden Mädchen, die Luise getötet haben, ist eingestellt worden, wie im September bekannt wurde. Einen Prozess gegen sie wird es nicht geben, weil sie mit 12 und 13 Jahren nicht strafmündig sind. Ermittelt wurde noch, ob weitere, dann vielleicht strafmündige Personen beteiligt waren. Dafür ergaben sich keine Hinweise.
Von den beiden Täterinnen aus Freudenberg waren ebenfalls Fotos verbreitet worden. Mehr als 100 Anzeigen landeten bei der Staatsanwaltschaft Siegen. Doch hier bleiben die Postings ohne juristische Folgen für die entsprechenden Nutzer, wenn nicht andere Straftaten wie Bedrohung oder Aufrufe zu Straftaten hinzukommen. Die Bilder der Täterinnen zu posten, ist "nur" ein Verstoß gegen das Kunsturhebergesetz. Da kann nur ermittelt werden, wenn Betroffene Strafantrag stellen. Das geschah nicht, und die Ausnahme des besonderen öffentlichen Interesses ist hier im Gesetz nicht vorgesehen. "Das hätte man aber in etlichen Fällen sicher auch erkennen können", sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Siegen.
Wenn Kinder oder Jugendliche in seelische Not geraten, finden sie bei der "Nummer gegen Kummer" online Hilfe, ein offenes Ohr und Menschen, die ihnen weiterhelfen. Kinder und Jugendliche finden Hilfe telefonisch unter 116111, Eltern in solchen Fällen unter 0800-1110550
- Anfrage an Staatsanwaltschaft Koblenz, Staatsanwaltschaft Itzehoe und Staatsanwaltschaft Siegen
- schleswig-holstein.de: Prien zu Gewaltvorfall in Heide