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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chaotischer Abzug aus Afghanistan Selbst die Super-Weltmacht versagt
Die Bilder aus Kabul wecken in den USA traumatische Erinnerungen an das Ende des Vietnamkriegs. Und sie zeigen, wie sehr sich gleich mehrere Präsidenten verkalkuliert haben – auch Joe Biden.
Bis Sonntag war Rangina Hamidi die Bildungsministerin Afghanistans. Dann erfährt sie, dass Aschraf Ghani, der Präsident, das Land verlassen hat. Und kann es nicht glauben. Wenn das wirklich stimme, sagt sie in einem Interview mit der britischen BBC, sei das eine Schande. "Das Traurigste ist, dass ich das nicht erwartet habe. Ich habe das nicht erwartet von dem Präsidenten, den ich kenne und dem ich vollkommen vertraut habe." Sie werde nun voraussichtlich Konsequenzen zu tragen haben, von denen sie nicht einmal geträumt habe.
Während Rangina Hamidis Stimme bricht, stürmen Tausende ihrer Landsleute verzweifelt zum Flughafen in Kabul, um den Taliban und deren Schreckensherrschaft zu entkommen. Es sind Bilder vom Hindukusch, die pure Todesangst jener Menschen transportieren, die 20 Jahre lang eine Freiheit erlebt haben, die sie nun mit dem Leben bezahlen könnten. Sollten sie es nicht in eines der Flugzeuge schaffen, die aus Kanada, den USA oder Deutschland kommend eine Art Luftbrücke bilden – vornehmlich, um eigene Staatsangehörige auszufliegen.
Biden hüllt sich in Schweigen
Während US-Soldaten Gewehrsalven in die Luft schießen, um die panischen Menschen in Schach zu halten, hüllt sich die Biden-Regierung im Weißen Haus in Washington an diesem denkwürdigen Sonntag in Schweigen. Der US-Präsident weilt in Camp David. Lediglich ein Foto, das Joe Biden bei einer Videokonferenz mit seinen Sicherheitsberatern zeigt, sendet man über Twitter.
Im Kampf um die Macht der Bilder geht es unter. Videos von Bidens Äußerungen vom Juli bestimmen stattdessen die sozialen Medien. Vor wenigen Wochen verstieg sich der Präsident in einer Pressekonferenz zu der Aussage, die Taliban seien in keiner Weise vergleichbar mit der nordvietnamesischen Armee. "Unter keinen Umständen wird es geschehen, dass Menschen vom Dach der Botschaft geholt werden müssen." So wie 1975.
Es geht millionenfach um Leben und Tod
Es ist anders gekommen. Anders, als Joe Biden es prognostizierte und seine Geheimdienste es ihm womöglich mitteilten. Bei der Evakuierung aus Kabul geht es um Leben und Tod. Auf den Straßen peitschen und erschießen die Taliban bereits Menschen, die sie als ihre Gegner ausmachen. Jene, die es nicht zum Flughafen schaffen, verstecken sich in Kellern und verschicken Abschiedsgrüße – auch an befreundete Bundeswehrsoldaten, an Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und an Freunde und Angehörige.
Die Totenstille aus dem Weißen Haus wird an diesem Tag in Washington übertönt von Hunderten wütender Exil-Afghanen. Direkt vor dem Zaun des Präsidentensitzes marschieren Hunderte Menschen im Kreis. Sie rufen: "Free, free Afghanistan!" und "Shame, shame Biden!". Auf ihren Schildern ist zu lesen: "Another US-Failure", "Silence is Violence" und "Biden betrayed us".
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Doch die US-Regierung bleibt bei ihrer Sicht, die da lautet: "Unsere Mission ist erfüllt." Dieser Prozess läuft im Grunde spätestens seit 2014. Bereits US-Präsident Barack Obama kündigte den Abzug an. Und Joe Biden war offenbar schon immer ein Skeptiker des 20 Jahre andauernden Einsatzes. Man könnte sagen, das Versagen der Amerikaner hat viele Väter – angefangen bei George W. Bush, der den Einsatz einst befohlen hatte. Wirklich konkret aber wurden die Abzugspläne schließlich unter Donald Trump.
"Das bilaterale Abkommen zwischen der Regierung von Donald Trump und den Taliban, unter Umgehung der gewählten afghanischen Regierung, war der Kardinalfehler", sagt Constanze Stelzenmüller, Transatlantik-Expertin der Brookings Institution in Washington. Damit seien auch die Hilfsorganisationen und die Zivilgesellschaft hilflos den Aufständischen ausgeliefert worden.
"Das sind alles schwere Fehler"
Dennoch, der amtierende Präsident Joe Biden hätte nicht an Trumps verkündetem Abzug festhalten müssen. Die Verantwortung, zumindest die für die vergangenen Monate, liegt bei ihm. "Er fühlt sich offensichtlich auch innenpolitisch unter Druck, den Abzug zu beenden – beziehungsweise war er der Ansicht, es würde ihm schaden, Trumps Entscheidung rückgängig zu machen", so Stelzenmüller.
Womöglich eine schwere Fehleinschätzung von Biden, die ihm nun außen- und auch innenpolitisch schwere Probleme bereiten dürfte. Insbesondere die Republikaner kritisieren den Präsidenten heftig. Sein Vorgänger Donald Trump ließ über seine Sprecherin Liz Harrington bereits vor dem Wochenende verkünden: "Tragisches Durcheinander in Afghanistan, eine völlig offene und kaputte Grenze, Kriminalität auf Rekordniveau, Ölpreise, die in die Höhe schnellen, die Inflation steigt und wir werden von der ganzen Welt ausgenutzt – Do you miss me yet?"
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Tatsächlich wirkt der Abzug hochgefährlich und chaotisch. Dass das US-Außenministerium dann bekannt gab, es würden schnell noch 1000 weitere Soldaten zur Absicherung nach Kabul geschickt, verstärkte den Eindruck der Kopflosigkeit nur noch mehr.
Für Constanze Stelzenmüller hat Biden aus vielen Gründen versagt: Sie nennt die Hast des Abzugs, die Verbindung mit dem Jahrestag von 9/11, die Entscheidung, den Abmarsch noch mal auf den amerikanischen Unabhängigkeitstag vorzuziehen, die mangelnde Absprache mit den Verbündeten und die fehlende Fürsorge für die Helfer und die zurückgelassenen Afghanen. "Das sind alles schwere Fehler", sagt Stelzenmüller.
Das Ansehen der Biden-Regierung werde nun auch bei den Freunden angeschlagen sein. "Seine Feinde – innen und außen – werden sich ermutigt fühlen." Und das sei auch für Europa, auch für Deutschland ein Problem.
- Eigene Recherchen
- Schriftliches Interview mit Constanze Stelzenmüller
- Interview mit Rangina Hamidi bei der BBC