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Zum 50. Todestag von Adorno: Lasst uns über das Entscheidende reden: Kapitalismus!


Meinung
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Zum 50. Todestag von Theodor W. Adorno
Lasst uns über das Entscheidende reden: Kapitalismus!

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

Aktualisiert am 05.08.2019Lesedauer: 5 Min.
Theodor W. Adorno: Philosoph und Soziologe. Seine Schriften haben auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren.Vergrößern des Bildes
Theodor W. Adorno: Philosoph und Soziologe. Seine Schriften haben auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren. (Quelle: ullstein-bild)

Es wird Zeit, an einen großen Denker zu erinnern, der uns Heutigen viel zu sagen hat: Theodor W. Adorno. Wir können ihn wiederentdecken, wenn sein Verlag mehr seiner großartigen Vorträge veröffentlicht.

Am Dienstag vor 50 Jahren verstarb ein deutscher Philosoph, der zu den einflussreichsten Denkern seiner Zeit gehörte. Seine Bücher fanden Leser in vielen Sprachen auf vielen Kontinenten. Er hieß Theodor W. Adorno, seine Freunde nannten ihn Teddy. Mit seinem Freund Max Horkheimer begründete er die Frankfurter Schule und die Kritische Theorie. Gemeinsam schrieben sie die "Dialektik der Aufklärung", 1944 veröffentlicht, die uns nach wie vor den allergrößten Respekt abnötigt.

Aufklärung ist gut, das versteht sich. Aber wie lassen sich Krieg, Faschismus und Auschwitz damit vereinbaren – die absolute Antithese zum Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit? Dieser alles entscheidenden Frage des 20. Jahrhunderts gingen die beiden als erste nach. Wer tiefgründiges Denken und Leidenschaft für Humanität zu schätzen weiß, sollte den gar nicht dicken Klassiker zur Hand nehmen.

Verstehen macht glücklich.

Adorno, geboren 1903, war ein Genie, ein universell gebildeter Mann mit vielen Talenten, die er in seinem hochbürgerlichen Frankfurter Elternhaus von Kindheit an reich entfalten konnte. Die Musik erfasste ihn am stärksten, er komponierte und spielte exzellent Klavier. Ihn faszinierte die Moderne, das war damals die Zwölftonmusik, die er an Alban Berg und Arnold Schönberg studierte. Mit Berg befreundete er sich und wäre gern Musikkritiker geworden.

Aber wer so vielseitig begabt ist, beschränkt sich nicht. Adorno war Philosoph und Soziologe, der genauso gut Psychologie hätte lehren können, oder Musiktheorie. Er schulte sich an Denkern: an Kant und Hegel, an Marx und Freud. Er grenzte sich ab von Heidegger und Wittgenstein. Menschen wie Adorno studieren nicht Systeme oder Gedankengebäude, sondern denkende Menschen, die sie anziehen oder abstoßen.

Beneidenswerter Freundeskreis

Beneidenswert ist auch der Freundeskreis, in dem er sich bewegte: Leo Löwenthal und Erich Fromm waren Kindheitsfreunde, später natürlich Horkheimer, dann Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer oder Ernst Bloch. Wie selbstverständlich kannte er Brecht und Weill und Eisler. Das intellektuelle Deutschland der Weimarer Republik war seine Lebenswelt und sein Nährboden.

Von vielen dieser Geistesgrößen lässt sich sagen: Sie stammten aus konvertierten jüdischen Familien, sie verstanden sich nicht als Juden, erst Hitler machte sie dazu. Adorno ging rechtzeitig außer Landes. Über Großbritannien gelangte er in die USA, lebte in New York und dann in Los Angeles, in Nachbarschaft zu Thomas Mann und Lion Feuchtwanger. Horkheimer hatte das Institut für Sozialforschung gegründet, in dem Adorno mitarbeitete und damit seinen Lebensunterhalt finanzierte. Hier schrieb er seine berühmten "Minima Moralia" und die "Philosophie der neuen Musik".

Horkheimer kehrte schon 1949 nach Deutschland zurück, Adorno folgte ihm 1953. Beide wurden auf Lehrstühle für Philosophie und Soziologie in Frankfurt berufen. Gemeinsam machten sie die Stadt am Main zum Zentrum der Philosophie. Ein Segen für das Nachkriegsdeutschland. Eine erstaunliche Vorurteilslosigkeit von Menschen, die jeden Grund zu Vorurteilsgeladenheit gehabt hätten.

Den zweiten Adorno sollten wir noch kennenlernen

Interessant an Adorno ist, dass es ihn zweimal gibt: den Schreiber schwieriger Bücher mit einem Hang zu manierierter Sprache, und den Pädagogen, der sich um Verständlichkeit bemühte und sein Publikum nicht aus den Augen verlor, das ihm bei Vorträgen an Universitäten oder Kulturinstitutionen oder im Radio lauschte.

Den zweiten Adorno, den öffentlichen Intellektuellen, können wir vielleicht bald wieder entdecken. Bei den Nachlassverwaltern und seinem Verlag liegen Schätze aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, die unbedingt gehoben werden sollten. Ein Bändchen, das vor Kurzem herausgekommen ist, "Aspekte des Rechtsextremismus" heißt und im Handumdrehen vergriffen war, lässt auf mehr hoffen.

Das Bändchen gründet auf einem Vortrag, den Adorno am 6. April 1967 an der Wiener Universität hielt. In jenen Tagen demonstrierten nicht nur die linken Demonstranten gegen Vietnam und Auswüchse des Kapitalismus. Zugleich schien die NPD auf dem Marsch durch die Institutionen zu sein. Innerhalb kurzer Zeit sollte sie in sieben Landtagen sitzen und war drauf und dran, auch in den Bundestag einzuziehen. Grund genug für eine öffentliche Stellungnahme.

Wer Adorno liest, denkt zwangsläufig an die AfD

Wer Adorno heute liest, denkt zwangsläufig an die AfD. Die NPD hing noch an Hitlers kurzer Leine. Die AfD ist nicht die NPD, jedenfalls nicht im Kern. Dabei wollen wir es belassen, denn entscheidend ist das Phänomen, wie uns Adorno lehrt: Schlagartig hat eine rechte Partei mit eigenen Wurzeln rasanten Erfolg und sorgt für Panik in den etablierten Kreisen, in politischen wie ökonomischen und kulturellen. Wie kann das sein und was passiert da?

Adorno lesen heißt, die Gegenwart auf den Begriff bringen. Den Erfolg der AfD könne man mit den "Konzentrationstendenzen des Kapitalismus" verstehen, der zur "Deklassierung ganzer Schichten" führe. Dazu komme die heraufziehende "technologische Arbeitslosigkeit", womit heute die Digitalisierung der Prozesse gemeint ist, vor der sich schon jetzt die "potentiellen Arbeitslosen" fürchteten, die präventiv darauf reagierten, indem sie rechts wählten.

Warum wählen solche Leute nicht links, sondern rechts? Weil sie, sagt Adorno, "die Schuld an der eigenen Deklassierung nicht etwa auf die Apparatur" schieben, womit der Kapitalismus gemeint ist, sondern auf diejenigen, denen sie vertrauten und von denen sie sich nun verlassen glauben. Schöner kann man den Niedergang der SPD und das Stagnieren der Linken nicht beschreiben.

Die Stärke der AfD ist ihre Rückwärtsgewandtheit

Das rechte Phänomen lässt sich nicht allein ökonomisch neutralisieren, zum Beispiel durch Steuererhöhungen oder milde Gaben vom Staat und auch nicht durch eine verspätete Wir-haben-verstanden-Beschwörung. Die Kluft ist groß und lässt sich nicht mir nichts, dir nichts verkleinern.

Die AfD hat sich als Gegenbewegung gefestigt und wendet sich ab von Staat und Regierung. Ihre Radikalität bedingt ihren Erfolg. Sie sucht ihre Heimstatt im abgedankten Nationalismus und sogar im völkischen Denken – eben im Gestern. Dabei ist die gedankliche Rückwärtsbewegung, sagt Adorno, nicht etwa Ausdruck ihrer Schwäche, sondern ihrer Stärke. Gerade weil das Früher nicht mehr im Heute existiert, können die Ideologie und ihre Überzeugungen "ihr Dämonisches, ihr wahrhaft Zerstörerisches annehmen".

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Von Adorno lernen, heißt über Kapitalismus reden. Es ist an der Zeit, dass Staat und Regierungen den wild gewordenen Kapitalismus einfangen, nachdem Banken und die Automobilindustrie Betrug begangen haben. Daher wäre auch die SPD gut beraten, wenn sie sich auf ihre besseren Zeiten besinnen und über kapitalistische Reformen nachdenken würde.

Gut möglich, dass die AfD ihren Zenit schon erreicht hat

Seinen Vortrag hielt Adorno im Jahr 1967. Als er den Stand des Kapitalismus analysierte, war die NPD auf ihrem Zenit. In den Bundestag schaffte sie es nicht, sie versackte in ihrem braunen Morast. Das Scheitern lag auch daran, dass die Wirtschaftskrise erst einmal abebbte.


Die AfD ist viel weiter gekommen. Momentan befindet sie sich in der Phase, in der sie darüber bestimmt, wie sie sein will – eine rechte CDU oder eine völkische CSU. Gut möglich, dass sie ihren Zenit schon erreicht hat. Das hängt auch davon ab, ob die Wirtschaft nach Jahren des Wachstums in eine Krise gerät, die die politischen Gegensätze verschärft.

Adornos Zeiten als bewunderter Gelehrter waren 1969 vorbei

Adornos letzte Jahre als Frankfurter Professor waren wenig glücklich. Die Studenten demonstrierten in den Straßen, spielten Revolutionäre, aber damit wollte Adorno, auf den sie sich beriefen, nichts zu tun haben. Sie sprengten seine Vorlesungen, nannten ihn einen Reaktionär. Drei Studentinnen entblößten ihre Brüste, bedrängten ihn auf dem Podium und bestreuten ihn mit Rosen- und Tulpenblüten.

Adorno stellte seine Vorlesungen ein, holte die Polizei, als Studierende sein Institut besetzten. Er sah sich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die ihm zutiefst widerstrebten. Die schönen Jahre als bewunderter Gelehrter waren 1969 vorbei.


Dann begab er sich mit seiner Frau in den Urlaub nach Zermatt, bestieg die Seilbahn und erlitt einen Herzinfarkt, an dem er am 6. August 1969 starb.

Lernen können wir noch immer von ihm.

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