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Wandel des Parteiensystems: Westdeutschland, das war's endgültig


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Wandel des Parteiensystems
Die Bonner Republik geht diesen Herbst zu Ende

Eine Analyse von Jonas Schaible

Aktualisiert am 03.08.2019Lesedauer: 6 Min.
Helmut Kohl und Gerhard Schröder 1998 bei der Amtsübergabe an den SPD-Politiker im Bonner Kanzleramt: Auch die erste rot-grüne Bundesregierung war noch fest im westdeutschen Parteiensystem verwurzelt.Vergrößern des Bildes
Helmut Kohl und Gerhard Schröder 1998 bei der Amtsübergabe an den SPD-Politiker im Bonner Kanzleramt: Auch die erste rot-grüne Bundesregierung war noch fest im westdeutschen Parteiensystem verwurzelt. (Quelle: Archivbild/Sepp Spiegel/imago-images-bilder)

Nach der Wiedervereinigung stülpte sich das westdeutsche Parteiensystem auch über den Osten. Das ändert sich jetzt und macht eine neue Fähigkeit entscheidend.

Ein Staat ist mehr als ein umgrenztes Land mit Wäldern, Flüssen, Bergen und dem Meer, mehr als eine Ansammlung von Menschen in räumlicher Nähe. Ein Staat ist in erster Linie eine politische Einheit. Und weil das so ist, kann man mit einigem Recht sagen, dass der gesamtdeutsche Staat gerade erst so richtig zu sich findet – 30 Jahre nach dem Mauerfall.

Als sich die Bundesrepublik und die DDR vereinigten, da blieben aus dem Westen die Institutionen, das Geld, die Fahne, die Hymne, die Fußballnationalmannschaft, es blieb auch das Grundgesetz. Sogar die Autos blieben und die Schokocreme blieb. Aus dem Osten blieb nicht viel. Aus der DDR wurden die neuen Länder der alten Bundesrepublik.

Deutschland sah lange aus wie der Westen

Politisch füllten die Parteien des Westens den Raum, den die Einheitspartei des Ostens besetzt hatte; sie schluckten faktisch ihre Partnerparteien. Die ersten Landtagswahlen im Osten gewannen die Volksparteien des Westens mit großem Abstand: Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern die CDU, mit der SPD auf Platz zwei. Brandenburg die SPD, mit der CDU auf Platz zwei.

So sah gesamtdeutsche Bundespolitik lange aus wie westdeutsche Bundespolitik zuvor.

Erst seit Kurzem ändert sich das, erst jetzt bildet sich langsam ein gesamtdeutsches Parteiensystem heraus, das sich grundlegend von dem der alten Bundesrepublik unterscheidet. Mit massiven Folgen für Parteien und Bündnisse, weil das, was sich gerade zu zeigen beginnt, aller Wahrscheinlichkeit nach keine merkwürdige Phase ist, die schon bald wieder zu Ende sein wird, sondern das endgültige Ende einer Ära, die auf dem Papier schon ewig zu Ende gegangen ist, sich aber bis in die Gegenwart gestreckt hat.

Nach dem Mauerfall stellte erst einmal weiter die CDU den Kanzler, unterstützt von der FDP. Das Bonner Erfolgsmodell setzte sich fort, das sich als Koalition auch in den ostdeutschen Ländern etablierte. Und als dann Kohl abgewählt und durch Schröder ersetzt wurde, als erstmals in der Nachkriegsgeschichte alle Koalitionspartner die Regierung verließen, da war das nur auf den ersten Blick der echte Beginn der neuen Berliner Republik.

Rot-Grün war immer ein Westprojekt

Denn Rot-Grün war nie für die Zukunft gemacht – weil es immer ein rein westdeutsches Projekt war. Die Regierung Schröder, die als erste das Berliner Kanzleramt bezog, war ein Produkt der Bonner Republik.

Sie war in Bonner Kneipen vorbereitet, von Westdeutschen verkörpert und in westdeutschen Wahllokalen bestätigt worden. Weder 1998 noch 2002, auf dem Höhepunkt der Beliebtheit, hatte Rot-Grün in den neuen Bundesländern eine Mehrheit: 50 Prozent der Zweitstimmen holten beide Parteien 1998 im Westen – nur 39,2 Prozent im Osten. Vier Jahre später waren es 47,7 Prozent im Westen und 44,4 im Osten.

In acht von zehn westdeutschen Bundesländern regierten zwischen 1985 und heute einmal rot-grüne Landesregierungen – im Osten nur einmal, in Sachsen-Anhalt, aber auch nur als Minderheitsregierung ohne eigene Mehrheit, geduldet von der PDS. Und in Berlin, aber Berlin als geteilte und jetzt vereinigte Ost-West-Stadt, war in dieser Hinsicht ein Sonderfall.

Auch Schwarz-Grün, für eine kurze Zeit die kommende Konstellation, war immer ein westdeutsches Projekt. Auch diese Koalition hat in Ostdeutschland noch nie regiert, anders als in Hamburg, Hessen und Baden-Württemberg. Auch sie baut auf ihre Mehrheit im Westen. Durch den Aufstieg der Grünen zur möglicherweise dauerhaft stärksten oder zweitstärksten Partei, mag sich das ändern.

Keine Wurzeln im Osten

Dafür gab es Gründe, die über beide Parteien hinaus wirken. In 30 Jahren kann man nicht dasselbe aufbauen wie in 70. Im Osten hatten die Menschen Parteien anders kennengelernt, nicht als Möglichkeit der Beteiligung, sondern der Kontrolle. Die SPD hatte sich nach der Wiedervereinigung bewusst dagegen entschieden, die SED-Mitglieder aufzunehmen. In den ersten gesamtdeutschen Bundestag 1990 zogen Ostgrüne ein, keine Westgrünen, weil sich beide noch nicht vereinigt hatten. Als das bald danach geschah, kümmerten sich die Westgrünen kaum mehr um ihre ostdeutschen Wurzeln.

Die Westparteien waren im Osten nicht deshalb erfolgreich, weil sie im Osten wirklich Fuß gefasst haben. Geht es nach Mitgliederzahlen und lokaler Verankerung, dann gibt es in Wahrheit keine einzige echte Volkspartei im Osten, weder SPD noch CDU. Sie waren stark, weil es neben der Linken keine Ostparteien gab und keine Neugründungen der Berliner Republik. Die Wahlerfolge täuschten lange darüber hinweg.

Eine Kanzlerin macht noch kein System

Natürlich, da ist die Kanzlerin, seit 2005 die wichtigste Politikerin, und zwischendurch war sogar Joachim Gauck Bundespräsident. Aber eine Kanzlerin macht noch kein System.

Natürlich, da ist auch Die Linke, vormals PDS, die sich aus der SED entwickelt und die nach der Fusion mit der WASG von Oskar Lafontaine auch im Westen Fuß gefasst hat. Sie war die erste bleibende Veränderung des Parteiensystems – allerdings vorerst noch ohne spürbare Konsequenzen für den Westen oder den Bund.

Überhaupt regierten bis 2019 in westdeutschen Ländern und im Bund nur Konstellationen, die so schon vor dem Mauerfall vorstellbar gewesen wären. Die Linke wiederum regierte bis 2019 in vier ostdeutschen Ländern und Berlin, aber in keinem westdeutschen Bundesland, auch wenn es im Bund schon zweimal für Rot-Rot-Grün gereicht hätte.

Lange funktionierte diese Fortführung der westdeutschen Politik, weil im Westen nicht nur mehr Geld liegt, sondern auch mehr Menschen wohnen. Die Gefahr war groß, den Westen mit dem neuen Gesamtdeutschland zu verwechseln.

Mit dem Aufstieg der AfD änderte sich alles

Diese Zeiten sind vorbei, seit mit der AfD die zweite gesamtdeutsche Großpartei entstanden ist. Gegründet in Hamburg von alten westdeutschen Eliten, stark geworden im Osten, wo aber auch maßgeblich Westimporte wirken (Höcke, Gauland, Kalbitz), von dort aus im ganzen Land erfolgreich, aber mit Basis im Osten. Das heißt nicht, dass sie den Osten echter vertritt oder mit mehr Legitimität, auch nicht, dass sie im Osten mehr Menschen bindet als etwa die Union. Aber sie ist eben doch ein Produkt der Berliner Republik, keines der Bonner Republik, und sie ist diesseits und jenseits der alten Grenze erfolgreich.

Vergleicht man nach der Einwohnerzahl gewichtete Mittelwerte aktueller Umfragen aus den zehn westdeutschen Bundesländern und den fünf neuen Ländern ohne Berlin, dann zeigt sich: Linke und AfD sind jeweils mehr als zehn Prozentpunkte stärker im Osten als im Westen; die anderen Parteien sind deutlich stärker im Westen.

Aber alle sechs Parteien können davon ausgehen, im Osten wie im Westen fast überall in die Parlamente zu kommen.

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Nach 30 Jahren hat sich damit endgültig ein neues, spezifisch gesamtdeutsches Parteiensystem herausgebildet, ein Sechs-Parteien-System, das nach anderen Logiken funktioniert als das Vier-Parteien-System des Westens oder das Vier-plus-Eins-Parteiensystem der Nachwendejahre.

Koalitionen werden komplizierter – und vielfältiger

Rot-Grün ist damit etwas für die Geschichtsbücher, Schwarz-Grün wäre es auch, wären die Grünen nicht auf dem Weg zur (zweit)stärksten Kraft – womit Schwarz-Grün/Grün-Schwarz funktional zur großen Koalition würde, Schwarz-Rot andererseits unwahrscheinlich.

Im gegenwärtigen System werden Dreierkonstellationen wahrscheinlicher (Jamaika, R2G/GRR, Kenia, verschiedene Ampeln); 2019 regiert zum ersten Mal die Linke in einem westdeutschen Bundesland mit, in Bremen nämlich. Womöglich könnten sogar Viererkonstellationen (Schwarz, Rot, Gelb, Grün) möglich und nötig werden, Schwarz-Dunkelrote Allianzen oder Minderheitsregierungen, mit festen oder wechselnden Duldungen – umso mehr, wenn die Einbindung einer extrem rechten Partei in einer Regierung ausgeschlossen bleibt, wie aktuell noch.

Manches davon gibt es bereits, manches könnte bald Realität werden, auch wenn noch niemand selbstbewusst und offen davon sprechen kann, weder von Minderheitsregierungen, noch von der demokratischen Flügelzange Schwarz-Dunkelrot. Daniel Günther ist sein öffentliches Nachdenken darüber parteiintern nicht gut bekommen. Aber selbst in Bayern war eine Anti-CSU-Regenbogenkoalition aus Grünen, SPD, Freien Wählern und FDP kurz im Gespräch. Das Abwegige wird aus Notwendigkeit denkbar.

Die neue Schlüsselqualifikation

Noch stehen dem nicht nur Kalkül, sondern auch Lagerdenken und Eitelkeiten im Weg. Die FDP will fast überall nicht unter den Grünen arbeiten, auch die SPD mag nicht gern Juniorpartner der Grünen sein und die Union verweigert sich noch partout der Linkspartei. In der alten westdeutschen Wirklichkeit ging das, im neuen gesamtdeutschen Parteiensystem führt es absehbar in die Blockade, selbst wenn sich in Sachsen, Thüringen und Brandenburg noch bekannte Mehrheiten finden sollten.

Vielleicht, sehr wahrscheinlich sogar, wird sich dieses System in den kommenden Jahren und Jahrzehnten wandeln. Niemand weiß in welche Richtung. Wer erwartet, dass sich jetzt ein neues Gleichgewicht einstellt, wird wahrscheinlich enttäuscht werden.

Deshalb wird Kompromissfähigkeit, wird Bündnisfähigkeit, wird Flexibilität im neuen gesamtdeutschen Parteiensystem zur Schlüsselqualifikation.

Die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen werden einen Vorgeschmack geben auf das, was künftig in Deutschland nötig sein wird. Wer sich anpassen kann, kann mächtig bleiben. Wer sich verweigert, wird irrelevant. Wer es dabei nicht schafft, die eigene Flexibilität mit Kernüberzeugungen glaubwürdig in Einklang zu bringen und übermäßig beliebig zu wirken, auch.


Nur die Grünen scheinen das erkannt zu haben. Sie regieren bereits mit Schwarzen, Roten, Dunkelroten und Gelben, unter grüner, roter, schwarzer und dunkelroter Führung, zu zweit (Schwarz-Grün, Grün-Schwarz, Rot-Grün), zu dritt (Dunkelrot-Rot-Grün, Rot-Dunkelrot-Grün, Jamaika, Kenia). Und sie arbeiten in ihrem Grundsatzprogrammprozess an einem theoretischen Überbau, mit ihrer Idee der "Bündnispartei".

Andere Parteien tun sich noch schwer damit. Sie werden sich wahrscheinlich daran gewöhnen müssen. Die Bonner Republik geht diesen Herbst zu Ende.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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