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Welthungerhilfe zur Krise: "Hunger zählt zu den Mitteln, die Welt zu destablisieren"


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Weltweite Hungerkrise
Warum Deutschland versteckter Hunger droht

  • Sonja Eichert
InterviewVon Sonja Eichert

Aktualisiert am 12.07.2022Lesedauer: 6 Min.
Humanitäre Hilfe in Sjewjerodonezk (Archivbild): Mathias Mogge schließt nicht aus, dass es Regionen in der Ukraine gibt, in denen die Menschen bereits Hunger leiden.Vergrößern des Bildes
Humanitäre Hilfe in Sjewjerodonezk (Archivbild): Mathias Mogge schließt nicht aus, dass es Regionen in der Ukraine gibt, in denen die Menschen bereits Hunger leiden. (Quelle: Rick Mave/Zuma Wire/imago-images-bilder)
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Immer mehr Menschen auf der Welt hungern – und in den nächsten Jahren wird die Zahl wohl noch steigen. Mathias Mogge von der Welthungerhilfe erklärt, wieso.

Jeder zehnte Mensch auf der Welt leidet Hunger. 2021 waren im Mittel etwa 768 Millionen Menschen weltweit von Hunger betroffen, schätzen die Vereinten Nationen – in der Spitze sogar bis zu 828 Millionen. Das sind 150 Millionen mehr als im Vor-Pandemie-Jahr 2019. Corona, Krieg und Konflikte, die Klimakrise: Die Gründe für die steigenden Zahlen sind vielfältig, bilanziert auch die Welthungerhilfe in ihrem am Dienstag erschienenen Jahresbericht 2021. Und: Es wird wohl noch schlimmer werden.

Im t-online-Interview erklärt der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Mathias Mogge, warum das UN-Ziel, bis 2030 den Hunger besiegt zu haben, in immer weitere Ferne rückt – und warum auch Deutschland von Hunger bedroht ist.

t-online: Die Welthungerhilfe feiert in diesem Jahr ihr 60-jähriges Bestehen. Sie und andere kämpfen seit Jahrzehnten gegen den Hunger. Warum leiden trotzdem immer noch so viele Menschen darunter?

Mathias Mogge: Wir waren eigentlich auf einem sehr guten Kurs, der Hunger nahm global immer weiter ab. Seit 2015 ändert sich der Trend. Die größte Herausforderung ist die zunehmende Anzahl an Konflikten. Dazu die Effekte des Klimawandels: Dürren, Fluten, Heuschreckenplagen. Und häufig steht beides in Zusammenhang: Der Kampf um das Wasser, um geeignetes Land für den Anbau von Lebensmitteln wird immer größer.

Und seit Kurzem kommen die Auswirkungen der Covid-Pandemie und jetzt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dazu. Diese Faktoren sind neu oder machen sich erst jetzt so richtig bemerkbar.

Die Ukraine ist die Kornkammer Europas, aufgrund des Krieges wird vor einer weltweiten Ernährungskrise gewarnt. Welche Folgen hat der russische Angriff?

Die Zahl der Hungernden wird weiter steigen. In den aktuellen Zahlen sind die Menschen, die jetzt aufgrund der massiven Preissteigerungen zusätzlich in den Hunger getrieben werden, noch gar nicht eingerechnet. Aufgrund der Blockade der Weizenexporte und der erschwerten Anbaubedingungen in der Ukraine wird die Verunsicherung auf dem Weizenmarkt zunehmen. Zuletzt ist der Weizenpreis gesunken, weil es weniger Nachfrage gab – denn der Preis war so hoch, dass sich viele Länder den Weizen nicht leisten konnten.

Aber es ist ein Trugschluss zu glauben, dass alles wieder gut ist, wenn das ukrainische Getreide wieder auf dem Weltmarkt ist. Denn die Zahl der Menschen, die weltweit unter chronischem Hunger leiden, war schon vor dem Krieg in der Ukraine extrem hoch.

Hunger zählt offenbar zu den probaten Mitteln, die genutzt werden, um die Welt global zu destabilisieren. Wir haben das in verschiedenen anderen Ländern bereits gesehen. In Syrien wurden Kleinstädte und Dörfer belagert und ausgehungert – auch mithilfe der russischen Armee.

Und in der Ukraine?

Dort wird noch sehr viel angebaut. Es kann aber sein, dass es schon jetzt – insbesondere in den umkämpfen Gebieten – Regionen gibt, in denen die Menschen nicht mehr ausreichend Nahrungsmittel haben. Wenn sich dieser Krieg weiter hinzieht, wäre das dramatisch für die Zivilbevölkerung.

(Quelle: Christoph Papsch/Welthungerhilfe)


Mathias Mogge ist Generalsekretär und Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe. Der studierte Agraringenieur und Umweltwissenschaftler arbeitet seit 1998 für die Organisation. Vor seiner Berufung zum Generalsekretär 2018 war er acht Jahre lang Programmvorstand der Welthungerhilfe. Von 2001 bis 2005 war er als Regionaldirektor in Mali im Einsatz.

Die massiven Preissteigerungen als Folge des Krieges spüren wir auch hier in Deutschland. Aus Großbritannien gibt es bereits Berichte, dass Menschen vermehrt Mahlzeiten ausfallen lassen müssen. Worauf müssen wir uns hierzulande einstellen?

Es gibt immer mehr Menschen, die sich eine gesunde Ernährung nicht leisten können. Weltweit betrifft das aktuell drei Milliarden Menschen. Und diese Zahl wird aufgrund der hohen Lebensmittelpreise massiv ansteigen. Auch in Deutschland wird es immer mehr Menschen geben, die auf billigere, kohlenhydratreiche Nahrungsmittel zurückgreifen, die vor allem Kalorien bieten, satt machen, aber nicht unbedingt gesund sind.

Und auch das ist eine Form von Hunger?

Korrekt. Wir unterscheiden zwischen chronischem Hunger: Menschen, die über einen längeren Zeitraum nicht ausreichend Kalorien zu sich nehmen können. Darauf beziehen sich die 828 Millionen Hungernden 2021. Und dann gibt es den sogenannten versteckten Hunger. Er entsteht, wenn Menschen nicht ausreichend Vitamine und Mineralstoffe zu sich nehmen. Das führt zu einer Fehlernährung, wodurch zum Beispiel Kinder zu klein bleiben für ihr Alter. Es fehlt ihnen vor allem Obst und Gemüse – aber Kohlenhydrate sind im Verhältnis zu einer ausgewogenen Ernährung billiger. Wir müssen befürchten, dass die Zahl derer, die sich nicht mehr ausgewogen ernähren können, auch in Deutschland zunimmt.

Lassen Sie uns auch auf die Lage in anderen Ländern blicken: In Afghanistan ist die Welthungerhilfe seit Jahrzehnten im Einsatz. Das Land kämpft mit allem gleichzeitig: die schlimmste Dürre seit 27 Jahren, die Machtübernahme der Taliban, die Corona-Pandemie. Wie hat sich die Lage entwickelt?

Es ist traurig, leider. Die Wirtschaft des Landes ist komplett zusammengebrochen. Die Hälfte der Bevölkerung – knapp 20 Millionen Menschen – ist auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Wir konzentrieren uns darauf, vor allem Nothilfe zu leisten. Alle langfristigen Projekte, zum Beispiel zur Ausbildung von Frauen, mussten wir aussetzen. Um die Frauen tut es mir ganz besonders leid. Da haben viele große Hoffnungen gehabt, als es Fortschritte gab. Diese Hoffnung ist zunichtegemacht worden.

In Ihrem Jahresbericht schreiben Sie, dass viele Mitarbeiter der Welthungerhilfe nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen haben. Wegen der schwierigen Ausreise gab es massive Kritik an der Bundesregierung. Hat es bei Ihren Mitarbeitern funktioniert?

Es hat sehr, sehr lange gedauert. Ein Großteil, auch der afghanischen Mitarbeitenden, ist mittlerweile in Deutschland angekommen. Aber ein paar langjährige Mitarbeiter sind immer noch im Land und warten auf die Ausreise. Und es bleibt gefährlich: Erst im Mai ist einer unserer Mitarbeiter bei einem Anschlag zu Schaden gekommen – zum Glück nicht ums Leben.

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Wie kann humanitäre Hilfe dort aktuell überhaupt funktionieren?

Es braucht ein Mindestmaß an Abstimmung und Kooperation, auch mit den Taliban. Wir sind im Land vor allem mit lokalen Autoritäten im Austausch und kämpfen um jeden Millimeter Raum, in dem wir arbeiten können. Das ist aber etwas, das kennen wir auch aus vielen anderen Ländern. Der Raum für zivilgesellschaftliche Organisationen schwindet weltweit massiv. In vielen Ländern wird uns das Leben schwer gemacht.

Am Wochenende ist der UN-Hilfsmechanismus für Syrien ausgelaufen, der es erlaubt, Hilfsgüter über Grenzübergänge zu bringen, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Eine Verlängerung scheiterte im Sicherheitsrat. Die Welthungerhilfe ist im Norden Syriens im Einsatz. Wie geht es jetzt weiter?

Wenn die Grenzübergänge geschlossen bleiben, werden wir kaum noch eine Möglichkeit haben, zu helfen. Das wäre wirklich eine Katastrophe. Aber noch habe ich Hoffnung, dass der Sicherheitsrat noch eine Lösung finden wird. Schon heute ist die Lage katastrophal. Die Menschen leben im Matsch, von der Hand in den Mund. Aber sie können nirgendwo anders hin und sind zu 100 Prozent auf Hilfe von außen angewiesen. Wir helfen mit Mehl für Bäckereien und Containern, um die Zelte zu ersetzen. Das Auswärtige Amt unterstützt uns durchaus großzügig, aber es könnte noch großzügiger sein. Der Bedarf ist riesig.

Die Welthungerhilfe hat ihren Sitz in Bonn und ist nach eigenen Angaben eine der größten deutschen Hilfsorganisationen. Sie arbeitet konfessionell und politisch unabhängig. 2021 war die Welthungerhilfe in 36 Ländern tätig und verfügte über eine Fördersumme von 259,9 Millionen Euro. Damit hat die Organisation dem Jahresbericht zufolge 16,6 Millionen Menschen erreicht. Der deutsche Staat ist der wichtigste Geldgeber: 113,9 Millionen Euro stammten 2021 aus Bundesmitteln. Es folgen private Spenden mit 77,5 Millionen Euro und die Vereinten Nationen mit 74,4 Millionen Euro.

Sie haben im vergangenen Jahr mehr Mittel aus dem Bundeshaushalt für den Kampf gegen den Hunger gefordert. Mit dem neuen Haushaltsentwurf will Finanzminister Christian Lindner aber die Schuldenbremse unbedingt wieder einhalten. Reichen die vorgesehenen Beträge?

Nein. Es gibt zum Beispiel die Initiative 'Einewelt ohne Hunger' vom Entwicklungsministerium. Da sind 465 Millionen Euro vorgesehen – im Vorjahr waren es noch 715 Millionen Euro, eine Kürzung um 250 Millionen Euro. Das halten wir für einen absoluten Fehler, jetzt, wo der Hunger so massiv steigt, an den entscheidenden Stellen so stark bei der Hungerbekämpfung zu sparen.

Im Vorfeld des G7-Gipfels haben Sie jährlich zusätzlich 14 Milliarden Euro von den Teilnehmerstaaten gefordert. Beschlossen wurde eine Aufstockung der bisherigen Programme um 4,5 Milliarden Euro.

Da muss mehr passieren. Als Partner des Welternährungsprogramms erhalten wir auch Fördermittel aus internationalen Budgets. Da sehen wir ganz klar Kürzungen, und die haben dramatische Auswirkungen auf die Menschen. Im Südsudan zum Beispiel muss das Welternährungsprogramm bereits Essensrationen für 1,7 Millionen hungernde Menschen aussetzen. Davon sind auch viele Schulen betroffen, wo für die Kinder die einzige Mahlzeit des Tages wegfällt.

Die G7-Staaten haben eine besondere Verantwortung. Der Beschluss darf kein Strohfeuer gewesen sein, das jetzt abbrennt und dann fehlen langfristige Initiativen.

Angesichts explodierender Preise und der drohenden Wirtschaftskrise könnten auch die privaten Spenden zurückgehen.

Bisher gibt es eine ungebrochene Solidarität in der deutschen Bevölkerung. Ich habe die große Hoffnung, dass die Deutschen trotz der eigenen Probleme sehen, dass wir als Weltgemeinschaft zusammenstehen müssen. Wir dürfen das Schicksal, das Leid und die Hoffnung der Menschen im globalen Süden nicht vergessen.

Sie appellieren an die Deutschen – und dann gibt es wiederum Menschen wie Elon Musk, dem die Vereinten Nationen vorgerechnet haben, er könne mit seinem Privatvermögen 42 Millionen Menschen vor dem Hungertod retten. Was macht das mit Ihnen?

Ich habe die Debatte verfolgt. Elon Musk hatte dann 6 Milliarden Dollar (circa 5,96 Milliarden Euro) angeboten. Allerdings reicht auch das bei Weitem nicht. Mit einem so großen Vermögen erwirbt man auch eine soziale Verantwortung. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich Menschen an Hilfsprogrammen beteiligen und mit ihrem Geld Gutes tun, statt es für die nächste Investition anzuhäufen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Telefonisches Interview mit Mathias Mogge am 11.07.2022
  • Welthungerhilfe: Jahresbericht 2021
  • Nachrichtenagentur dpa
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