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Polen | Vize-Menschenrechtskomissarin: "Sie werden geschlagen wie die Tiere"


Interview
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Lage an polnischer Grenze
"Sie werden geschlagen wie Tiere"

InterviewAus Warschau berichtet Tim Kummert

Aktualisiert am 15.11.2021Lesedauer: 7 Min.
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"Im aggressiven Tonfall angegangen": Was t-online-Reporter Tim Kummert vor Ort beobachten kann und was ihm Migranten berichten. (Quelle: t-online)
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Hanna Machińska hat Zutritt zum Sperrgebiet an der Grenze zu Belarus. Ein Interview mit der polnischen Vizekommissarin für Menschenrechte über ein Leben wie im Krieg.

Hanna Machińska ist im Moment enorm im Stress, aber sie nimmt sich für das Interview mit t-online in Warschau eine Stunde Zeit. Die 70-jährige Juristin gehört zum Büro des sogenannten "Ombudsmanns" in Polen, sie ist stellvertretende Kommissarin für Menschenrechte. Das Amt, das sogar in der Verfassung erwähnt wird, soll dafür sorgen, dass die humanitären Standards im Land eingehalten werden.

Machińska war als eine der wenigen Personen im Sperrgebiet an der Grenze zu Belarus. Ein Gespräch über ihre Erlebnisse – und darüber, was jetzt zu tun ist.

t-online: Frau Machińska, wie wütend sind Sie auf Alexander Lukaschenko?

Hanna Machińska: Erst einmal sind wir sehr besorgt über die Situation, die Lukaschenko hier erzeugt hat. Man darf nicht vergessen: Das ist ja keine abstrakte Masse an der Grenze, sondern das sind Individuen, einzelne Menschen mit jeweils ihrer eigenen Geschichte, die jetzt dort stehen. Ich kann jetzt schon sagen: Das ist die größte Krise seit dem Jahr 1989.

Was tun Sie, um die Krise einzuhegen?

Wir als Ombudsstelle äußern uns immer wieder kritisch zu den rechtlichen Rahmenbedingungen des hier verhängten Notstands. Wir sind mit verschiedenen einzelnen Flüchtlingen im Gespräch und wir haben zudem diverse rechtliche Instrumente, um uns bei Verstößen gegen das Gesetz mit Fragen an die Staatsanwaltschaft auf Grundlage des Strafgesetzbuches zu wenden.

Werden Sie auch in den Heimatländern der Flüchtlinge aktiv?

Wir versuchen es. Wir haben das Außenministerium gebeten, künftige Migranten aus den arabischen und afrikanischen Ländern wie dem Kongo oder Kamerun über die großen Gefahren hier an der Grenze zu informieren: Dass es eben aktuell illegal ist, die Grenze zu übertreten. Außerdem haben wir auch das Ministerium gebeten, eine Informationskampagne zu starten in den Gebieten, wo die Flüchtlinge herkommen: Es braucht Aufklärung, das ist lebensnotwendig. Sie sind doch politischer Journalist: Wie viel wissen Sie denn über das Geschehen im Sperrbereich?

Fast nichts, Journalisten haben keinen Zugang.

Sehen Sie, da geht es Ihnen wie den meisten Menschen in Polen: Es dringt ja praktisch nichts nach draußen. Und wir, die wir als Kommissare den Zugang haben, dürfen gesetzlich nicht alle Informationen weitergeben. Aber wir informieren über die Gebiete, wo wir das können – und zeigen, wie gefährlich die Situation ist. Was glauben Sie, wie viel größer das Nichtwissen in den Heimatländern der Flüchtlinge ist! Da glauben die Menschen, dass sie einfach nach Polen kommen und in europäischen Ländern bleiben können. Erst vor Ort merken sie, dass das ein Irrtum ist. Der für manche sogar tödlich endet.

Die Flüchtlinge haben keinerlei Vorstellung von dem, was sie hier in Belarus und Polen an der Grenze erwartet?

So ist es. Einige sind Studenten, die können sich orientieren und konnten vielleicht grob ahnen, worauf sie sich einlassen. Aber die allermeisten Menschen an der Grenze haben praktisch keinerlei Bildung genossen. Viele können nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben, höchstens einen Satz. Sie sind einfach in den Flieger gestiegen, ohne sich der Risiken und Schwierigkeiten bewusst zu sein. Für sie muss erst mal Aufklärung geschaffen werden, damit nicht noch mehr in ihr Unheil laufen.

Was können Sie über die Situation im Grenzstreifen berichten?

Ich kann nicht alles erzählen, weil auch wir nicht im Detail über das Notstandsgebiet in der Sperrzone sprechen dürfen. Doch es gibt Hunderte von Beispielen, die zeigen, wie angespannt die Situation ist. Wir haben von einer jungen Mutter im Grenzgebiet erfahren, die einen Schwamm ausgewrungen und das schmutzige Wasser mit dem Milchpulver für ihr Kind vermischt hat. Sie wusste, was sie tat: Es war der sichere Tod für das Baby, aber sie konnte nicht anders, das Kind hatte Hunger.

Unglaublich.

Viele Schwangere befinden sich aufgrund von dramatischen Kämpfen mit belarussischen Soldaten in einer extrem kritischen Lage. Teilweise werden sie jetzt auf Caritas-Stationen versorgt, doch insgesamt ist noch zu wenig Hilfe da. Wissen Sie, worauf ich am meisten achte, wenn ich den Flüchtlingen im Grenzgebiet begegne?

Auf die Kleidung?

Die Schuhe. Die Schuhe! Diese sind nass, oft durchgelaufen, die Menschen frieren dann sprichwörtlich von der Basis ihres Körpers an. Wir bringen natürlich auch selbst Kleidung hinein, aber es dürfen ja nur enorm wenige Menschen ins Sperrgebiet. Zum Glück konnte kürzlich das Rote Kreuz unter unserem Schutz einigen Flüchtlingen helfen, wir haben die Helfer durch die Polizeikontrollen gebracht.

Wie finden Sie die Menschen dort? Die polnischen Wälder sind sehr weitläufig.

Es ist sehr, sehr schwierig, das ist völlig richtig. Die Flüchtlinge stromern durch den Wald, sie sind fast unsichtbar. Einige machen absichtlich ihre Taschenlampen aus, damit sie von den patrouillierenden Polizisten nicht gefunden werden können. Eine große Rolle spielen die Anwohner, die dürfen ja auch ins Grenzgebiet: Die normale Bevölkerung hilft den Flüchtlingen, wo sie kann. Und manchmal auch schon die Hilfsorganisationen, die allmählich in die Zone dürfen. Ab und zu gibt es dann doch Hoffnung.

Erzählen Sie.

Vor zwei Wochen begegneten wir in den Wäldern nachts einem Vater mit seiner Tochter, sie waren Teil einer größeren Familie. Schon über ein Dutzend Mal hatten sie gemeinsam versucht, die Grenze nach Polen zu überqueren, doch sie wurden immer wieder zurückgeschickt. Dann verloren sie sich, und der Vater war mit der Tochter allein. Die Tochter, ein 15-jähriges Mädchen, sagte mir, sie wolle erst auf eine polnische Schule gehen und dann mal in Harvard studieren. Das erzählte sie mir nachts, mitten im Wald. Unglaublich, oder?

Und dann?

Wir brachten den Vater mit seiner Tochter zur nächsten Grenzstation und wie durch ein Wunder stand dort schon der Rest der Familie. Es mag klein klingen, doch es war unglaublich. Manchmal gibt es ein Happy End. Sogar einer der umherstehenden Soldaten hat geweint, es spielen sich hier echte Tragödien ab. Denn man muss klar sagen: Für die belarussischen Soldaten sind die Flüchtlinge keine Menschen: Sie werden geschlagen wie die Tiere. Und sie hetzen Hunde auf sie.

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Sie werden an die Grenze getrieben, und wenn sie es doch hinüber schaffen, auch von polnischen Kräften zurückgedrängt.

Ja, Push-Back heißt diese Methode. Das klingt so harmlos, aber ich kann mir das ehrlich gesagt kaum vorstellen – obwohl ich es natürlich fast miterlebt habe. Push-Back, wissen Sie, was das heißt? Da sitzen also die weinenden Familien auf dem Waldboden. Und das polnische Militär und die Belarussen stoßen sie dermaßen heftig in Richtung der Grenze zurück, dass sie künftig keinen weiteren Anlauf versuchen. Ganz im Ernst: Wie brutal muss das denn sein? Man fühlt sich dabei an dunkelste Zeiten erinnert.

Sie sprechen vom Zweiten Weltkrieg.

Ich gehöre zur ersten Generation, die nach dem Krieg geboren wurde. Die Situation lässt sich nicht direkt mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichen, aber: Menschen irren im Dunkeln herum, zwischen den Bäumen. Und wieder haben sie Angst vor dem Militär, das Jagd auf sie macht.

Die polnische Regierung zeigt sich aber einigermaßen unerbittlich: Es werden immer mehr Soldaten an die Grenze verlegt.

Natürlich. Grundsätzlich muss der Staat die Grenzen schützen, das ist ja auch richtig. Aber wir dürfen die Menschenrechte nicht vergessen. Für uns als Ombudsstelle steht der Grenz- nicht im Widerspruch zum Menschenschutz. Wir müssen die Einzelfälle genau prüfen und dann entscheiden. Und wir brauchen mehr internationale Unterstützung bei dieser Krise.

Beispielsweise von Frontex, der EU-Agentur für Grenzschutz?

Unter anderem. Ein Vertreter von Frontex wurde erst kürzlich hier an die Grenze geführt: Er durfte sich das einmal kurz anschauen und musste dann wieder gehen. Wir brauchen deutlich mehr Einfluss von Frontex. Gut ist, dass der Menschenrechtskommissar des Europarats am heutigen Montag kommen wird. Und grundsätzlich wäre es auch wünschenswert, wenn Vertreter der Vereinten Nationen in die Region kommen.

Warum lässt die polnische Regierung die Menschen nicht einfach ins Land und verteilt sie dann über Europa?

Das müssen Sie die Regierung fragen. Die würde Ihnen vermutlich sagen: Wenn wir das machen, dann beginnt die nächste Flüchtlingswelle und es ist alles nicht mehr zu stoppen. Ich hätte einen anderen Lösungsansatz.

Welchen?

Die Migranten verdienen individuelle Verfahren, man sollte nicht alle über einen Kamm scheren. Eine strenge Politik der Ablehnung führt die Menschen nur in die Falle. Aber wer die entsprechenden Dokumente vorlegen und belegen kann, dass er wirklich Schutz braucht, der darf in Polen bleiben.

Wie steht die polnische Bevölkerung zu den Flüchtlingen?

Nicht so kritisch, wie man glauben könnte. Soweit ich weiß, sind viele Polen entsetzt darüber, welche Zustände direkt vor unserer Grenze herrschen. Ich hatte schon Gespräche mit Vertretern der polnischen Hotellerie: Die haben uns gesagt, dass sie sehr gern Ausbildungsplätze bereitstellen, die Unterkunft und Bildung von Migrantenfamilien organisieren wollen. Beide Kirchen, die protestantische und die katholische, haben zudem dazu aufgerufen, eine Art "humanitären Korridor" in die Sperrzone zu legen. Und diverse prominente Schauspieler wollen die Migrantenfamilien ebenfalls unterstützen. Natürlich gibt es auch die Nationalisten, für die Flüchtlinge immer eine Bedrohung darstellen – aber das ist nicht die Mehrzahl.

Gibt es eine Chance, dass doch noch Journalisten in die Sperrzone dürfen, um über die Zustände dort zu berichten?

Es gibt vorsichtige Signale in diese Richtung, aber noch ist nichts sicher. Und natürlich setzen wir uns seit Wochen dafür ein, dass Medien endlich berichten können. Doch noch wichtiger ist, dass Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen und Ärzte an der Grenze endlich umfassenden Zugang zu dem Gebiet bekommen. Denn sie können den Menschen wirklich helfen und das ist bitter nötig. Wenn man in die Gesichter der Menschen blickt, kann man diese Bilder niemals vergessen. Und wissen Sie, was die polnische Regierung nun plant?

Eine Mauer an den Übergang zur Grenze nach Belarus zu bauen.

Genau. Es ist unglaublich. Die Mauer ist keine Lösung! Die Lösung sind ordentliche Verfahren für die Migranten, nichts anderes.

Frau Machińska, vielen Dank für dieses Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Interview mit Hanna Machińska in Warschau
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