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Experten verifizierten Szenen | Syrien-Archiv stellt 861 geprüfte Giftgas-Videos in Netz


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Experten verifizierten Szenen
Syrien-Archiv stellt 861 geprüfte Giftgas-Videos in Netz


Aktualisiert am 25.04.2018Lesedauer: 5 Min.
Landkarte des Schreckens: Das Syrian Archive hat eine Datenbank von Chemiewaffenangriffen erstellt, die aus Sicht von deren Experten erwiesen ist.Vergrößern des Bildes
Landkarte des Schreckens: Das Syrian Archive hat eine Datenbank von Chemiewaffenangriffen erstellt, die aus Sicht von deren Experten erwiesen ist. (Quelle: Syrian Archiv/Montage: t-online.de)

Den Schrecken der Chemiewaffen in Syrien gibt es jetzt an einem Ort im Netz:

Erst müssen alle Kameras ausgeschaltet und alle Smartphones eingesteckt sein, bevor Rasha vom Grauen zu erzählen beginnt. "Ich habe schon viele Male darüber gesprochen, aber es für mich immer noch nicht zu fassen", sagt die junge Frau. "Die epileptischen Anfälle, die spastischen Lähmungen, der Schaum vor dem Mund – und die vielen Menschen am Boden, so dass man kaum durch das Krankenhaus gehen konnte." Rasha nimmt die Zuhörer aus Berliner Büroräumen mit in die entsetzlichen ersten Stunden nach einem Chemiewaffenangriff in Syrien.

"Das Gedächtnis des syrischen Volkes"

Ein Video von jenem Tag aus dem provisorischen Krankenhaus in Muʿaddamiyyat asch-Scham hat die Nummer d9388628 und ist eines der verifizierten Videos im "Syrian Archive". Am Dienstag hat die in Berlin angesiedelte Organisation ihre "Chemiewaffen-Datenbank" veröffentlicht. 861 Videos, die nach eigenen Angaben von Experten verifiziert sind und die später einmal helfen sollen, dass Kriegsverbrechen nicht ungesühnt bleiben. "Es gehört zum Gedächtnis des syrischen Volks", sagt Hadi Al Khatib, Gründer und Leiter des "Syrian Archives".

Die Arbeit mache man "für die Menschen, die gestorben sind, für die, die eingesperrt wurden für solche Videos und für die, die auch nach sieben Jahren noch filmen." Es sei Ansporn, dass diese Menschen weiter die Hoffnung hätten, dass eine Justiz mal die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht.

Augenzeugin in Angst um Verwandte in der Heimat

Al Kathib geht mit seinem Namen offen um, die heute in Berlin lebende Augenzeugin Rasha dagegen hat eigentlich einen anderen Vornamen. Sie hat aber t-online.de gebeten, ihn nicht zu nennen. Sie hat Angst um Verwandte in ihrer Heimat Muʿaddamiyyat asch-Scham bei Damaskus, weil sie über den Schrecken des 21. August 2013 spricht. Ein Jahr und ein Tag, nachdem Barack Obama Chemiewaffenangriffe als "rote Linie" bezeichnet hatte, war das Sarin durch die Stadt gekrochen.

Rasha sitzt in Jeans an einem Tisch vor den Zuhörern, schiebt sich die Brille mit dem dünnen Rahmen noch einmal auf die Nase und streicht sich das dunkelbraune offene Haar zurück, als sie von jener Nacht in ihrer alten Heimat erzählt. Um 2 Uhr morgens habe sie Facebook gecheckt und Videobilder gesehen, die sie nicht glauben wollte. "Das kann nicht passiert sein, dachte ich."

Bilder aus Ost-Ghouta, die Folgen eines Chemiewaffenangriffs zeigen. Es erschütterte sie, und es ärgerte sie, dass da auch von einem Angriff auf Muʿaddamiyyat asch-Scham geschrieben wurde. "Das ist lächerlich, ich bin dort, hier ist nichts", habe sie auf Facebook geantwortet. Dann hörte sie das Geschrei draußen: Nachbarn rannten umher und riefen etwas von Gas.

Rasha half zu dieser Zeit häufiger im provisorischen Krankenhaus. In dieser Nacht brauchte sie 20 Minuten für die Strecke von nicht einmal einem Kilometer, weil um sie herum die Bomben und Geschosse explodierten. "Wir kamen nicht dazu, nachzudenken, wie wir sterben." Sie kam im Krankenhaus an, aber bei den Menschen, die dort dicht an dicht liegen, war oft nicht klar, wer noch lebt. Die Helfer stiegen in den Gängen über leblose Körper.

Helfer spürten Chemiewaffen selbst noch

"Eigentlich gar nichts" könnten sie tun, hätten erschütterte Ärzte gesagt. "Wir haben Wasser auf die Leute geworfen und sie gewaschen." Die Freiwilligen im Hospital greifen zu Essig, zu Zitronen, die Mediziner sind nicht vorbereitet auf die Attacke mit Sarin. Menschen ersticken an spastischen Lähmungen, die Helfer husten zunehmend selbst und spüren, dass ihre Haut brennt. "Wir haben uns um uns keine Gedanken gemacht, dazu sind wir gar nicht gekommen."

Zur Mittagszeit sei sie dem Kollaps nahe gewesen und habe den anderen Helfern erklärt, sie müsse jetzt gehen. Geschockt und unendlich deprimiert gewesen seien alle gewesen. Hadi Al-Khatib kennt solche Erzählungen dutzend- und hundertfach. Das "Syrian Archive" steht in Verbindung mit vielen Menschen in Syrien, die solche Situationen dokumentiert haben, die danach die verräterischen Reste von Bomben gefilmt haben, die wollen, dass die Welt diese Bilder sieht. Auf YouTube gibt es nach Ansicht von Experten mehr Stunden Videomaterial als der Bürgerkrieg schon dauert. Manches ist auch schon gelöscht, weil Bilder zu verstörend zu sein könnten. Das Syrian Archive will nichts löschen. Der Bürgerkrieg in Syrien sei der am besten dokumentierte Konflikt, sagt Al-Khatib. "Das Problem ist, der Masse gerecht zu werden."

Das "Syrian Archive" kooperiert dazu mit verschiedenen Organisationen, Amnesty Internationals "Digital Verification Korps" mit 120 Studenten an fünf Universitäten hat Material auf Echtheit geprüft, die Organisation "Witness" hat unterstützt, das Recherchebüro "Bellingcat" verifiziert und Fäden zusammengeführt. Bellingcat-Chef Elliot Higgins ist zur Vorstellung der Chemiewaffen-Datenbank auch gekommen, international bekannt wurde er durch seine Recherchen zum Abschuss der MH17 durch eine russische Buk.

Die Arbeit, die hier gemacht worden ist, falle sonst eigentlich Gerichten zu, sagt Dr. Patrick Kroker, Völkerrechtsanwalt beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und dort zuständig für das Thema Menschenrechtsverbrechen in Syrien. Ankläger beim Internationalen Strafgerichtshof hätten erklärt, derartiges Material werde in Zukunft eine viel größere Rolle spielen, sagt Kroker. Privates Videomaterial wird von Gerichten bisher eher zögerlich zugelassen.

In Deutschland Anzeigen wegen Kriegsverbrechen

Dass sich das "Weltgericht" aber mit den Chemiewaffen-Videos befasst, ist nicht absehbar, neben den USA und China sind auch Syrien und Russland nicht unter den 124 Staaten, die das das Gericht akzeptieren. Die Menschenrechtsaktivisten können aber hoffen, dass Gerichte in Drittstaaten diese Verbrechen anklagen. Grundlage ist das Weltrechtsprinzip, wonach nationale Gerichte weltweit bestimmte Straftaten verfolgen können.

Das ECCHR hat mit mehreren Syrern auch bereits beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe eine Strafanzeige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Syrien eingereicht, sie richtet sich gegen hohe Militärs. Dabei geht es aber nicht um die Chemiewaffenangriffe. Es gilt unter Experten als unstrittig, dass in Syrien von allen Seiten Kriegsverbrechen begangen worden sind.

Dutzende Angriffe durch Regime, drei durch IS?

Bei den Chemiewaffenangriffen geht es an diesem Abend in den Räumen des ECCHR nur um einen Schuldigen: das Assad-Regime. "Zu solchen Angriffen kommt es immer noch, weil Assad es kann", beklagt Rasha. "Es hatte ja nie messbare Konsequenzen, wer verantwortlich ist."

Von 34 eindeutig belegten Giftgasangriffen spricht der Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen (UNHCR), die Schuld sieht UNHCR in den Fällen entweder beim Regime oder nicht eindeutig geklärt. Frankreich schreibt auf einer Auflistung von Dutzenden Zwischenfällen mit Chemiewaffen drei Attacken mit Senfgas der Terrormiliz IS zu, alle anderen mutmaßlich dem Regime. Die Bundesregierung hat gerade erklärt, für sie seien mindestens vier Giftgas-Einsätze durch Assad erwiesen. Das Assad-Regime und Russland weisen Vorwürfe zurück.

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