Völkermord in Ruanda "Der Tod wurde irgendwann normal"
Vor 20 Jahren, am 6. April 1994, begann in Ruanda einer der schlimmsten Völkermorde der Geschichte. Radikale Hutu-Milizen ermordeten die Angehörigen der Tutsi und gemäßigte Hutu. Dem Schlachten fielen zwischen 800.000 und einer Million Menschen in nur 100 Tagen zum Opfer. Wer sich in Ruanda auf Spurensuche begibt, trifft allerorts auf erschütternde Geschichten.
Der Völkermord hat unzählige Familien zerstört, und es gibt hunderttausende Einzelschicksale, die bewegen. Die Erinnerungen an den Genozid und die Narben sind auch heute noch allgegenwärtig.
Hintergrund des Mordens waren traditionelle Spannungen zwischen beiden ethnischen Gruppen, die nach dem Abschuss des Flugzeuges, in dem der damalige Präsident Juvenal Habyarimana gesessen hatte, ungehemmt ausbrachen. Die Hutu-Regierung machte die Tutsi-Rebellen für den Mordanschlag verantwortlich.
Richard Gakuba war ein Kind, als das Töten begann. Heute ist der 27-jährige Ruander ein schlanker junger Mann mit einem ansteckenden Lachen und perfekten Deutschkenntnissen. Wer ihm gegenübersitzt, kann kaum glauben, was der Angehörige der Tutsi in seiner Jugend erleben musste.
Prügel, Vergewaltigungen und Morden als Normalität
"Ich habe so viele Menschen sterben sehen, dass der Anblick von Morden und Tod irgendwann normal wurde", sagt er und rührt nachdenklich in seinem Cappuccino. Manchmal lächelt er verlegen, während er seine Geschichte erzählt, sonst würden ihn wahrscheinlich die Emotionen übermannen.
Bis zum Ausbruch des Genozids hatte er eine glückliche Kindheit verlebt. Der Vater war in den 1960er Jahren in Stuttgart zum Kfz-Mechaniker ausgebildet worden und hatte anschließend in der ruandischen Hauptstadt Kigali eine eigene Werkstatt eröffnet. In seiner Freizeit nahm der Rennsportfan Richard an Rallyes in Ostafrika teil. "Wir waren eine für ruandische Verhältnisse reiche Familie", erinnert sich Richard, der noch sieben Geschwister hatte.
Aber dann begann die systematische Eliminierung der Tutsi durch Hutu-Milizen, die lange geplant und propagandistisch vorbereitet worden war. Dabei gingen die Täter bestialisch vor: Statt die Familie gleich zu töten, wurde Richards Mutter zunächst immer wieder vergewaltigt. "Unser Vater musste alles mit ansehen, aber uns Kinder hat er weggeschickt, damit wir keine Zeugen davon wurden", sagt Richard.
Eine ganze Familie ausgelöscht
Bereits im April 1994 wurde die dreijährige Schwester getötet: Ein Hutu köpfte sie mit einer Machete. Zwei ältere Brüder wurden von mehreren Männern schwer verprügelt. Anschließend fesselten die Täter sie mit den Füßen an ein Auto und schleiften sie so lange hinter sich her, bis sie tot waren. "Als wir am nächsten Tag Wasser holen wollten, haben wir ihre Leichen auf der Straße gefunden."
Der Vater überlebte bis zum Juni. Dann hielt er die Gewalt gegen seine Frau nicht mehr aus und stellte sich den Peinigern in den Weg, als seine Frau erneut vergewaltigt werden sollte. "Nur über meine Leiche!", hat er gesagt. Da haben sie ihn mit Machetenhieben getötet", erzählt Richard. Er nennt sie "die Mörder", das Wort "Hutu" benutzt er nie.
Als Richards Vater starb, hatte der Siebenjährige bereits das Land verlassen. Er war einfach in einen Bus gestiegen und legte dann weite Strecken zu Fuß zurück, um mit anderen Flüchtlingen über Burundi in ein Flüchtlingslager in Tansania zu gelangen.
Er überlebte zusammen mit einem Onkel und einer Tante, obwohl Hutu-Milizen selbst in dem Camp noch Jagd auf Tutsi machten. Erst Jahre später, die er in Flüchtlingslagern verbracht hatte, kam er nach Ruanda zurück. "Ich wusste die ganze Zeit nicht, was mit meiner Familie passiert war, ob noch jemand lebte oder alle gestorben waren."
Die Mutter hatte überlebt, war jedoch bereits schwer gezeichnet: Hutu hatten sie bei den Vergewaltigungen mit dem HI-Virus infiziert. 1998 erlag sie ihrer Aids-Erkrankung. Ein Bruder war zu einem gewalttätigen Trinker geworden.
Mordbanden machten auch vor Gotteshäussern nicht Halt
Besonders in Erinnerung bleiben die Kirchenmassaker von Ntarama und Nyamata im Bezirk Bugesera, etwa 30 Kilometer östlich von Kigali. Als der Völkermord begonnen hatte, suchten viele Tutsi Schutz in Kirchen. Bei sporadischen Übergriffen in den Jahren zuvor waren die katholischen Gotteshäuser stets verschont geblieben.
Aber die Hutu-Milizen "Interahamwe" kannten kein Erbarmen. Während einige Priester versuchten, den verängstigten Flüchtlingen zu helfen, unterstützten andere Geistliche - darunter Pfarrer und Nonnen - die Mörder. Allein in Ntarama kamen am 15. April 5000 Tutsi ums Leben, als die Angreifer die Kirchentür zwei Tage lang mit Granaten freisprengten und die Kirche dem Erdboden gleichmachten.
In der angrenzenden Sonntagsschule wurden Kinder grausam gegen eine Steinwand geschlagen. Ein riesiger Blutfleck zeugt noch heute davon. In der nahen Pfarrküche zündeten die Hutus Matratzen an und ließen ihre Opfer bei lebendigem Leib verbrennen.
In und rund um die Pfarrkirche Nyamata wurden zwischen dem 11. und 12. April mindestens 10.000 Tutsi getötet. Die Hutus griffen dort ebenfalls mit Sprengstoff, Granaten, Macheten und Schlagstöcken an. Zahlreiche Frauen wurden auf brutalste Art vergewaltigt.
Die Weltgemeinschaft sah zu
Die Weltgemeinschaft, vertreten durch 5500 afrikanische Blauhelm-Soldaten ohne Kampfmandat, hatte damals tatenlos zugesehen. Die Intervention belgischer Fallschirmjäger und französischer Truppen im Juni 1994, nachdem der UN-Sicherheitsrat endlich ein Mandat erteilt hatte, kam viel zu spät.
Erst der Einmarsch der Tutsi-Rebellen-Truppen "Patriotische Front" (FPR), angeführt vom heutigen Präsidenten Paul Kugame, in der Hauptstadt Kigali beendete das Massenblutbad. Anschließend setzte eine Massenflucht der nun verfolgten Hutu nach Zaire (dem heutigen Kongo) ein.
Frieden und Versöhnung statt Rache als nationale Aufgabe
Heute sind die beiden Kirchen in Ntarama und Nyamata Gedenkstätten. Massengräber, blutgetränkte Kleidungsstücke und von Machetenschlägen gezeichnete Schädel zeigen die barbarische Gewalt, mit der die Mörder vorgingen. Überlebende haben die Särge und Kirchenbänke mit Blumen geschmückt.
Das 100-tägige Massaker hat auch im Alltagsleben zahlreiche Spuren hinterlassen. In Ruanda gibt es 300.000 Waisenkinder und 500.000 Witwen. Auf Personalausweisen sind Angaben zum ethnischen Hintergrund nicht länger erlaubt, gleiches gilt für amtliche Fragen.
Im offiziellen Sprachgebrauch werden die Gräueltaten von damals nur noch als "Der Völkermord an den Tutsi" bezeichnet - eine Formulierung, die Opfer aus den Reihen der Hutu völlig ignoriert und die Täter ungenannt lässt. Traumatisierte Täter und Hinterbliebene müssen das Zusammenleben neu lernen. Sie treffen sich bei Gemeindeaktivitäten, helfen sich gegenseitig bei der Landarbeit und trinken danach gemeinsam ein Glas Ikigage, eine regionale Biersorte.
Präsident Kagame hat die Versöhnung zur nationalen Aufgabe ernannt. Dabei helfen kirchliche Organisationen wie die katholische "Association Modeste et Innocent" (AMI). Eigens eingerichtete Dorfgerichte namens "Gacaca" richten über die Täter. Mehreren Verantwortlichen werden auch Prozesse vor dem Ruanda-Tribunal der UN in Arashua (Tansania) und vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gemacht. Dass die Hinterbliebenen keine Entschädigungen erhielten, halten Experten wie der AMI-Exekutivsekretär Jean-Baptiste für eines der Haupthindernisse auf dem Weg zur Aussöhnung.
Und wie ist es Richard Gakuba ergangen? Er schlug sich durch und überlebte, obwohl er alles verloren hatte. Er besuchte die Schule und traf nach seiner Rückkehr in Kigali dort auf einen deutschen Arzt, der ihn bei sich aufnahm und in Bayern auf eine Fachhochschule schickte, wo er eine Ausbildung zum Softwareentwickler absolvierte. Heute arbeitet er nach seiner abermaligen Rückkehr in sein Heimatland in Kigali als Übersetzer und Computerexperte.
Hat er den Tätern vergeben? "Manchmal denke ich noch über die Zeit von damals nach", sagt Richard leise. "Aber wir wollen keine Rache, wir wollen nur Frieden. Die Täter sind verurteilt worden. Heute sind wir alle Ruander, und das ist das einzige, was zählt."