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Russland gegen Ukraine und Westen | Militärexperte: "Dann sind wir erledigt"


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Konfliktexperte Mike Martin
"Dann sind wir erledigt"

InterviewVon Marc von Lüpke

24.07.2024Lesedauer: 8 Min.
Russische Artillerie in der Ukraine: Deutschland und Europa müssen sich gegen die Bedrohung wappnen, sagt Mike Martin.Vergrößern des Bildes
Russische Artillerie in der Ukraine: Deutschland und Europa müssen sich gegen die Bedrohung wappnen, sagt Mike Martin. (Quelle: Evgeny Biyatov/imago-images-bilder)
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Es herrscht Krieg in Europa, die friedlichen Zeiten sind vorbei. Für Deutschland und seine Partner ist es dringend an der Zeit, sich dieser Tatsache zu stellen, erklärt Militärexperte Mike Martin.

Russland hat den Krieg nach Europa zurückgebracht. Was aber ist ein Krieg überhaupt und welche Konsequenzen hat die Aggression des Kreml-Regimes für das Frieden gewohnte Deutschland und Europa? Wo sind wir verletzbar? Was plant Russland? Diese Fragen beantwortet Mike Martin, Konfliktforscher und Ex-Soldat, der kürzlich das Buch "How to fight a War – Wie man einen Krieg führt" veröffentlicht hat, im Gespräch.

t-online: Herr Martin, was ist ein Krieg überhaupt?

Mike Martin: Krieg ist in erster Linie ein psychologisches Phänomen, eine Art Wettbewerb, ausgetragen zwischen den höchstentwickelten Organen unseres Körpers, unseren Gehirnen. In früheren Zeiten haben wir Menschen Kriege mit Steinen oder Keulen geführt, heute stehen uns Drohnen, Hyperschallraketen und hochkomplexe Computer für Cyberattacken zur Verfügung.

Also haben sich die Werkzeuge der Kriegsführung geändert, in seinem Wesen ist der Krieg seit Jahrtausenden unverändert?

So ist es. Alle diese Mittel – der gesamte Apparat des Krieges – sollen die gegnerische Psychologie beeinflussen. Ändert eure Meinung oder sterbt, so lässt es sich auf den Punkt bringen. Das Wesen des Krieges hat sich tatsächlich niemals geändert, das ist auch der Grund, warum die Offiziere von heute die Kriege von früher studieren. Vormarsch, Rückzug, Einkreisen, Flankieren, all dies und noch mehr findet in jedem Krieg statt.

Deutschland hat über Jahrzehnte in Frieden gelebt, nun ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Wir haben nahezu vergessen, was ein Krieg ist und was er bedeutet.

Nicht nur die Deutschen haben vergessen, was Krieg ist, für die meisten Europäer trifft das zu. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde der Ausspruch des US-Politologen Francis Fukuyama vom Ende der Geschichte berühmt. Tatsächlich meinte Fukuyama aber etwas ganz anders – und zwar das Ende der Geopolitik. Das sollte sich als ein gewaltiger Fehler erweisen.

Allein Wladimir Putin hat uns mehrmals eines Besseren belehrt?

Das hat er, ja. Damals allerdings herrschte die Ansicht vor, dass nach dem Ende der Sowjetunion die großen geopolitischen Fragen geklärt seien. In dieser Zeit kam eine überaus technische Spielart der Politik auf, nun ging es darum, bestmögliche Entscheidungen aufgrund von Daten zu treffen, stellen wir es uns als eine Regierung mit Tabellenkalkulation vor. Es ging ein wenig wie in der Sozialwissenschaft zu.

Zur Person

Mike Martin ist Konfliktforscher und beschäftigt sich vor allem mit Sicherheitspolitik und internationalen Beziehungen. Im Juli 2024 wurde Martin für die Liberal Democrats ins britische Unterhaus gewählt. Als Offizier der britischen Armee war Martin mehrmals in Afghanistan eingesetzt. Martin ist Autor verschiedener Bücher, kürzlich erschien mit "How to fight a war – Wie man einen Krieg führt" sein neuestes Werk in Deutschland.

Emotionen lassen sich aber schwer in Tabellen erfassen?

Darin besteht das große Problem. Denn diese technische Sicht der Politik dehnte sich auf die Außenpolitik aus. Die Sache mit der Außenpolitik ist allerdings, dass sie nicht nur technisch, sondern auch emotional ist. Vor allem wenn es um Krieg und die wirklich schwierigen geopolitischen Fragen der Sicherheit geht, die keineswegs überwunden waren. Psychologie ist die Grundlage dafür, wie wir unsere Angelegenheiten im strategischen Bereich bestellen. Da wurde einiges versäumt. Ich wage die Behauptung, dass einige der besten Köpfe nach 1990 lieber in die Wirtschaft als in die Politik gegangen sind. Denn diese technisierte Politik bot wenige Herausforderungen.

Sie führte obendrein – Ihrer Argumentation folgend – zu Fehleinschätzungen in der europäischen Sicherheitspolitik?

Ausschließlich Daten zu sammeln und Blick auf Tabellenkalkulationen zu werfen, reicht in der Geopolitik einfach nicht. Nehmen wir das Beispiel Angela Merkel: Sie hat ein großes Erbe hinterlassen und war eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Politikerin. Aber den deutschen Atomausstieg Deutschlands nach der Fukushima-Katastrophe mit dem Ausbau der Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas zu verbinden, hat Putin ein mächtiges Druckmittel verschafft.

Ein Druckmittel, das Russland zu nutzen wusste.

Diese Erwartung, durch Geschäfte mit Russland eine gegenseitige Abhängigkeit zu schaffen, war eine ziemlich technische Sicht der Lage. Die russische Psychologie wurde dabei völlig außer Acht gelassen. Dabei hat uns Putin deutlich gewarnt, denken wir etwa an die Kriege gegen Tschetschenien, gegen Georgien und seine generellen Aussagen, dass der Zusammenbuch der Sowjetunion die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" für ihn gewesen sei.

In Ihrem aktuellen Buch "How to fight a War Wie man einen Krieg führt" nennen Sie einen Faktor, der unabdingbar für die Zeit eines Konflikts ist, und zwar das Vorhandensein einer realistischen Strategie. Was ist das?

Im Deutschen wird der Begriff "Strategie" immer wieder verkürzt als eine Art "Plan" verstanden. Doch das ist falsch. Strategie stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie "Genialität" Was bedeutet das genau? Strategie fordert ein übergeordnetes Verständnis unserer Welt und welche Ziele in ihr mit welchen Mitteln erreicht werden sollen. Das ist viel mehr als ein simpler Plan.

Haben Sie ein Bespiel für eine durchdachte Strategie?

Eine überlegte Strategie umfasst klare und einfache Ziele. Nehmen wir den Zweiten Weltkrieg. Das Ziel der Alliierten bestand in der vollständigen Niederwerfung der Achsenmächte Deutschland, Japan und Italien. Für die Erreichung dieses Ziels waren gewaltige Kräfte nötig, aber das Ziel an sich war klar und einfach. Der Niederlage Deutschlands räumten sie dabei Priorität ein, weil sie es für den gefährlicheren Gegner hielten. Das ist eine Strategie.

Woran merkt man, wenn es einer politischen und militärischen Führung an Strategie mangelt?

Wenn statt klarer und zweifelsfreier Aussagen zur Erreichung eines Ziels – wie der Vertreibung der Truppen von "Land X" aus "Land Y" – eher ausweichende Aktivitäten angekündigt werden, wie zum Beispiel Luftangriffe. Vorsicht ist auch geboten, wenn die Kriegsziele eines Landes immer wieder geändert werden oder Sätze fallen wie "Land X darf diesen Krieg nicht verlieren". Das deutet auf eine mangelhafte Strategie hin, Einzelaktionen werden mit dem Endergebnis verwechselt.

Verfügt Wladimir Putin über eine realistische Strategie?

Putin hat eine Vorstellung von einer russischen nationalen Strategie. Er weiß ganz genau, wie er mächtig Druck auf den Westen ausüben kann: Etwa in Form von Migration, durch die russischen Aktivitäten in Afrika oder indem er Instabilität auf dem Balkan fördert. Er verfügt auch immer noch über wirtschaftliche Hebel.

Worin besteht sein definiertes Ziel?

Russland will sich wieder als geopolitischer Akteur etablieren, während die amerikanische Hegemonie, die westliche Hegemonie, mindestens beschädigt, wenn nicht gar zerstört wird. Das ist Putins Ziel, er spricht immer wieder von dieser multipolaren Welt, in der Russland einer der Machtpole ist. Ist diese Strategie realistisch? Ich denke, ja. Zumal Putin längst damit begonnen hat, sie umzusetzen, und er über die notwendigen Mittel verfügt.

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Der Krieg gegen die Ukraine verläuft allerdings nicht nach den Wünschen des Kreml.

Da ist Putins Strategie teils gescheitert. Hätte Russland die Invasion im Februar 2022 auch gestartet, wenn Putin gewusst hätte, was dann passieren wird? Das ist eine wichtige Frage und die Antwort lautet wahrscheinlich: nein. Denn der Preis für Russland ist immens, seine Wirtschaft hat sich nahezu vollständig in eine Kriegswirtschaft verwandelt, dazu die vielen Verluste an Soldaten und die zahlreichen trauernden Mütter. Das könnte ihm irgendwann Probleme machen.

In den Achtzigerjahren brachten Mütter der in Afghanistan gefallen sowjetischen Soldaten das Regime in Bedrängnis?

Das bereitet ihm sicher etwas Kopfzerbrechen. Allerdings hat Putin ziemliches Glück gehabt, dass die ukrainische Offensive im Jahr 2023 nicht besonders gut verlaufen ist. Der Westen hat die Nerven verloren, nun sorgt die amerikanische Innenpolitik für Unsicherheit. Vielleicht gelingt es Putin, aus dieser Situation etwas zu machen.

In Ihrem Buch "How to fight a war – Wie man einen Krieg führt" schreiben Sie, dass mehr Kriege verloren gehen oder unentschieden enden, als tatsächlich gewonnen werden. Ist Putin ein Hasardeur?

Es gibt wahrscheinlich andere Wege, wie er die von ihm erhoffte multipolare Welt schaffen könnte. Nun hat sich mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens die russische Nato-Grenze verdoppelt. Für Russland ist das kein gutes Ergebnis. Auch beim Krieg in der Ukraine ist unklar, wie der Ausgang sein wird. Wenn der Westen die Nerven behält, wird sein Ende voraussichtlich kein gutes Ergebnis für Russland bringen. Es ist sehr, sehr riskant.

Hat der Westen denn eine Strategie, die Ihrer Definition entspricht?

Wir haben bereits über die Anzeichen gesprochen, die auf eine mangelhafte Strategie hinweisen. Dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf, ist keine klare Strategie, so viel steht fest. Es bleibt abzuwarten, ob der Westen noch eine entwickeln wird. Wir haben noch nicht entschieden, was unsere Ziele in Bezug auf Russland sind: Wollen wir Russland aufhalten oder wollen wir es besiegen? Wollen wir einen Regimewechsel oder nicht? Deshalb haben wir auch noch nicht geklärt, was die notwendigen Mechanismen sind. In den Monaten nach der russischen Invasion 2022 stand der Westen so geeint da, das hat sich gelockert. Es ist geradezu eine Schande. Nun steht aber erst einmal die US-Präsidentschaftswahl im November an.

Wie die Wahl auch ausgehen wird: So oder so erwarten die USA, dass Deutschland in der Zukunft mehr Verantwortung für die europäische Sicherheit übernimmt.

Die deutsche "Zeitenwende", dieses Paket von 100 Milliarden Euro, war ein wichtiges Signal. Es ist gut und richtig, dass Deutschland als reiches und zentrales Land in der Mitte Europas seinen Platz in der Verteidigungsarchitektur einnimmt. Nur gibt es einen Unterschied – wie Putin es längst herausgefunden hat – zwischen der Investition in Verteidigung und der Bereitschaft, diese Verteidigungskraft in einem strategischen Sinne einzusetzen.

Sehen Sie Ansätze zu dieser Bereitschaft?

Deutschland hat diesen Schritt noch nicht getan. Ja, es gibt mehr Geld für die Verteidigung, aber: Nein, es wurde noch nicht ausreichend darüber nachgedacht, wie all diese Kräfte integriert werden können. Dieser Prozess bedarf der Vollendung. Das bedeutet, dass das Militär nicht nur wieder aufgebaut werden muss, sondern auch eine Bereitschaft entstehen muss, es im Konfliktfall zur Verteidigung der europäischen Verbündeten einzusetzen.

Tatsächlich erstarken mit der AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht in Deutschland Parteien, die überaus russlandfreundlich sind.

Putin wird nicht aufhören, bevor er hat, was er hier will. Wenn man den Krieg in der Ukraine einfrieren würde, sendet das – ganz im Sinne Russlands – die Botschaft, dass der Westen schwach ist und sich herumschubsen lässt. Was passiert dann aber mit Estland, Lettland und Litauen?

Die im Gegensatz zur Ukraine Mitglieder der Nato sind?

Putin würde alsbald den Artikel 5 des Nato-Vertrages, das Fundament, untergraben. Dieses steht auch mit der Ukraine. Denn wenn der Konflikt dort eingefroren und das Land sich selbst überlassen würde, hätten wir ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Falls wir später auch Estland, Lettland und Litauen nicht verteidigen würden, würde die gesamte Nato zusammenbrechen. Sie beruht auf der Idee der gegenseitigen Verteidigung. Wenn eines ihrer Mitglieder angegriffen wird, dann sind alle betroffen. Damit sind wir wieder bei der Psychologie angelangt. Putin muss glauben, dass die Nato zusammensteht.

Für Deutschland erweist sich bereits die geplante Stationierung einer Brigade der Bundeswehr in Litauen als Kraftakt.

Im Westen sind wir wenig belastbar, wir sind auch schlecht im Bereich der Psychologie. Deutschland hat beschlossen, viel Geld für die Bundeswehr auszugeben, nun muss es entscheiden, ob es auch bereit ist, im Kriegsfall Verluste in Kauf zu nehmen. Meine Heimat Großbritannien hat im Irak und in Afghanistan rund 600 Soldaten gefallene Soldaten zu beklagen, noch weit mehr haben schwere physische und psychische Verletzungen erlitten. Für eine europäische Nation ist das eine sehr, sehr hohe Zahl. Es stellt sich die Frage, wie die deutsche Gesellschaft reagieren würde bei 1.000 gefallenen Soldaten der Bundeswehr.

Eine Antwort wäre aber angesichts der sich zuspitzenden globalen Konflikte wichtig?

Absolut. Deutschland muss diese Diskussion führen, denn wenn wir auf einen großen Krieg zusteuern, wovon ich ausgehe, ist die Frage entscheidend. Wenn wir nicht dazu bereit sind, Verluste in Kauf zu nehmen, können wir es genauso gut gleich sein lassen. Damit sind wir wieder bei der Psychologie angelangt, wir müssen unsere Belastbarkeit stärken. Wenn der Gegner weiß, dass er einem nur einige Verluste zufügen muss, um uns ins Wanken zu bringen, dann sind wir erledigt.

Diese Verluste im Kampf für die Sicherheit Europas trägt im Augenblick die Ukraine.

Deswegen ist es so unfassbar töricht, der Ukraine nicht jede Waffe zu liefern, die wir bekommen können. Denn die Ukraine ist im Moment bereit, die Verluste für uns in Kauf zu nehmen. Alles, was wir tun müssen, ist, mehr Geld und mehr Waffen für sie zu besorgen. Wir sollten den Ukrainern sehr, sehr dankbar sein.

Herr Martin, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Mike Martin via Videokonferenz
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