Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Nach dem Krieg erwartet Putin ein großes Problem

Russland bekriegt die Ukraine weiter, aber irgendwann wird irgendeine Form von Frieden herrschen. Dann erwartet Russland ein neues, altes Problem, meint Wladimir Kaminer.
In einer Demokratie geht die Staatsgewalt vom Volk aus, wenn meist auch nicht direkt. Das Wahlvolk geht zur Wahlurne und bestimmt die Regierung des Landes. In einer Diktatur kann die Regierung zwar sich selbst bestimmen, doch das Verhalten der Bevölkerung ist auch in einer Diktatur nicht unwichtig. Das Volk in Russland wird von der Führung genaustens beobachtet. Es gilt herauszufinden, wie die Menschen zum Krieg und zum Frieden stehen.
Der Invasion, die die Russische Föderation vor drei Jahren entfesselt hat, folgte zuerst eine Auswanderung. Vor allem junge Menschen, ungefähr eine Million, wanderten aus, das sind zwei mittelgroße russische Städte. Nach drei Jahren ist ein Zehntel der Auswanderer zurückgekehrt, die anderen haben sich über die ganze Welt verstreut, die meisten sind in Amerika, Israel und Europa. Ein kleiner Teil der Bevölkerung, vor allem Rentner, ließ sich von der Kriegspropaganda überzeugen und hat den Krieg vom Sofa aus begrüßt. Die Mehrheit hat den Krieg wie eine bittere Pille geschluckt, passte sich den Umständen an und demonstrierte damit einen beispielhaften Überlebenswillen.

Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein neuestes Buch "Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen" erschien am 28. August 2024.
Nach mehr als drei Jahren haben sich die Armeen auf beiden Seiten bis auf Äußerste verschlissen; in der Ukraine, einem Land das fünfmal weniger Bevölkerung als Russland hat, haben drei Viertel aller Haushalte inzwischen ein Familienmitglied zu beklagen, das im Krieg gefallen ist oder verletzt wurde, in Russland beziffert sich der Anteil auf 15 Prozent. Ein Frieden wäre für beide Seiten bitter nötig. Doch wie gefährlich könnte ein plötzlicher Frieden für das Regime in Russland sein?
Es müsste zunächst ausgetestet werden. Laut Umfragen würde sich die Mehrheit der zivilen Bevölkerung erleichtert zeigen, sollte der Krieg von heute auf morgen enden. Doch die zivile Bevölkerung hat für das Regime nie ein Problem dargestellt. Was ist mit den Rückkehrern? Etwa die halbe Million Menschen, die derzeit an der Front sind und mit patriotischen Sprüchen und hohen Gehältern motiviert werden? Die meisten sind aus den armen Provinzen in die Ukraine gegangen. Werden sie sich zivil benehmen, wenn sie zurück in ihre kleinen Heimaten kommen?
"Vermeiden Sie jeden Streit"
Das Rückkehrerproblem ist nicht neu. Es wurde in einigen russischen und in unzähligen amerikanischen Actionfilmen thematisiert. Der Rambo-Komplex, Menschen, die aus der Hölle des Krieges zurückkommen und keine entsprechende Ehrung finden, leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen und sind besonders reizbar. Sie können wie Rambo eine Hyperaktivität entwickeln und die halbe Stadt in Schutt und Asche legen. Wenn John Rambo noch mit einem Riesenmesser durch die Stadt lief, würden die Rambos des aktuellen Krieges – viele von ihnen sind gut ausgebildete Drohnenführer – sich wahrscheinlich eine Drohne besorgen, die mit einer Granate in jedes Fensterchen fliegen kann.
Sie könnten Fragen an die Regierung stellen, ob sich das Ganze gelohnt hat angesichts der mehr als bescheidenen Eroberungen. Sie könnten aber auch depressiv werden. Die Selbstmordstatistik unter Vietnamveteranen in den USA glich einer Pandemie. Aus Erfahrung weiß man, dass unter posttraumatischen Verhaltensstörungen Leidende oft nicht zum Arzt gehen, weil es sich für "echte Männer" nicht gehöre, zum Psychiater zu gehen. Es werden bereits jetzt in Russland die Broschüren gedruckt und in den Haushalten verteilt, die einen Rückkehrer zu erwarten haben.
Die Frauen werden darin unterrichtet, wie sie ihren vom Krieg beschädigten Männern begegnen sollen. Der richtige Umgang mit Kriegsveteranen muss gelernt werden, damit der Ehepartner, der Sohn, der Vater nicht gleich durchdreht. "Grüßen Sie ihren Mann nicht von hinten" steht in den Broschüren. Auch: "Zeigen Sie ihm Respekt", "Vermeiden Sie jeden Streit" und "Tolerieren Sie den Wunsch ihres Mannes, in Kleidung zu schlafen".
Gleichzeitig bekommt das Kulturministerium den Auftrag zur Heroisierung der Kriegsveteranen, ein Heldenepos muss möglichst breite Schichten der Bevölkerung ansprechen, damit keine unnötigen Fragen aufkommen – wofür starben Hunderttausende und wurden noch mehr Menschen verletzt?
Schwierige Aufgabe
Es wird für die im Land verbliebenen Kulturschaffenden keine leichte Aufgabe sein, diesen sinnlosen Krieg und das Verhalten der russischen Okkupationsarmee in der Ukraine zu ehren, angesichts der großen Verluste und fragwürdigen Eroberungen, aber sie werden es sicher schaffen, es wäre nicht das erste Mal. Nach dem Abzug der sowjetischen Armee aus Afghanistan konnten die Kulturschaffenden bereits üben. Diesmal wird der "Tag des Sieges" im Zweiten Weltkrieg sicher Hilfe leisten, immerhin jährt sich dieser Sieg in diesem Jahr zu einem runden Jubiläum.
Man muss kein Hellseher sein: Das Land wird dann von einem patriotischen Propaganda-Tsunami überschwemmt, um den Rückkehrern das Gefühl zu geben, nicht umsonst im Nachbarland gekämpft zu haben. Ich sehe den russischen Rambo kommen, der noch viel ekliger als der amerikanische sein wird. Nach Erkenntnissen der modernen Soziologie muss der Held nämlich nicht nur übermenschliche Qualitäten besitzen oder eine Offenbarung erhalten, die ihn stärker und geistig überlegener macht, er muss, von einer Idee beseelt, zur Selbstaufopferung bereit sein.
Schon nach Afghanistan haben die Rückkehrer, in einer unvergleichlich geringeren Zahl, eine tiefe Blutspur in der Kriminalstatistik des Landes hinterlassen und viel Ärger gemacht. Diesmal kann der Frieden für Russland noch blutiger werden.