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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Terroranschlag in Moskau Jetzt droht Putins blutige Rache
Der Schock nach dem Terroranschlag bei Moskau ist groß. Es herrscht Chaos, doch wie reagiert Wladimir Putin? Der Angriff ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass der Kreml die Sicherheit in Russland derzeit nicht unter Kontrolle hat.
Als die bewaffneten Männer am Freitagabend gegen 20.30 Uhr in die Crocus City Hall bei Moskau stürmen, eröffnen sie umgehend mit Maschinengewehren und einer Schrotflinte das Feuer. Erst auf die Sicherheitsbeamten der Konzerthalle, danach auf alles, was sich bewegt. Schreie sind zu hören: "Sie schießen. Sie schießen aus Maschinengewehren. Irgendwelche Leute schießen."
Wo eigentlich an diesem Abend die russische Rockband Piknik auftreten sollte, verstecken sich Menschen hinter den Sitzen. 20 Minuten lang wird geschossen, Schreie sind zu hören und zahlreiche Menschen fliehen aus dem Konzertsaal. Nichts wie raus. Explosionen erschüttern das Gebäude, der ganze Komplex mit Konzertsaal und Einkaufszentrum steht in Flammen. Noch viele Stunden später ist eine riesige Rauchsäule über der Stadt zu sehen.
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All das ist aus Videos ersichtlich, die kurz nach dem Terroranschlag über die sozialen Medien geteilt wurden. Teilweise haben Zeugen gefilmt, teilweise gibt es Aufnahmen von Sicherheitskameras. Das Chaos ist groß, es gibt kaum gesicherte Informationen. Fest steht nur: Der Terror hatte das Ziel, möglichst viele Menschen zu töten. Die Hintergründe des Anschlags sind in der Nacht zu Samstag noch völlig unklar. Wer sind die Täter und wo sind sie jetzt? Die Gerüchteküche brodelt.
Russland wird in einer Zeit von dem Terror getroffen, in der das Land ohnehin sehr verletzlich scheint. Kremlchef Wladimir Putin steht unter Druck, denn schon die andauernden Angriffe von kremlkritischen Milizen in der südwestlichen Provinz Belgorod erwecken den Anschein, dass die russische Führung ihr Land nicht mehr schützen kann. Der Terror trifft Russland ins Mark und Putin wird nur eine Reaktion kennen: Vergeltung, mit aller Gewalt.
Auge um Auge, Zahn um Zahn
Bisher sind die Ausmaße der Terrorattacke nicht wirklich klar. Nach offiziellen Angaben starben mindestens 60 Menschen, über 100 weitere wurden verletzt und sind größtenteils in einem kritischen Zustand. Russische Militärblogger teilten auf Telegram ein Video einer Überlebenden, die offenbar in einem Krankenhaus liegt. Sie sagt: "Ich fiel zu Boden und tat so, als würde ich sterben. Das Mädchen neben mir wurde getötet."
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Die Wut in kremlnahen Kreisen ist groß. Der Angriff trifft Russland im Kriegszustand und in einer Zeit, in der es ohnehin sehr viel Hass und Misstrauen in der russischen Gesellschaft gibt. Hass, der vom Kreml seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine stets befeuert wurde. Gegen den kollektiven Westen, gegen die Ukraine, aber auch gegen Islamisten. Deshalb ist der russische Diskurs nach dem Anschlag vor allem von Vorurteilen und Drohungen bestimmt.
Wenige Stunden nach dem Angriff meldet sich Dmitri Medwedew zu Wort, immerhin der stellvertretende Vorsitzende von Putins Sicherheitsrat. "Wenn sich herausstellt, dass es sich dabei um Terroristen des Kiewer Regimes handelt, ist es unmöglich, mit ihnen und ihren ideologischen Inspiratoren anders umzugehen", schreibt er auf Telegram. "Sie alle müssen gefunden und als Terroristen gnadenlos vernichtet werden."
Das gibt einen Ausblick auf die russische Reaktion: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Doch es ist nur klar, dass es bisher nicht wirklich belastbare Hinweise über die möglichen Täter gibt. Fest steht auch, dass der Kreml diesen Anschlag als Teil der Kriegspropaganda behandeln wird. Er wird keine Informationen herausgeben, die die innen- und außenpolitische Stellung Russlands in dieser Kriegszeit untergraben werden. Das ist die Fußnote, die allen Informationen zu dem Terrorakt in Moskau anheften wird.
Vergleichbar mit islamistischen Anschlägen in der Vergangenheit
Gewiss ist nur, was durch Videos und teilweise Überwachungskameras dokumentiert ist: Eine Gruppe von Männern, teilweise mit Kriegswaffen wie Kalaschnikow, mit Sprengstoff, aber auch mit einer Schrotflinte ausgerüstet – eine eher untypische Waffe für eine militärische Operation. Ziel des Terrorangriffs scheint nicht die Durchsetzung von politischen Forderungen durch eine Geiselnahme zu sein, sondern Massenmord. Damit könnten die Terroristen gezielt Putin und seinen Sicherheitsapparat attackieren wollen, um Ängste in Russland zu nähren. Destabilisierung durch Chaos.
Aber wer hätte ein Motiv für eine derartige Tat? Viele Akteure kommen infrage.
Zunächst bekannte sich noch am Freitagabend der sogenannte Islamische Staat zum Terrorakt. In einer Erklärung des IS hieß es, die Angreifer hätten sich "sicher in ihre Stützpunkte zurückgezogen". In der Tat ist die Durchführung des Angriffs vergleichbar mit Anschlägen radikaler Islamisten in der Vergangenheit. Die Täter wirken militärisch schlecht ausgebildet, schießen wild um sich, auch die Bewaffnung passt zu dieser Theorie. Außerdem gibt es auch in Russland islamistische Terrorzellen, die auf ihre Chance gewartet haben. Sie wollen sich an Putin für den blutigen Tschetschenienkrieg ab 1999 rächen.
Trotzdem sind Bekenntnisse des IS mit Vorsicht zu genießen. Die Terrormiliz hat seit ihrer Niederlage in Syrien international deutlich an Einfluss verloren. Sie nutzt derartige Anschläge als Werbung in eigener Sache, um zum Beispiel Gelder und Kämpfer für sich zu mobilisieren. Auch wenn sie nicht beteiligt ist.
Operation unter falscher Flagge?
Doch der Terrorangriff in Moskau fügt sich auch in die tschetschenischen Anschläge in der Vergangenheit ein. Viele Beobachter fühlen sich an die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater erinnert. Damals stürmten 40 bis 50 bewaffnete Personen das Gebäude, nahmen Geiseln und forderten den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Russische Sicherheitskräfte leiteten Gas in das Theater, alle Geiselnehmer und 130 Geiseln starben.
Schon damals gab es Gerüchte, dass der russische Geheimdienst FSB den Anschlag inszeniert habe, um Putin als neuen Präsidenten als Garanten für die Sicherheit in Russland zu präsentieren. Russische Journalistinnen wie Anna Politkowskaja, die in diese Richtung recherchierten, starben, teilweise auf mysteriöse Weise.
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Natürlich ist auch bei dem aktuellen Anschlag eine Operation unter falscher Flagge möglich. Doch dieser Angriff spielt Putin eben nicht in die Karten, denn er dokumentiert das Versagen des russischen Sicherheitsapparates. Und viel mehr als das: Es ist beschämend für Putin. In Russland ist es möglich, dass trotz großer Sicherheitsvorkehrungen eine Gruppe mit Waffen und Sprengstoff in eine Konzerthalle marschiert – in einem Land im Kriegszustand. Und in einer Zeit, in der russische Ortschaften im Südwesten von kremlkritischen Milizen besetzt werden. Mehr dazu lesen Sie hier.
Außerdem unangenehm: Westliche Staaten sollen die russische Führung vor einem Anschlag gewarnt habe, aber der Kreml habe die Warnung als Versuch abgetan, Chaos in Russland stiften zu wollen.
Das schadet Putin, denn er hat sich die Zustimmung der Bevölkerung zu seinem Angriffskrieg in der Ukraine auch damit erkauft, dass viele Russinnen und Russen – besonders in Moskau – ihren normalen Alltag leben können. Der Krieg ist zwar in den Hinterköpfen, aber es ist für viele Menschen möglich, etwa ein Konzert zu besuchen. Das ging auf Kosten der Sicherheit. Putins heile Blase scheint zunehmend zu platzen.
Ukrainische Beteiligung ist unwahrscheinlich
Noch unwahrscheinlicher dagegen ist, dass die Ukraine oder von ihr unterstützte Milizen für den Anschlag verantwortlich sind. Was hätte Kiew davon? Die ukrainische Führung ringt um mehr Unterstützung aus dem Westen und gleichzeitig auch stets um die Solidarität von Russinnen und Russen, die Putins Krieg kritisieren. Mit einem derartig blinden Racheakt würde man diese Strategie komplett unterminieren. Ein Angriff auf unschuldige Menschen ist nicht im Interesse der Ukraine, auch wenn Russland in dem Nachbarland täglich ähnliche Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung verübt.
Gegen eine ukrainische Beteiligung spricht auch, dass das Vorgehen der Täter nicht für militärische Erfahrung spricht. Ukrainische Kämpfer würden professioneller agieren und wären wahrscheinlich auch besser bewaffnet. Letztlich könnte Kiew aber von der Tat in Moskau profitieren, denn der russische Fokus wird nun umso mehr auf der inneren Sicherheit liegen. Das könnte Kiew Zeit verschaffen, bis in der Ukraine die dringend benötigte Munition aus dem Westen eintrifft.
Es gibt also viele mögliche Tätergruppen mit einem Motiv. Auch russische Oppositionelle, die nach der von Putin manipulierten Wahl wütend sind oder versprengte Teile der Wagner-Söldner zählen dazu. Vieles erscheint vorstellbar. Der russische Präsident wird in jedem Fall Verantwortliche präsentieren, die in seine Strategie passen.
Putin hat in der russischen Gesellschaft den Ruf, mit aller Gewalt gegen Terroristen vorzugehen. Daraus speist sich ein Teil seiner Popularität, da zumindest in den vergangenen zehn Jahren in Russland größtenteils Ruhe herrschte und das Land von Anschlägen verschont wurde. Der Kremldiktator hat sich den Ruf aufgebaut, dass jene Menschen sterben, die ihn in seinen Augen verraten. Früher oder später. Das wird nun nicht anders sein und er wird dem Land beweisen wollen, dass er die Kontrolle über die Sicherheit nicht verliert. Deswegen wird Putin vor allem auf eines zielen: blutige Rache. Es droht nun eine Kremlpolitik der verbrannten Erde, auch in Russland.
- Nachrichtenagenturen dpa und rtr
- Staatliche russische Nachrichtenagentur Tass
- Eigene Recherche