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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sicherheitsexperte warnt "Man weiß inzwischen, was das bedeutet"
Die ukrainische Offensive kommt nur langsam voran, bald drohen Herbst und Winter. Wie ist die Stimmung in der Ukraine? Und was müsste der Westen nun dringend tun? Sicherheitsexperte Ralf Fücks gibt Antworten.
Die Erwartungen des Westens waren groß. Mit einer Offensive sollte die ukrainische Armee die Truppen des Kremls weit aus dem Land treiben. Dieses Ziel ist bislang unerreicht. Kein Wunder, sagt Ralf Fücks, der die Ukraine kürzlich bereist hat. Denn der Westen habe der ukrainischen Armee nicht die nötigen Waffen gegeben. Gleichwohl sei der Kampfeswille der Ukrainerinnen und Ukrainer ungebrochen. Nun müsste die Bundesregierung handeln, fordert Fücks im Gespräch.
t-online: Herr Fücks, gerade sind Sie von einer Reise in die Ukraine zurückgekehrt. Wie ist die Stimmung der Menschen dort nach mehr als 550 Tagen des russischen Angriffskrieges?
Ralf Fücks: Eine große Mehrheit ist nach wie vor dazu bereit, den Kampf gegen die russischen Invasoren weiterzuführen. Nach allem Schrecken steigt die Entschlossenheit eher noch. Die letzte repräsentative Umfrage zeigt, dass rund 90 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer substanzielle Konzessionen an Russland ablehnen – sei es territorial oder in Form von Abstrichen an der Souveränität der Ukraine.
Wladimir Putin ist an irgendwie gearteten Verhandlungen auch nicht interessiert.
Geschweige denn, dass irgendjemand einem Abkommen mit dem Kreml noch trauen würde. Die Ukraine hat erlebt, dass Russland jede Vereinbarung bricht, sobald es sich militärisch im Vorteil wähnt. Nein, die Ukrainer wollen die Sache nun zu Ende bringen.
Trotz und wegen der vielen Opfer, die das Land bringt. Beerdigungen gefallener Soldaten sind inzwischen trauriger Alltag, die soziale Lage ist extrem angespannt. Rund 14 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer hat der Krieg zu Flüchtlingen gemacht, die eine Hälfte innerhalb des Landes, die andere im Ausland. Aber niemand will unter russischer Willkürherrschaft leben. Man weiß inzwischen, was das bedeutet.
Sie haben auf Ihrer Reise unter anderem Charkiw und Isjum besucht. Die erste Stadt war im letzten Jahr schwer umkämpft, Isjum befand sich gar für Monate in der Hand der russischen Armee. Was haben Sie dort gesehen?
In Charkiw hat sich seit unserem letzten Besuch im Juni 2022 viel verändert. Damals war diese Millionenstadt halb leer, es gab kaum Verkehr auf den Straßen. Abends herrschte Ausgangssperre, weil Charkiw ständig von russischer Artillerie beschossen wurde. Heute wirkt Charkiw wieder quicklebendig.
Ralf Fücks, Jahrgang 1951, ist Direktor des Thinktanks Zentrum Liberale Moderne in Berlin. Zuvor war er unter anderem Senator in Bremen und 21 Jahre lang Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, die der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahesteht. Fücks ist Autor mehrerer Bücher und auf Twitter unter @fuecks aktiv.
In Charkiw sind auch viele Geflüchtete aus den zerstörten und umkämpften Gebieten untergekommen.
So ist es. Tatsächlich ist die Lage weiterhin prekär, man darf sich von der Oberfläche nicht täuschen lassen. Es gibt immer wieder Raketenangriffe. Wenn im russischen Belgorod Raketen Richtung Charkiw gestartet werden, beträgt die Vorwarnzeit gerade einmal 40 Sekunden.
Zudem machen sich die Menschen Sorgen um den Winter. Russland wird wieder die Energieinfrastruktur angreifen, wie es das bereits praktiziert hat. Ausrüstung und Ersatzteile müssen auf Vorrat angelegt werden, um die Energieversorgung sicherzustellen. Der wirksamste Schutz ist eine effektive Abwehr gegen russische Raketen.
Sie haben auch Gespräche mit Vertretern der ukrainischen Politik geführt. Gab es Wünsche an den Westen?
In Charkiw haben wir mit dem Bürgermeister und dem stellvertretenden Gouverneur gesprochen. Als wir fragten, was am dringendsten gebraucht wird, antworteten beide: Waffen. Danach folgte die Hilfe bei der Aufrechterhaltung der Energieversorgung.
Was waren wiederum Ihre Eindrücke in Isjum?
In Isjum lebten vor der russischen Invasion rund 50.000 Menschen, heute ist es noch die Hälfte. Die Stadt wurde großflächig zerstört, vor ihrer Einnahme durch die russische Armee Anfang April 2022 wurde sie schwer bombardiert. Wir haben mit einer Frau gesprochen, die damals zehn Tage mit ihrer Familie in einem Keller ausharren musste. Danach begann eine wahre Schreckensherrschaft der Russen.
In Isjum haben russische Truppen schwere Kriegsverbrechen begangen.
Nach der Befreiung Isjums im September 2022 wurden Massengräber mit mehr als 400 Toten gefunden. Es war ein zweites Butscha. Viele der Ermordeten wiesen Folterspuren auf. Es gab sexuelle Gewalt gegen Frauen, Razzien und willkürliche Verhaftungen. Wer den russischen Pass verweigerte, erhielt keine Lebensmittelpakete.
Zudem wurden 35 Kinder aus Isjum nach Russland entführt. Angeblich sollten sie ein Ferienlager besuchen, aber kein Kind kehrte zurück. Die Erfahrung derartiger Verbrechen stärkt den Widerstandswillen der Ukraine.
Wladimir Putin setzt auf eine zunehmende Kriegsmüdigkeit im Westen.
Das ist Putins Kalkulation. An den Zielen des Kremls hat sich seit Beginn der Invasion kein Deut geändert. Es geht um die Zerstörung der nationalen Existenz der Ukraine, ihrer politischen Unabhängigkeit und kulturellen Identität. Putin setzt darauf, dass Russland länger durchhält als die liberalen Demokratien des Westens. Insofern ist dieser Krieg auch ein Test auf unser Stehvermögen gegenüber der autoritären Herausforderung.
Diese Herausforderung scheint dem Bundeskanzleramt nicht bewusst zu sein. Nach der langen Debatte um die Lieferung von Kampfpanzern an die ukrainische Armee zieht Olaf Scholz nun die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Länge.
Deutschlands Zögerlichkeit kostet ukrainische Leben. Erst ging es darum, ob wir überhaupt Waffen liefern, dann gab es monatelange Verzögerungen bei jeder neuen Waffengattung: weitreichende Artillerie, Schützenpanzer, dann das Gezerre um die Leopard-Kampfpanzer.
Die dringend benötigten westlichen Kampflugzeuge hat die Ukraine immer noch nicht erhalten, auch nicht deutsche Marschflugkörper vom Typ Taurus. Das hat der russischen Armee die nötige Zeit verschafft, ihre Strategie anzupassen, befestigte Verteidigungssysteme und Minenfelder anzulegen. Das bremst die ukrainische Gegenoffensive und erhöht die Opfer.
Genau genommen hätte die ukrainische Armee die angesprochenen Waffensysteme bei ihrer erfolgreichen Offensive im vergangenen Herbst gut gebrauchen können.
Der Westen hat das Momentum der ukrainischen Offensive vom Herbst 2022 verspielt. Die Ukraine hätte damals vermutlich den Krieg entscheiden können, wenn wir sie entschiedener unterstützt hätten.
Anschließend haben sich die russischen Truppen effektiv verbarrikadiert. Was die ukrainischen Soldaten bei ihrer aktuellen Gegenoffensive erfahren haben.
Die Ukrainer sind wesentlich realistischer als viele im Westen, die glaubten, dass die Erfolge der Offensive aus dem Herbst 2022 so wiederholt werden könnten. Heute müssen die ukrainischen Soldaten ohne nennenswerte Luftunterstützung die russischen Stellungen angreifen. Keine westliche Armee würde so eine Offensive beginnen.
Letztendlich mutet es der Westen der Ukraine aber zu, indem sie nicht die erforderlichen Waffensysteme erhält.
Man muss anerkennen, was die USA geleistet haben, damit die Ukraine sich behaupten konnte. Auch Deutschland leistet einen wichtigen Beitrag. Aber wir handeln immer noch nach dem Muster "zu wenig, zu spät". Die Ukraine braucht dringend moderne Kampfflugzeuge, um die russische Luftwaffe fernzuhalten und feindliche Stellungen im Hinterland angreifen zu können.
Und sie braucht Distanzwaffen wie die Taurus-Marschflugkörper, um die russische Logistik in der Tiefe zu zerstören. Erwartungen auf einen schnellen Durchbruch sind unter den jetzigen Bedingungen weltfremd. Die Ukrainer setzten auf eine andere Strategie: Die russische Armee soll allmählich zermürbt, ihre Nachschubwege und Depots zerstört werden. Erst dann sind größere Geländegewinne möglich.
Es bleibt aber weiterhin ein verlustreicher Abnutzungskrieg.
So ist es leider. Wir nehmen das sehenden Auges in Kauf, indem wir der Ukraine nicht rechtzeitig die Waffen liefern, die sie für eine erfolgreiche Offensive braucht. Ausdruck findet diese Haltung in den Worten von Bundeskanzler Olaf Scholz, wonach die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe …
… aber eben auch nicht gewinnen.
Darin kommt die Furcht vor einer weiteren Eskalation des Krieges durch Russland zum Ausdruck. Aber genau diese Furcht hat es Putin erlaubt, den Raketenterror gegen die Ukraine zu intensivieren, seine militärischen Befestigungen auszubauen und die russische Rüstungsindustrie anzukurbeln.
Dazu kommt, dass wir die Sanktionen nur halbherzig durchsetzen. Wir liefern westliche Technologie nach China, in die Türkei oder nach Kasachstan, dann dauert es nicht lange, bis sie in Russland ankommt. Die entsprechenden Komponenten tauchen dann in russischen Waffen wieder auf. Es fehlt an der Entschlossenheit, die ein Krieg fordert.
Was wäre nun stattdessen seitens der Bundesregierung zu tun?
Die Ukraine sollte so schnell wie möglich Taurus-Marschflugkörper erhalten, und zwar ohne Begrenzung ihrer Reichweite. Zudem muss die deutsche Rüstungsindustrie hochgefahren und die Munitionsproduktion wegen des kontinuierlichen Bedarfs der Ukraine massiv ausgebaut werden. Das würde zeigen, dass die Bundesregierung den Ernst der Lage erkannt hat. Die Ukraine ist sonst nur der Anfang.
Weil sich Putin und andere autoritäre Regime sonst zu weiteren Aggressionen ermutigt fühlen?
Russlands Überfall auf die Ukraine ist Teil eines neuen Systemkonflikts zwischen Demokratien und autoritären Mächten. Es geht dabei um die grundlegenden Werte einer internationalen Friedensordnung, um die Anerkennung des Völkerrechts und der gleichen Souveränität aller Staaten.
Gleichzeitig steht die europäische Sicherheit auf dem Spiel. Wenn Russland mit dieser Aggression auch nur einen Teilerfolg einfahren kann, ist das eine Ermutigung, den nächsten Schritt zu gehen. Warum sollte sich Putin nicht am Baltikum versuchen, wenn Russland sich militärisch erholt hat?
Tatsächlich achten die westlichen Waffengeber mit Argusaugen darauf, dass die Ukraine das russische Staatsgebiet nicht mit den gelieferten Waffensystemen angreift.
Das ist militärisch wie völkerrechtlich unsinnig. Das Völkerrecht sagt zweifelsfrei, dass das Recht auf Selbstverteidigung nicht an der Grenze eines angegriffenen Landes endet. Die Ukraine darf und muss auch militärische Stellungen in Russland angreifen. Alles andere zwingt das Land in einen asymmetrischen Krieg, der unnötig Opfer fordert.
Herr Fücks, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Ralf Fücks via Telefon