Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Migrationswende der Union Macht Merz Weidel zur nützlichen Idiotin?
Mit der Ankündigung, diese Woche über Anträge für eine restriktive Migrationspolitik im Bundestag abstimmen zu lassen, hat Friedrich Merz den Stehblues dieses Wahlkampfes beendet. Sein riskantes Kalkül könnte aufgehen.
Weimar klopft an die Tür! Die Brandmauer ist geschleift! Der impulsgesteuerte Merz ist des Wahnsinns fette Beute! Trumpismus jetzt auch in Deutschland! Man kann nach dem überraschenden Move des Friedrich Merz festhalten: Die Reflexe des politisch-publizistischen Betriebs sind intakt. Doktor Merz klopfte mit dem Hämmerchen auf die Patellasehne und der Unterschenkel schlug verlässlich aus. Nur, wie das so ist bei Reflexen: Sie haben nichts mit Reflexion zu tun. Sie kommen aus dem Rückenmark, nicht aus dem Hirn. Und deshalb möge mit etwas Abstand und nach dem Abklingen der Knieausschläge eine andere Sicht auf die Dinge erlaubt sein. Diese Kolumne heißt Einspruch. Er wird hiermit erhoben.
Die Aktion "Grenzen endlich dicht" des Kanzlerkandidaten Friedrich Merz birgt Risiken. Jawohl. Es werden respektable Einwände gegen sie erhoben. Aber unterm Strich und in Abwägung aller Für und Wider ist sie vollkommen richtig. Taktisch. Und in der Sache.
Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef von t-online. Seit fast 30 Jahren beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online erscheint jede Woche seine Kolumne "Einspruch!"
Warum ist das so? Es gibt seit geraumer Zeit eine klare Mehrheit in der Bevölkerung, diesen Schritt endlich zu tun. Die seit zehn Jahren währende illegale Migration endlich zu unterbinden. Zuletzt hat Innenministerin Nancy Faeser bejubelt, dass die Zahl der Asylgesuche im vergangenen Jahr von 300.000 auf etwa 200.000 heruntergegangen ist. Das sind tatsächlich 100.000 weniger als im Vorjahr. Aber eben noch einmal 200.000 on top auf die schon etwa 2,6 Millionen Migranten (die rund eine Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge nicht einberechnet). So ist die Rechnung redlich. Und sie führt dazu, dass die Kommunen, die schon längst am Anschlag sind, noch mal einen großen Rucksack obendrauf aufgeladen bekommen haben. Es ist nicht ein Drittel weniger. Sondern noch mal fünf Prozent obendrauf. So geht die Rechnung richtig.
Das war nie zu schaffen
Was da seit zehn Jahren versucht wurde, war nie zu schaffen. Und ist es jetzt endgültig nicht mehr. Infrastrukturell, finanziell, gesellschaftlich. Diese Erkenntnis und die damit einhergehende gesellschaftliche Mehrheit für ein Ende des bis heute wirksamen Merkel'schen Magnetismus in der Migration hat aber kein handlungsfähiges Abbild in der Einrichtung, in dem sich das widerspiegeln müsste: dem Bundestag. Weil aus sehr guten Gründen alle demokratischen Parteien eine Zusammenarbeit, eine Koalition mit der AfD ausschließen. Dieser Umstand führt zu immer mehr Ohnmachtsgefühlen. Und zu einem immer weiter währenden Zulauf für die partiell und inzwischen vermutlich mehrheitlich rechtsextreme Partei.
Diesen Teufelskreis wollen jetzt die Union, Friedrich Merz und Markus Söder durchschlagen. Indem sie die parlamentarische Abwesenheit einer Regierungsmehrheit nutzen, Gesetze auf den Weg zu bringen, die zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt eine tatsächliche Aussicht darauf haben, die illegale Migration in dieser Dimension zu beenden.
Merz erinnert an den letzten mutigen Kanzler
Für dieses Ziel ist Merz bereit, ins Risiko zu gehen. All die Vorwürfe und Kritik auf sich zu nehmen, die sich in den ersten Sätzen dieses Textes spiegeln. Und in der Sache gegen das, was seinen Fünf-Punkte-Plan umfasst:
1. Umfassende und dauerhafte Grenzkontrollen an allen deutschen Staatsgrenzen. Personen ohne gültige Einreisedokumente oder ohne Anspruch auf europäische Freizügigkeit sollen zurückgewiesen werden.
2. Die Bundespolizei soll das Recht erhalten, Haftbefehle für Personen zu beantragen, die ohne gültige Papiere an der Grenze oder an Flughäfen aufgegriffen werden.
3. Personen, die zur Ausreise verpflichtet sind und aufgegriffen werden, sollen nicht mehr auf freien Fuß gesetzt werden. Stattdessen sollen die Kapazitäten für Abschiebehaft erhöht werden, um ihre Inhaftierung bis zur Abschiebung sicherzustellen.
4. Der Bund soll durch die Bundespolizei einen eigenen Beitrag zu Abschiebungen leisten, um die Länder bei dieser Aufgabe zu unterstützen.
5. Das Aufenthaltsrecht soll geändert werden, damit ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder in unbefristeten Ausreisegewahrsam genommen werden können, bis sie entweder freiwillig ausreisen oder zwangsweise abgeschoben werden können.
Noch ist offen, wie sich diese Punkte in den Anträgen wiederfinden, die die Union im Bundestag abstimmen lassen will. In ihrem Kern geht es vor allem um geschlossene Grenzen, ein faktisches Einreiseverbot. Das Rein soll verhindert werden, im Wissen darum, dass das Raus, also das Abschieben, in einem Rechtsstaat sehr schwer ist.
Es gibt einige gute Argumente gegen diesen Plan. Verstoß gegen Europarecht, Stichwort Dublin. Zudem könnten die Drittstaaten aufbegehren, wenn es einen Rückstau gibt. Der könnte aber auch abebben, wenn der langjährige und dauerhafte Sog Deutschlands im Zuge der Maßnahmen nachlässt.
So oder so: Merz und seine Leute haben eine Güterabwägung vorgenommen. Und ein Risiko auf sich genommen. Es ist eine Wette auf sich selbst, die die Union da abgeschlossen hat. Ein bisschen klingt ein Satz des risikofähigsten Kanzlers der letzten Jahrzehnte an: Wenn wir es nicht schaffen, die Migration in den Griff zu bekommen, haben wir es nicht verdient, gewählt zu werden am 23. Februar.
Wie immer bei Risiken: Sie bergen Gefahren, aber auch Chancen. Wenn nun vor der Wahl das zentrale Thema Migration mit restriktiven Gesetzen abgeräumt wäre, dann stünde es faktisch nicht mehr als unüberwindbarer Felsklotz zwischen allen denkbaren und realistischen Sondierungen mit einem Koalitionspartner, namentlich zweien: den Grünen und den Sozialdemokraten.
Verprellt Merz schon vor der Wahl seine zwei denkbaren Partner?
Natürlich besteht für Merz und die Union dabei die Gefahr, dass diese beiden Aspiranten auf eine Koalition nach dieser Vorgehensweise abwinken und ihrerseits eine Brandmauer gegen die Union aufbauen. Allerdings darf man immer unterstellen, dass es erstens einen großen Magnetismus der Macht gibt, der einer Blockade der denkbaren Co-Regenten entgegensteht. Äußerstensfalls stünde am Ende die nächste Wahl, zeitliche Höhe Herbst 2025, am Horizont.
Aber schon bei diesen Wahlen am 23. Februar könnten sich die Mehrheitsverhältnisse ganz anders darstellen, als sie die wie betonierten Umfragen bis zu Merz' Move vorhergesagt haben. Wenn das Thema Migration noch vor der Wahl mit Gesetzen abgeräumt wäre, auf deren Wirkkraft man erstmals seit einem Jahrzehnt berechtigt hoffen kann, dann hat sich das Ohnmachtsgefühl erledigt. Dann gäbe es für viele möglicherweise keinen Grund mehr, die AfD zu wählen. Sondern sich mit ihrem Stimmzettel wieder bei den demokratischen Parteien einzureihen.
Die AfD lebt seit Jahr und Tag von dem bislang unaufhebbbar scheinenden Schwebezustand und der Diskrepanz von Mehrheitswünschen in der Bevölkerung und deren Umsetzung in einer Regierung. Fällt dieser Schwebezustand und der Problemstau des Themas weg, das sie im Zuge des anwachsenden Problems groß und immer größer gemacht hat, dann steht ihr Existenzgrund zur Disposition. Eine triumphierende Alice Weidel (Die Brandmauer ist weheeeg!!) hätte sich dann zur nützlichen Idiotin von Friedrich Merz gemacht. Und die seit Jahren tosenden Wasser auf die Mühlen ihrer Partei in ein Rinnsal aus Restradikalen verwandelt.
- Eigene Überlegungen