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Historiker über Ukraine-Krieg: "Dann hätten wir es mit einem anderen Russland zu tun"


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Rückschlag in der Ukraine
"Dann hätten wir es mit einem anderen Russland zu tun"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 17.09.2022Lesedauer: 7 Min.
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Wladimir Putin: Der Kremlchef braucht gute Nachrichten, sagt Historiker Jan C. Behrends. (Quelle: Vladimir Smirnov/TASS News Agency/dpa)
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Russlands Armee ist angeschlagen, die Propaganda des Kremls verfängt nicht mehr richtig. Warum Wladimir Putin aber noch lange nicht am Ende ist, erklärt Historiker Jan C. Behrends.

Die Ukrainer drängen die russischen Invasoren zurück, für Wladimir Putin ist das überaus riskant. Denn der Machthaber braucht den militärischen Erfolg unbedingt. Historiker Jan Claas Behrends erklärt im Interview, warum Putins Machtbasis stabiler ist, als mancher hofft.

t-online: Professor Behrends, die Ukrainer sind auf dem Vormarsch, in Russland fordern einige Lokalpolitiker Wladimir Putins Rücktritt, es wird ihm gar mit einem möglichen Hochverratsprozess gedroht – muss sich der russische Präsident Sorgen machen oder ist seine Macht ungebrochen?

Jan Claas Behrends: Ja und nein. Putin hat ein sehr widerstandsfähiges politisches System im Inneren aufgebaut, er hat funktionierende Repressionsapparate, die bisher vollständig loyal sind. Wir wissen jedoch aus der Geschichte, dass russische Herrscher, die militärische Niederlagen einstecken, in Gefahr geraten, dass sie stürzen. Seit dem Tschetschenienkrieg ist auch Putins Legitimität an militärische Erfolge gekoppelt.

Außerdem hat er wegen der Sanktionen mit dem Einbruch der russischen Wirtschaft zu kämpfen. Das alles deutet darauf hin, dass sein Regime mehr und mehr Probleme bekommen wird. Am Ende hält ein autoritäres Regime so lange, bis die Befehlskette reißt und die Machtapparate sich vom Herrscher abwenden. Wir müssen genau beobachten, was in Moskau geschieht, welche Dynamiken sich entwickeln.

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Der Kreml führt seinen Krieg nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Propaganda. Die Nato etwa würde Russland einkreisen, gar mit Atombomben bedrohen – glaubt Wladimir Putin derartige Behauptungen eigentlich selbst?

Wir wissen nicht, was im Kopf des Kremlchefs vor sich geht. Vielleicht glaubt Putin mittlerweile seiner eigenen Propaganda – dieses Phänomen ließ sich auch schon bei verschiedenen anderen Machthabern beobachten.

Andererseits müssen wir bedenken, dass Putin Angehöriger einer Generation ist, die vollständig in der Sowjetunion sozialisiert worden ist. Er fühlt sich noch einigen sowjetischen Grundwerten verbunden – vom Kult der Armee und des starken Staates bis hin zum imperialen Blick auf die Nachbarn.

Gehört dazu auch die Überzeugung, dass der Osten Europas sowjetische, beziehungsweise russische Einflusszone ist, wie es die Alliierten im Zweiten Weltkrieg auf der Konferenz von Jalta 1945 beschlossen hatten?

Das hält Putin für die natürliche Ordnung der Dinge – alles, was davon abweicht, sieht er als historische Ungerechtigkeit, die es zu revidieren gilt. Wie oft zitiert, betrachtet Putin die Auflösung der Sowjetunion als die "größte geopolitische Katastrophe" des vergangenen Jahrhunderts.

(Quelle: privat)

Jan Claas Behrends, Jahrgang 1969, lehrt und forscht am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Osteuropas und hat die Gewaltkultur in der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart in verschiedenen Projekten untersucht.

Entsprechend ging er recht früh daran, das verbliebene Imperium zu sichern. Während Putin 2001 eine viel beachtete Rede im Deutschen Bundestag hielt, legten russische Soldaten Tschetschenien in Schutt und Asche.

Damit hat Deutschland Putin einen Riesengefallen erwiesen. Für ihn war der Bundestag die perfekte Bühne, um sich im Westen als friedfertiger und verhandlungsbereiter Politiker zu präsentieren. Was Russland parallel in Tschetschenien anrichtete, wurde im Westen dann gerne übersehen. Zeitgleich begann auch in Russland die Gleichschaltung der Medien und die Installation einer alternativen Realität à la Putin.

Das bedeutet, Putin plante schon damals all seinen Friedensavancen im Bundestag zum Trotz durchaus eine aggressivere Politik Russlands in der Zukunft?

Das war sicherlich eine denkbare Option, mit Gewalt hat Russlands Präsident überhaupt kein Problem. Eine von Putins ersten Aktionen, nachdem er 2000 Präsident geworden ist, bestand in der Unterwerfung der Medien, insbesondere des Fernsehens. Um dem neuen Kurs auch das entsprechende Propagandainstrumentarium zu verschaffen.

Bei den Zeitungen, im Radio und im Internet hat man lange noch ein paar liberale Oasen als Feigenblatt übriggelassen, bis für sie in diesem Frühjahr dann Schluss war.

Der Überfall auf die Ukraine war dann alles andere als spontan. In einem historischen Pamphlet hat Putin der Ukraine 2021 dann als propagandistischen Großangriff eine eigene Identität abgesprochen und ihr unterstellt, eine Marionette des Westens zu sein.

Putin ist fest davon überzeugt, dass Ukrainer eigentlich Russen sind. Er hat den ideologischen Nährboden für diesen Krieg jedoch noch viel früher bereitet. Vor allem die jährlichen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai sind ein wichtiger Baustein: Dieser Kriegskult, in dem immer wieder Russlands historische Mission – der Kampf gegen den Faschismus – zelebriert wird.

Heute bezeichnet Russlands Regime seine sämtlichen Gegner als "Faschisten" – vom jüdischen Präsidenten der Ukraine bis zur Nato. Der russischen Bevölkerung wird weisgemacht, dass sie heute den gleichen Kampf austrage wie einst ihre Vorväter.

Provokant bemerkt: Mit Gerhard Schröder und Angela Merkel hatte Putin immer wieder Gäste aus dem "faschistischen" Ausland zum Tag des Sieges eingeladen.

Dass die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel bei den Feiern zu Gast war, bedarf einmal der kritischen Aufarbeitung. Schon lange dient der Tag des Sieges vor allem der Darstellung Russlands als Großmacht und nicht dem Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs.

Den Bruch mit dem Westen hat Putin nun vollzogen, nun wirbt er vor allem in Asien um Sympathie.

Diesem Zweck diente auch sein Auftritt beim Wirtschaftsforum in Wladiwostok kürzlich wie auch das Manöver "Wostok 2022". Mit der Militärübung will Putin zeigen, dass alles "normal" ist – und Russlands militärische Kraft nicht komplett in der Ukraine gebunden ist. Der Kremlchef braucht derzeit dringend gute Nachrichten.

Er muss auch China als Verbündeten davon überzeugen, dass Peking die richtige Wahl getroffen hat, als es sich auf die Seite Russlands schlug. Das wird natürlich mit jedem Kriegstag schwerer.

Putin schürt also Ressentiments gegen den Westen und geriert Russland in der Propaganda als "Opfer" einer angeblichen westlichen Umzingelungspolitik.

Die Wahrheit sieht tatsächlich anders aus. Deutschland hat sich in den 1990er-Jahren dafür eingesetzt, dass Polen und andere osteuropäische Staaten in die Nato aufgenommen wurden. Nachdem dies geschehen war, gab es in Deutschland – und auch bei anderen europäischen Staaten – eine Fixierung auf Russland.

Mit der Erweiterung von Nato und Europäischer Union gen Westen müsse Schluss sein, lautete nun die Devise Angela Merkels. Sie hatte kein Interesse an der Ukraine und ihren Problemen. 2008 haben Deutschland und Frankreich dafür gesorgt, dass die Ukraine nicht als Beitrittskandidatin für die Nato in Betracht gezogen wurde. Dadurch ist das Land überhaupt erst in diese prekäre Lage zwischen Ost und West geraten.

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Ganz in Putins späterem Sinne spielte die Ukraine doch spätestens mit der Abgabe ihrer Nuklearwaffen 1996 eine eher untergeordnete Rolle in der deutschen und westlichen Außenpolitik.

Das ist leider eine Tatsache. Die Ukraine kehrte erst wieder ins allgemeine Bewusstsein zurück, als Putin 2014 die Krim annektierte. Niemand hat aber daraus die folgerichtigen Konsequenzen gezogen. Einige Sanktionen wurden verhängt, aber kurz darauf wurde das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 auf den Weg gebracht. Mit dieser halbherzigen Politik konnte man Putin weder beeindrucken noch abschrecken.

Wegen des deutschen Atomausstiegs nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 waren wir allerdings dringend auf eine Alternative angewiesen.

Kaum jemand in der Politik hat sich damals Gedanken darüber gemacht, was es bedeuten kann, derart von einem autokratischen und revanchistischen Russland abhängig zu sein. Dabei gab es genug Warnungen aus Expertenkreisen wie auch aus Polen und den baltischen Staaten.

Jetzt heißt es häufig, wir seien von Putin betrogen und belogen worden! Doch genau darin ist er ja trainiert worden, Menschen zu täuschen und zu manipulieren …

… aufgrund seiner Ausbildung beim KGB.

Ja. Noch heute fragen mich bisweilen Menschen aus dem Politikbetrieb, ob denn nichts von dem, was Putin 2001 im Reichstag gesagt hat, ernst gemeint gewesen sei. Ich denke, dass Putin sehr genau wusste, mit welchen Worten er seine Ziele in Deutschland erreichen kann.

Damals brauchte er für die Modernisierung Russlands westliche Hilfe, darum präsentierte er sich konziliant. Dabei setzte er seit Machtantritt auf die Beseitigung liberaler Freiheiten im Inneren und die Restaurierung des Imperiums im Äußeren.

Mit den derzeitigen Rückschlägen an der Front kommt die staatliche Propaganda aber in Erklärungsnot.

In diesem Krieg werden die Grenzen der Propaganda deutlich. Das beste Beispiel dafür ist, dass man in Russland diesen Krieg nicht Krieg nennen darf, sondern "militärische Spezialoperation". Woran liegt das? Weil das Wort Krieg im Russischen eine sehr ambivalente Bedeutung hat.

Zahlreiche russische Familien erinnern sich noch sehr gut an die großen Verluste, die das Land im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte. Eine mehr als 2.000 Kilometer lange Front in der Ukraine nun als "Spezialoperation" zu bezeichnen, ist schon ziemlich absurd.

Wenn Russland diese "Spezialoperation" nun verlieren würde, was wären die möglichen Folgen? Einige Experten fürchten bei einem Sturz Putins Chaos bis hin zu einem Bürgerkrieg in Russland.

Wir wissen nicht, was passieren wird. Solange Putin an der Macht ist, muss der Westen weiter eine Politik der Eindämmung und Abschreckung gegenüber dem Kreml beibehalten. Für die Zeit nach Putin, wann immer sie kommt, bin ich moderat optimistisch. Denn Russlands Geschichte weist auch immer wieder Reformer auf.

Denken Sie an Nikita Chruschtschow, der auf den Massenmörder Stalin folgte, oder den kürzlich verstorbenen Michail Gorbatschow. Neue Machthaber legitimieren sich, indem sie ihre Vorgänger verdammen und einen neuen Kurs einleiten.

Putins potenzieller Nachfolger könnte ihm also den möglicherweise verlorenen Krieg in die Schuhe schieben?

Warum denn nicht? Putin ist einfach der perfekte Buhmann. Wenn er weg ist, ergäbe sich auch für den Westen die Chance, ein anderes Verhältnis zu Moskau aufzubauen. Neben einem personellen Problem – namens Putin – hat Russland ein strukturelles. Das Land bräuchte für seine politische Neuordnung dringend funktionierende Institutionen.

Im Laufe seiner Geschichte hat sich das Land immer auf autoritärem Wege versucht zu modernisieren. Erst die Zaren, dann die Kommunisten, später Putin, versuchten einen starken Staat zu bauen, aber bekamen nur einen starken Mann an der Spitze. Dieser Kreislauf muss unterbrochen werden, Veränderungen müssen aus der Gesellschaft selbst getragen werden. Dann hätten wir es mit einem anderen Russland zu tun.

Könnte eine demokratische und prosperierende Ukraine, die Putin gerade zerstören will, ein Vorbild sein für ein anderes Russland?

Die Ukraine ist ein Land mit einem gewaltigen Potenzial, ein Land, das zu Europa gehören will. Nun sollte der Westen dafür sorgen, dass Russland diesen Traum nicht zerstören wird. Denn eines steht fest: Solange er an der Macht bleibt, sollten wir Putin nicht unterschätzen. Das hat der Westen viel zu lange getan.

Professor Behrends, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jan Claas Behrends via Videokonferenz
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