Klimaschutz nach dem Gipfel Eine Ikone sehnt sich nach Tafelstaub
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Klimakabinett, Klimagipfel, Klimastreik: Die Gesten werden immer größer, doch die Erde immer wärmer. Die Emissionen steigen auch. Und jetzt?
Bis zum Gipfel ist manches sehr übersichtlich, der Weg ist klar, die Richtung vorgegeben. Man geht weiter, auch wenn der Schweiß rinnt und der Kopf schmerzt. Und dann? In New York ist der UN-Klimagipfel zu Ende gegangen, ein politischer Höhepunkt, auf den über Monate sehr viel zugelaufen war. Der Schweiß rann und der Kopf schmerzte. Was kommt nach dem Gipfel?
Zufriedenheit, es geschafft zu haben? Ansporn, bald schon die nächsten Höhen zu erreichen? Der Sturz in die Tiefe? Ganz sicher Muskelkater und Erschöpfung.
"Wenn wir nicht sehr bald drastisch unser Leben ändern, gefährden wir das Leben an sich." Eindringliche Worte des UN-Generalsekretärs in New York, gerichtet an die Menschheit. Ein Gipfel, vorbereitet über Monate, für einen Tag gerichtete Aufmerksamkeit. Ein Klimapaket in Deutschland, verhandelt in 18 Stunden, bezeugt mit Augenringen. Was kann da noch kommen?
Massenmobilisierung der "Fridays for Future"-Bewegung, an einem globalen Aktionstag, Demonstrationen in 160 Ländern. Greta Thunberg, der in New York die Tränen kommen, die gequetscht, wimmernd, grollend die Welt auf die Anklagebank setzt, mit einer Rede, die mit allen Konventionen bricht. Was soll da noch kommen?
415 CO2-Moleküle auf eine Millionen Luftteilchen. Nie waren es mehr, seit der Mensch der Mensch ist, nicht zu Zeiten der Inka, Aramäer, Ägypter, nicht damals, als Menschen Wildpferde an die Höhlenwände in Lascaux malten. Bereits jetzt ein Grad mehr Lufttemperatur als vor Beginn der Industrialisierung. Was wird da noch kommen?
Die Welt ist auf Gipfeln, sie holt Luft, die Luft ist dünn. Sie wird immer stickiger und wärmer. Manchmal leuchtet sie schon rot, wie Rost oder Feuer. Tief durchatmen, zur Ruhe kommen, sagen die einen. Tief Luft holen und los, sagen die anderen. Alle halten die Luft an.
Das Alte geht zu Ende, das Neue ist nur zu erahnen. Die Ruhe hat etwas unwirkliches. Ängste wallen auf, die Begriffe und Bilder gehen durcheinander. Was zu sagen war, ist gesagt. Jeder kann wissen, was der Fall ist. Jeder weiß, wo der andere steht – und wo die anderen nicht hinzugehen bereit ist.
Und jetzt?
Wie geht man damit um? Wie verhält man sich? Wie erzählt man davon?
Auf den Straßen Autos, größer als ein SUV
Zum Klimagipfel fliegt die Kanzlerin in einem Airbus A340 von der Flugbereitschaft der Luftwaffe, die größte verfügbare Maschine. Annegret Kramp-Karrenbauer, die Verteidigungsministerin, startet 23 Minuten nach ihr vom selben Rollfeld nach Washington. Man erklärt es so: Beide Delegationen dürfen nicht voneinander abhängen. Der Außenminister fliegt zwei Tage später. Die Bundesregierung kompensiert den CO2-Ausstoß. Die Treibhausgase sind in der Luft.
Vor der Landung in New York sinkt die Maschine der Kanzlerin langsam über Wohngebiete hinab, endlose Suburbs, Haus an Haus an Haus, davor Gärten, dazwischen Straßen, auf den Straßen Autos. Viele größer als ein Standard-SUV. Dieses Suburbia endet erst am Horizont, es ist schlecht gedämmt und das Benzin ist billig. Wie soll das nachhaltig sein?
In New York dasselbe Gefühl, dass das alles nicht dauerhaft gut gehen kann. Der Plastikverbrauch nicht, der Verkehr nicht, der Konsum nicht und auch nicht die Beschleunigung und das Tempo. New York ist eine Stadt, die Menschen ansaugt, gleichzeitig auslaugt und anfüllt, und nach einigen Jahren wieder ausspuckt.
Ausgerechnet New York
Klimagipfel in New York, ausgerechnet New York. Hauptstadt des Industriekapitalismus der Moderne. Gefördert werden Öl und Kohle anderswo, gehandelt werden sie hier. New York, ikonische Metropole des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Welt, die sich selbst an den Rand der Katastrophe brachte und bringt, sie sehnte sich immer nach New York.
Europa fühlt sich anders an, Deutschland fühlt sich anders an, gebremster, gemäßigter, man kann hier leicht glauben, es könne immer so weitergehen. Nicht immer ist alles, wie es scheint. New York ist, verglichen mit dem Rest der USA, eher wenig klimaschädlich. Etwa 6 Tonnen CO2 produziert ein New Yorker pro Jahr – weniger als die Hälfte vom Landesschnitt. Weniger als ein Deutscher. Nicht immer ist alles genauso, wie es auf den ersten Blick scheint.
Es scheint so, als sei gar nichts passiert, seit die Menschheit vor rund einem halben Jahrhundert begriff, was in der Atmosphäre geschieht, wenn sie zur Oma fliegt, mit dem fabrikneuen Kombi in den Urlaub rollt, die Stube befeuert, damit die Kleinen es warm haben zur Bescherung an Weihnachten.
Viel ist passiert, aber nicht genug
Tatsächlich ist sehr viel passiert, Gipfel reihten sich an Gipfel, Abkommen wurden beschlossen, Steuern erhöht, Stirne gerunzelt. Die Menschen wurden sehr schnell mehr, die Treibhausgase wurden viel langsamer mehr. Auf dem Gelände der Vereinten Nationen in New York zu stehen, wo die Vertreter der Nationen höflich zueinander sind, davon geht immer noch ein Zauber aus.
Was jetzt passiert, hätte vor 30 Jahren kühn getönt. Es reicht nicht, flüsterten Wissenschaftler damals. Vielleicht hätte es gereicht. Was jetzt passiert, reicht jetzt nicht mehr, sagen Wissenschaftler. Was jetzt passiert, reicht nicht, sagt Greta Thunberg. Es reicht nicht, reicht nicht, reicht nicht, sagen Millionen Jugendliche. Sie haben recht, sagen Wissenschaftler. Manchmal sind die Dinge, wie sie scheinen.
Der Treibhauseffekt ist der Treibhauseffekt. Ein am Hitzschlag gestorbener Mensch ist tot. Eine Kanzlerin ist eine Kanzlerin, eine Kanzlerin ist keine Wissenschaftlerin und Politik ist Politik ist Politik.
Muss das so sein?
Repräsentiert Politik, wenn sie nur abbildet, was gewollt wird?
Manche Politiker hören gar nicht zu, Donald Trump, Jair Bolsonaro. Doch selbst die zugewandteren Politiker sagen zu den Jugendlichen auf der Straße nicht: Wir müssen das Problem lösen, das ihr benennt. Sie sagen: Wir würden das Problem nicht lösen, gäbe es euch nicht. Was ihr wollt, wollen zu viele nicht. Aber gut, dass es euch gibt. Ist das ein Kompliment oder Hohn?
Darf Politik etwas wollen, was unpopulär ist? Repräsentiert sie noch, wenn sie nur abbildet, was aktuell gewollt wird?
Es reicht nicht, sagt Greta Thunberg diesmal noch schärfer. Alles ist falsch, ihr habt uns verraten, wie könnt ihr es wagen. Ist das zielführend? Sie sagt, wir wollen leben können. Ist das kontrovers? Ist es anmaßend?
Der Treibhauseffekt ist der Treibhauseffekt, aber die Menschheit muss sich verändern, um die Menschheit zu bleiben. Alles wird anders werden, so oder so. Anders, weil man sehr viel verändern muss, um das Klima zu stabilisieren. Anders, weil sich sehr viel verändert, wenn man das Klima nicht stabilisiert. Noch bevor das Wasser steigt, geht die Zeit zu Ende, in der New York einfach New York sein konnte. Ist das verstanden?
Ist man kompromisslos, wenn man darauf besteht? Ist man Partei, wenn man es ausspricht? Ist man Partei, wenn man es nicht auszusprechen wagt?
Ist Politik unter diesen Umständen immer noch einfach nur Politik und eine Kanzlerin nur eine Kanzlerin? Der Treibhauseffekt ist schließlich immer noch der Treibhauseffekt.
CO2 hat einen Preis, so oder so
CO2 hat einen Preis, ob der Staat ihn auszahlen lässt oder nicht. Das Umweltbundesamt schätzt die Kosten, die eine Tonne CO2 verursacht, auf etwa 180 Euro. Wie viel kann man den Menschen zumuten? Und welchen Menschen?
In der Stadt kann man leichter CO2 sparen, auf dem Land leichter atmen, und beides kann man einander vorwerfen. Da droht gerade etwas aufzubrechen. Zwischen Arm und Reich bricht nichts auf, da war immer ein Bruch. Global bricht auch etwas auf, zwischen den CO2-Schleudern und den anderen, und zwischen denen, die es hart treffen wird, und denen, die es überhart treffen wird. Die Verteilungsfrage wird gegen den Klimaschutz in Stellung gebracht. Kann man sie auch anders stellen?
Noch etwas bricht auf. Die Hamburger Band Tocotronic besang einst die Sehnsucht nach Bedeutung: "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein." Heute klingt das so: "Sie haben mir meine Träume und meine Kindheit geraubt." Greta Thunberg sagt: "Ich sollte in der Schule sein." Eine Ikone sehnt sich nach Tafelstaub. Sie muss Teil einer Jugendbewegung sein.
Die Aktivisten wurden verspottet, sie wollten nur Schule schwänzen, als sei Bildung allein Zumutung, nicht auch Privileg. Auch die Jugendlichen zahlen einen CO2-Preis. Wie viel Euro pro Tonne kostet eine Schulstunde? Wie viel Euro pro Tonne kostet eine unbeschwerte Kindheit?
Wie viel Euro pro Tonne kostet die Zukunft?
Aus Urvertrauen wir Grundmisstrauen
Es droht gerade etwas kaputtzugehen zwischen Jungen und Alten, zwischen Kindern und Eltern. Wir werden es euch nicht verzeihen, wenn ihr uns betrügt, sagt Greta Thunberg. Jetzt werde eine Grenze gezogen, die nicht mehr überschritten werden dürfe. Und wenn doch? Wie kann ein Mädchen diesen Druck ertragen, den sie auch selbst sich macht? Und wie kann eine Gesellschaft diesen Druck ertragen? Urvertrauen wird Grundmisstrauen. Was macht das mit einer Gesellschaft? Will sie die Antwort darauf wirklich erfahren?
Die Maschine der Kanzlerin hebt am Nachmittag in New York ab und landet am Morgen in Berlin. Dazwischen liegen nur sieben Stunden. Möglich gemacht von Kerosin, steuervergünstigt, auch in Zukunft. Nur kurz danach wird Angela Merkel im Kabinett erwartet, ohne Pause, volles Programm. Eine Kanzlerin muss eine Kanzlerin sein und Fridays for Future protestieren.
- Klimapaket: Angst vor der Wut der Bürger
- Klimagipfel: Gretas Zorn und Merkels Beitrag
- Auszeichnung: Greta Thunberg bekommt Alternativen Nobelpreis
Der Weltklimarat IPCC stellt seinen neuen Bericht über den Zustand der Ozeane und der Eisflächen vor. Kaum überraschend geh es ihnen: sehr schlecht, schlechter als gedacht.
Greta Thunberg bekommt den Alternativen Nobelpreis. Wütend ist sie immer noch. Eine Zukunft will sie immer noch. Recht hat sie immer noch, sagen Wissenschaftler. Politik ist kein D-Zug, sagt die Politik.
Der Gipfel ist vorbei. Die Welt schnauft. Die Zeit läuft. Und jetzt?