Erklärt in fünf Minuten Ende des INF-Vertrags: Beginnt ein neues Wettrüsten?
Russland und die USA können von diesem Freitag an wieder ohne Beschränkungen atomare Mittelstreckenwaffen bauen. Die Konsequenzen dürften weitreichend sein – auch für Europa.
Eine Welt ohne Atomwaffen? Der 8. Dezember 1987 war für alle, die davon träumen, ein Tag der Hoffnung: US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow unterzeichneten damals in Washington einen Vertrag, mit dem sie sich zur Abschaffung einer ganzen Kategorie von nuklearen Mittelstreckenwaffen verpflichteten. "Historisch" wurde das sogenannte INF-Abkommen nach Jahrzehnten des Kalten Krieges genannt. Vor allem Deutschland und die anderen westeuropäischen Staaten konnten auf etwas mehr Sicherheit hoffen, da russische Raketen für sie eine große Bedrohung darstellten.
Damit ist es nun vorbei. An diesem Freitag, dem 2. August 2019, wird das Abkommen nach 11.560 Tagen Geschichte sein. Mit Rückendeckung der Nato-Partner haben die USA den INF-Vertrag zu diesem Datum aufgekündigt. Begründet wird der Schritt mit einem russischen Waffensystem mit dem Namen SSC-8 – auf Russisch: 9M729. Dieses soll in der Lage sein, Marschflugkörper abzufeuern, die mehr als 2.000 Kilometer weit fliegen können – und damit klar gegen die Regeln des INF-Vertrags über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen verstoßen.
Russland dementiert das vehement. Der Kreml behauptet, die neuen Flugkörper blieben unterhalb der Reichweite von 500 Kilometern und seien damit erlaubt. Man habe Vorort-Inspektionen angeboten und Transparenz sowie Dialog versprochen. Dass der Vertrag nun ende, sei eindeutig Schuld der USA, heißt es auf russischer Seite. Was sind die Folgen?
Droht jetzt ein neues Wettrüsten zwischen den USA und Russland?
Ja. Die USA haben bereits angekündigt, in Reaktion auf die Aufrüstung Russlands selbst ein mobiles bodengestütztes Mittelstreckensystem zu bauen. Dieses soll nach derzeitiger Planung ausschließlich mit konventionellen – das heißt nicht-atomaren – Sprengköpfen eingesetzt werden. Ob es dabei bleibt, ist allerdings unklar. Militärexperten weisen darauf hin, dass sich solche Planungen schnell ändern ließen. Russland hat angekündigt, mit dem Start von Arbeiten an neuen, landgestützten Hyperschall-Mittelstreckenraketen auf das Aus für den INF-Vertrag zu reagieren.
Werden wieder atomare Mittelstreckenraketen in Europa stationiert?
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betont gebetsmühlenhaft, dass es nicht die Absicht gebe, neue landgestützte nukleare Waffensysteme in Europa zu stationieren. Die Nato müsse nicht notwendigerweise das spiegeln, was Russland tut, heißt es.
Sicherheitsexperten warnen allerdings davor, Optionen vorschnell zur Seite zu legen. "Auch die Entwicklung landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen sollte man nicht von vornherein ausschließen", heißt es in einer Analyse des langjährigen Beigeordneten Nato-Generalsekretärs Heinrich Brauß und des Direktors des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause. Vorfestlegungen einzelner Regierungen schadeten der Geschlossenheit des Bündnisses und könnten die Sicherheit Europas unterminieren, schreiben sie in der Fachzeitschrift "Sirius".
Welche Reaktionen der Nato sind noch denkbar?
Als mögliche Optionen nennt Stoltenberg zusätzliche Militärübungen sowie Beobachtung, Überwachung und Aufklärung. "Wir werden uns auch unsere Luft- und Raketenabwehr und unsere konventionellen Fähigkeiten genauer ansehen", sagte er zuletzt bei einem Verteidigungsministertreffen. Konkret ist denkbar, dass die Nato-Staaten ihre Präsenz im östlichen Bündnisgebiet und in der Ostsee verstärken und den Schutz kritischer Infrastruktur durch Raketen- und Luftabwehrsysteme ausbauen. Zudem könnten neue wirkungsvolle konventionelle Waffensysteme stationiert werden, um Russland abzuschrecken.
Wo steht Deutschland in der Diskussion?
Die Bundesregierung weiß, dass die Nato reagieren muss, will aber ein neues Wettrüsten mit allen Mitteln verhindern. "Eine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen würde in Deutschland auf breiten Widerstand stoßen", sagt Außenminister Heiko Maas. Umfragen belegen das. Nach einer am Donnerstag veröffentlichten Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Kantar im Auftrag von Greenpeace meinen 86 Prozent der Befragten, die Bundesregierung solle eine Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen der USA in Deutschland verbieten.
84 Prozent der Befragten gaben in der Umfrage zudem an, dass es in Deutschland gar keine Atomwaffen mehr geben sollte. Nach Angaben aus Militärkreisen lagern auf dem Bundeswehr-Stützpunkt im rheinland-pfälzischen Büchel derzeit noch etwa 20 Atombomben. Sie heißen B61-4, sind 3,58 Meter lang, sehen aus wie kleine Raketen und haben eine Sprengkraft von bis zu 50 Kilotonnen. Im Ernstfall sollen sie von "Eurofighter"-Kampfjets der Bundeswehr an ihr Ziel gebracht und abgeworfen werden. Sie sind Deutschlands Beitrag zur nuklearen Abschreckung der Nato.
In den 80er Jahren waren noch 7.000 der weltweit 70.000 Atomwaffen in beiden Teilen Deutschlands stationiert, darunter auch Mittelstreckenraketen. Gegen die Stationierung der US-amerikanischen "Pershing 2" gingen damals in der Bundesrepublik Hunderttausende auf die Straße.
Gibt es Chancen auf einen neuen Vertrag zum Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen?
Wohl kaum. Als Grund für die Kündigung des Vertrages durch die USA gilt letztlich auch die Tatsache, dass der aus der Zeit des Kalten Krieges stammende Deal nur Amerikaner und Russen bindet, nicht aber aufstrebende Militärmächte wie China. China soll mittlerweile über knapp 2000 ballistische Raketen und Marschflugkörper verfügen, die unter das Abkommen fallen würden. US-Präsident Donald Trump hat sich dafür ausgesprochen, bei neuen Verhandlungen auch China mit einzubeziehen. Peking hat aber bereits klar gemacht, dass es kein Interesse daran hat.
Was bedeutet das Ende des INF-Vertrags für andere Abrüstungsverträge?
Alle Augen richten sich nun auf den New-Start-Abrüstungsvertrag. Das Abkommen zwischen Russland und den USA sieht vor, die Nukleararsenale auf je 800 Trägersysteme und 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe zu verringern. Es läuft 2021 aus. Auch hier gibt es erhebliche Differenzen zwischen beiden Seiten. Trumps Nationaler Sicherheitsberater John Bolton hat signalisiert, dass er keine Zukunft für das Abkommen sieht. Es sei noch keine Entscheidung gefallen, aber es sei unwahrscheinlich, dass der Vertrag verlängert werde, sagte er am Dienstag in einer Rede. Man wolle "etwas Besseres" schaffen.
Die Regierung hat auch hier angedeutet, dass sie gerne China mit ins Boot holen würde. Wie sie das erreichen will, ist aber unklar. Experten von der Waffenkontroll-Organisation Arms Control Association etwa verweisen darauf, dass die Administration bislang nichts dazu gesagt hat, welche Anreize sie China geben würde. Außerdem ist fraglich, ob die Zeit für trilaterale Gespräche reichen würde.
Ist die Gefahr eines Atomkriegs heute schon wieder so groß wie im Kalten Krieg?
Seit 1947 zeigt die "Doomsday Clock", die Weltuntergangsuhr einer Gruppe von Atomwissenschaftlern in den USA, an, wie nah ihrer Meinung nach die nukleare Katastrophe ist. Der Zeiger steht seit vergangenem Jahr so kurz vor Zwölf wie seit 1953 nicht mehr. Damals tobte der Korea-Krieg, die USA und die Sowjetunion lieferten sich einen Wettlauf um die Wasserstoffbombe. 1991, kurz nach dem Ende des Kalten Krieges, zeigte die Uhr noch 17 Minuten vor Zwölf an, der bisher größte Abstand zur Katastrophe.
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Dass die Gefahr eines Atomkriegs heute von Experten so hoch eingeschätzt wird, liegt nicht nur am Aus des INF-Vertrags. Sorge bereitet vor allem der Ausstieg der USA aus dem Abkommen zur Verhinderung der iranischen Atombombe. Die Europäer versuchen das Abkommen zwar noch zu retten, die Chancen stehen aber schlecht. Sollte der Iran die Uran-Anreicherung weiter hochfahren und die Entwicklung einer Atombombe ins Auge fassen, könnte das zu einem atomaren Rüstungswettlauf in der Krisenregion Nahost führen. Dann könnte auch Saudi-Arabien nach der Atombombe greifen, Israel hat sie schon.
- Nachrichtenagentur dpa