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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Probleme in Russlands Armee Teures Kanonenfutter

Für die Ukraine scheint es derzeit schlecht zu laufen, doch auch Russland kämpft mit Problemen. Immer weniger Menschen wollen kämpfen – und das nur noch für große Summen.
Seit Donald Trump das Weiße Haus übernommen hat, scheint ein Sieg der Ukraine im Krieg gegen Russland in weite Ferne gerückt zu sein. Auf neue Waffenlieferungen aus den USA sollte Kiew nicht hoffen, auch die Versorgung mit Geheimdienstinformationen und Satellitenbildern aus den USA scheint fraglich. Und Trump macht keinen Hehl daraus, dass ihm eine Einigung mit Moskau wichtiger ist als die Unterstützung der Verbündeten in Europa. Dabei ist die Lage auch für den Kreml nicht so rosig, wie es zunächst scheint.
Das zeigt schon der Blick auf den Personalbestand der russischen Armee. Nach jüngsten Angaben des ukrainischen Generalstabs hat Russland seit dem Überfall im Februar 2022 fast 895.000 Soldaten verloren, inklusive der Verletzten und Vermissten. Die Angaben aus Kiew mögen eher hochgegriffen sein, doch auch unabhängige Quellen gehen von massiven russischen Verlusten aus.
Russland: Zahl neuer Rekruten bricht ein
So kommen das unabhängige russische Portal Mediazona und BBC Russia durch die Auswertung öffentlich zugänglicher Informationen wie Todesanzeigen auf die Zahl von mindestens 165.000 in der Ukraine getöteten russischen Soldaten. Verwundete, verstümmelte und vermisste Soldaten sind da nicht enthalten.
Bedenkt man zudem, dass die russische Armee tote oder vermisste Soldaten gerne als "Karteileichen" im offiziellen Bestand hält, dann dürften die ukrainischen Angaben nicht allzu weit von der Realität abweichen.
So erschreckend diese Zahlen sind, von seinen Kriegszielen abbringen lässt sich der Kreml durch die hohen Verluste nicht. Bislang gelingt es Russland offenbar weiterhin, genügend neue Soldaten zu rekrutieren, um die Verluste auszugleichen – auch wenn das seit Herbst vergangenen Jahres offenbar schwieriger wird. Der Vorstoß der ukrainischen Armee in die russische Grenzregion Kursk im August hatte die Zahl der Rekruten in Russland kurzzeitig in die Höhe schnellen lassen. Im dritten Quartal seien sie dann aber eingebrochen, wie das Oppositionsmedium "Meduza" und der Wirtschaftswissenschaftler Janis Kluge ermittelten.
620.000 Russen sollen gegen Ukraine kämpfen
Wie viele Soldaten der Kreml im vergangenen Jahr tatsächlich für den Dienst in der Armee verpflichten konnte, lässt sich kaum seriös beantworten. "Es gibt aktuell keine belastbaren Zahlen zu den Rekrutierungen in Russland", sagte der Militärexperte Gustav Gressel t-online Anfang Januar. Russland selbst behauptet, es habe seine selbst gesteckten Rekrutierungsziele für das Jahr 2024 um 10.000 Mann übertroffen und mehr als 440.000 Soldaten neu angeworben. Auch im Januar habe man die Quote mit 107 Prozent übererfüllt, hieß es aus Moskau.
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Die Ukraine scheint die Zahlen aus Russland ernst zu nehmen. Nach Angaben von Wadym Skibitskyj, dem Vizechef des ukrainischen Militärgeheimdienstes GUR, kämpfen zurzeit etwa 620.000 russische Soldaten in der Ukraine und in der teilweise ukrainisch besetzten russischen Region Kursk – das seien 40.000 mehr als Ende vergangenen Jahres, so Skibitskyj. 200.000 dieser Soldaten würden unmittelbar an der Front kämpfen, sagte der Geheimdienstler Anfang März. In dem Interview mit dem Sender "RBK-Ukraine" bestätigte er auch die Zahl von 440.000 neu rekrutierten russischen Soldaten.
Forscher geht von 300.000 Rekruten aus
An dieser Zahl gibt es allerdings Zweifel. So kommt der Politikwissenschaftler Pavel Luzin vom Center for European Policy Analysis (CEPA) auf die Zahl von etwa 300.000 neu rekrutierten russischen Soldaten im Jahr 2024. Luzin beruft sich dabei auf Haushaltszahlen des Kreml. Diese weisen für die ersten drei Quartale des Jahres 2024 knapp 230.000 Einmalzahlungen an Rekruten aus. Sollte die Zahl von 440.000 Rekruten für das gesamte Jahr stimmen, müsste Russland demnach im vierten Quartal mehr als 200.000 Soldaten rekrutiert haben. Pavel Luzin hält eine Zahl von 60.000 bis 70.000 für realistischer.
Dabei beruft sich der Forscher auch auf den Kremlchef Putin persönlich. Der hatte im Dezember 2023 behauptet, Russland habe in dem Jahr 490.000 Soldaten rekrutiert. In einer Rede ein Jahr später gab Putin dann an, dass sich 2023 mehr als 300.000 Männer verpflichten ließen. Diese Zahl liegt auch deutlich näher an den 330.000 Einmalzahlungen, die der Kreml für das Jahr ausgibt. In diesem Rahmen dürften sich nach Auffassung Luzins auch die Zahlen für 2024 bewegen, glaubt Luzin.
Russland zahlt Rekruten deutlich mehr
Dass Russland Probleme bei der Rekrutierung hat, zeigt auch ein Bericht des unabhängigen russischen Portals Verstka. Demnach ist die Zahl der Freiwilligen, die sich in Moskaus größtem Rekrutierungsbüro für den Kriegsdienst verpflichten, von etwa 250 am Tag im August auf zuletzt etwa 40 pro Tag gesunken. Demnach sind es auch deutlich weniger Russen und Menschen aus den früheren GUS-Ländern, die sich verpflichten; die meisten neuen Rekruten in dem Büro an der Jablotschkowa-Straße seien Chinesen, aber auch Ghanaer, Südafrikaner und Menschen aus anderen afrikanischen Ländern.
Auch wenn der Kreml die Lücken in der Armee bislang einigermaßen schließen kann – er muss dafür deutlich mehr zahlen. Im Juli ließ Kremlchef Putin die Einmalzahlungen für neue Rekruten von umgerechnet 2.100 Euro auf 4.300 Euro mehr als verdoppeln. Manche Regionen erhöhten den Satz sogar auf umgerechnet mehr als 21.500 Euro, um die vom Kreml geforderte Quote an Rekruten zu erfüllen. Mit den hohen Zahlungen umgeht der russische Staat zwar eine für das Regime gefährliche Mobilisierung. Doch die finanziellen Belastungen steigen dadurch enorm.
So geht Politikwissenschaftler Luzin davon aus, dass Russlands Kriegsausgaben im vergangenen Jahr bei umgerechnet knapp 119 Milliarden Euro lagen statt der offiziell angegeben 93 Milliarden. Luzin beruft sich dabei auf eine verräterische Äußerung des Verteidigungsministers im Dezember. Fraglich ist allerdings, ob Russland sich von höheren Kosten von seinem Kriegskurs abbringen lässt. Bislang hat das Regime noch immer Mittel und Wege gefunden, seine drängendsten Probleme zu lösen.
- en.zona.media: What we know about Russian losses after three years of the war in Ukraine
- understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, March 3
- cepa.org: Russia’s Year of Truth: The Soldier Shortage
- cepa.org: Russia’s Year of Truth: The Runaway Military Budget
- verstka.media: "Ich mag Russland wegen Abramowitsch, Chelsea"
- businessinsider.com: Russia is beating its military recruitment goals as Putin pumps cash into bonuses and lets men sign up to avoid trials