Das Reich der Mitte und seine Nachbarn China erlebt eine bittere Lektion
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chinas aggressive Expansionspolitik empfinden viele Nachbarn der Volksrepublik als Bedrohung. Doch momentan sind es vor allem die eigenen Verbündeten, die beim chinesischen Präsidenten Xi Jinping Sorgen und sogar Wut auslösen.
Es war ein Meilenstein für beide Länder und ein wichtiges Signal für den gesamten asiatischen Kontinent. Vergangene Woche haben China und Indien ein Abkommen geschlossen, das die gewaltsamen Streitigkeiten um die Grenze der indischen Provinz Ladakh in der Himalaya-Region beenden soll. Die Führungen der bevölkerungsreichsten Länder der Welt einigten sich darauf, die gemeinsamen Patrouillen an der umstrittenen Grenze wieder einzuführen.
Ein wichtiger Schritt weg von einem möglichen bewaffneten Konflikt. Der Grenzstreit ist zwar nicht beigelegt, weitere Eskalationen in der Zukunft durchaus möglich. Doch die Region atmet auf.
Umso mehr, weil sich das Land gerade in einer wirtschaftlich schwierigen Lage befindet. Erst vor knapp zwei Wochen meldete das chinesische Statistikamt, dass sich das Wirtschaftswachstum der Volksrepublik weiter verlangsamt. So wuchs die zweitgrößte Volkswirtschaft im dritten Quartal verglichen mit dem Vorjahreszeitraum um 4,6 Prozent – und damit um 0,1 Prozentpunkte weniger als im Vorquartal. Die chinesische Wirtschaft ist somit so langsam gewachsen wie seit Anfang 2023 nicht mehr.
Die Folge: Alarmstimmung in Peking. Die chinesische Führung möchte mit neuen Schulden und einem Konjunkturprogramm gegensteuern.
In dieser heiklen Lage versucht der chinesische Präsident Xi Jinping, seine Beziehungen zum Westen sensibel auszubalancieren. Doch dabei erweisen sich vor allem die geografischen Nachbarn als Problem für China, mit denen es Bündnisse pflegt. Es sind also Xi Jinpings Freunde, die aktuell für heftige Kopfschmerzen in Peking sorgen – und sogar für etwas Wut.
Rückendeckung für Putin, aber um jeden Preis?
Das hervorstechendste Beispiel dafür sind die Beziehungen Chinas zu Russland. Kremlchef Wladimir Putin und Xi Jinping sind zwar enge strategische Partner, was sie der Welt bei jedem gemeinsamen öffentlichen Auftritt vor Augen führen. Nach Putins wirtschaftlicher Abkoppelung von einem Großteil der westlichen Staaten kauft die energiehungrige chinesische Wirtschaft nur allzu gerne russische Rohstoffe zu Discountpreisen, chinesische Produkte überschwemmen den Markt in Russland und schließen damit die Lücken, die der Westen gelassen hat.
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Rein sicherheitspolitisch betrachtet ist Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Ärgernis für Peking. Glaubt man chinesischen Diplomaten, wundert sich die chinesische Führung bis heute, dass die russische Armee den Krieg im Nachbarland auch nach zweieinhalb Jahren noch nicht für sich entscheiden konnte.
Xi stützt Putin, weil er für China als Herrscher in Russland berechenbarer und mittlerweile wirtschaftlich abhängig von der Volksrepublik ist. Aber der Krieg hat auch negative Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Inflation, Rohstoffknappheit, Investitionen ins Militär. Das schadet dem chinesischen Wirtschaftsmodell, das auf einen gut funktionierenden Welthandel angewiesen ist. Hinzu kommt, dass westliche Staaten ihre Abhängigkeit von Russland als massiven Fehler ansehen und genau das zum Anlass nehmen, um auch die Lieferketten mit China zu hinterfragen.
Es sind vor allem Unternehmen vieler europäischer Länder, die nun versuchen, ihre Produktion breiter aufzustellen und dabei auch nach Indien oder in andere Länder in Südostasien blicken. Um den Westen nicht völlig zu verprellen, hat sich Xi Jinping im Ukraine-Krieg lange Zeit weggeduckt, und Russland bis heute nicht direkt mit Waffen beliefert. Aber China gibt dem Kreml finanzielle und politische Rückendeckung auf der internationalen Bühne. Und das hat mit zunehmender Kriegsdauer Konsequenzen für die Beziehungen Chinas zum Westen.
Bündnis zwischen Putin und Kim sorgt für Ärger
Besonders heikel für die chinesische Führung ist nun, dass sich Russland mit einem anderen problematischen Nachbarn zusammengefunden hat – Nordkorea. Bei Putins Besuch in Pjöngjang im Juni schloss er mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un einen Beistandspakt, der beide Seiten zum Eingreifen verpflichtet, sollte eines der Länder angegriffen werden. Jetzt schickte Nordkorea zur Unterstützung Putins im Ukraine-Krieg Tausende Soldaten nach Russland, die nächste Eskalationsstufe. Mehr dazu lesen Sie hier.
Doch eben das dokumentiert auch eine Entfremdung zwischen Nordkorea und China, der eigentlichen Schutzmacht der Kim-Diktatur. Seit 1961 gibt es ein offizielles Verteidigungsabkommen zwischen beiden Staaten, die sich lange auch als ideologische Verbündete im Kampf für den Kommunismus sahen.
Diese Zeiten sind vorbei, es ist schon länger Sand im Getriebe der chinesisch-nordkoreanischen Beziehungen. China ist sauer über die Instabilität, die Kim Jong Un mit seinem Atomwaffenprogramm und seinen Drohungen, Südkorea und die USA zu vernichten, in der Region verbreitet. Das ist schon länger bekannt, aber nun scheint Nordkorea für China eine Grenze zu überschreiten: Kim schaltet sich in einen Krieg in Europa ein, der eine breitere geopolitische Konfrontation befeuern und den Konflikt mit den USA verschärfen könnte. Das ist aktuell nicht im Interesse Pekings.
Außerdem versprach Putin in Nordkorea, die Kim-Diktatur militärisch aufzurüsten. Russische Militärtechnologie könnte Nordkorea in Zukunft noch aggressiver auftreten lassen und damit – so die Befürchtung in Peking – dazu führen, dass die engsten US-Verbündeten im Indopazifik, Japan und Südkorea, auch immer weiter aufrüsten. Ein Albtraumszenario für Xi Jinping.
Zwar ist China immer noch die wirtschaftliche Lebensversicherung für Nordkorea. Hinter den Kulissen scheinen die ideologischen Brüche zwischen den beiden Ländern aber immer sichtbarer zu werden. Laut der englischsprachigen Nachrichtenplattform "The Korea Daily" soll Diktatur Kim Jong Un in diplomatischen Gesprächen mehrfach gesagt haben, dass Japan zwar ein "jahrhundertealter Feind", China aber ein "tausendjähriger Feind" sei.
Dabei kommt vor allem der Unmut Nordkoreas zum Ausdruck, dass die Volksrepublik den USA gegenüber eben nicht so aggressiv auftritt wie der nordkoreanische Führer. In Peking wird die Kim-Diktatur dagegen teilweise als rückständiges und menschenverachtendes Regime gesehen, das eben nicht Chinas Weg der Öffnung von 1980 folgen möchte.
China erfolglos in Myanmar
Die größten sicherheitspolitischen Sorgen dürfte sich die chinesische Führung derzeit aber wegen der Lage in Myanmar machen. Die dortige Militärführung, zu der Peking enge Beziehungen pflegt, könnte den Bürgerkrieg in Chinas Nachbarland verlieren. Peking hatte viel Geld in Megaprojekte und in die Infrastruktur des Nachbarlandes gesteckt, deshalb setzte Xi Jinping zunächst auf die korrupten Generale, die in Myanmar geputscht haben. Das steht nun auf dem Spiel.
Auch hier ist die chinesische Führung wütend über das Versagen des Militärregimes, heißt es. China sieht seine Aufgabe darin, chinesisches Eigentum und chinesische Bürger in Myanmar zu schützen. Deshalb knüpft Peking momentan engere Beziehungen zu ethnischen Milizen und anderen regierungsfeindlichen Streitkräften in Myanmar und schließt neue Abkommen. Besondere Sorge gilt der gemeinsamen Grenze, an der Rebellengruppen zuletzt immer weiter an Boden gewannen und Grenzposten besetzten. Xi Jinping geht es offenbar vor allem um Ruhe und Frieden in Myanmar, damit der gegenseitige Handel wieder funktioniert. Denn China hat bereits versucht, einen Frieden zwischen beiden Seiten zu vermitteln – aber das blieb ohne Erfolg.
Das ist letztlich die bittere Lektion für China aus all diesen Beziehungen zu seinen Nachbarn: Die Volksrepublik ist in den vergangenen Jahrzehnten zwar zu einer wirtschaftlichen Supermacht aufgestiegen und hat auch militärisch immer weiter aufgerüstet. Aber diese Macht bringt nicht viel, wenn sich Xi Jinping damit keinen Einfluss verschaffen kann.
Gerade die Beziehungen zu seinen Freunden in Nordkorea oder Russland zeigen, dass China nicht bereit ist, Druck auf diese Staaten auszuüben. Das gilt auch für Myanmar, wo Peking bislang nicht in der Lage zu sein scheint, den Konflikt zu beenden. Die chinesische Strategie der Zurückhaltung führt dazu, dass diese verbündeten Regime China auf der Nase herumtanzen, indem sie gegen chinesische Interessen handeln. Bislang scheint Xi Jinping noch auf der Suche zu sein, wie China seinen Einfluss bestmöglich geltend machen kann. Für die Volksrepublik wird dies auch in Zukunft ein schwieriger Balanceakt bleiben.
- foreignpolicy.com: North Korea and Myanmar Cause Headaches in Beijing (englisch)
- nytimes.com: China May Chafe as North Korea Sends Soldiers to Fight Ukraine (englisch)
- koreadailyus.com: North Korea’s Kim Jong-un labels China a ‘longstanding enemy’ amid rising tensions (englisch)
- businessinsider.de: Nordkorea-Russland-Allianz könnte Handelsbeziehungen mit der EU gefährden
- nzz.ch: Chinas Machthaber sind wegen der Wirtschaftskrise in höchster Alarmbereitschaft
- zeit.de: Chinas Wirtschaft mit schwächstem Wachstum seit 18 Monaten