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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Terrorchef al-Sinwar ist tot "Das ist ein Meilenstein"
Nach der Tötung von Hamas-Chef Jahja al-Sinwar sind viele Fragen offen. Was bedeutet sein Tod für den Konflikt in Nahost – und wie verändert er die Lage der Hamas-Geiseln?
Jahja al-Sinwar ist tot. Die israelische Armee gab zunächst am Donnerstag die Tötung des Hamas-Chefs bekannt, am Freitag folgte die Bestätigung durch den stellvertretenden Chef des Hamas-Politbüros, Chalil al-Haja. Der lange gesuchte 61-jährige Islamist gilt als Drahtzieher des Massakers in Israel vom 7. Oktober 2023 mit 1.200 Toten und 250 Verschleppten. Lesen Sie hier mehr zur Person al-Sinwar.
"An seinen Händen klebte das Blut von Amerikanern, Israelis, Palästinensern, Deutschen und so vielen anderen", sagte Joe Biden. Der US-Präsident hatte noch in der Nacht zum Freitag angekündigt, er werde US-Außenminister Antony Blinken für Gespräche nach Israel schicken. Es sei nun an der Zeit, dass sich etwas bewege in Richtung einer Lösung des Konflikts.
Die Tötung der Terrorchefs sei für Israel "ein Meilenstein", sagt Nahost-Experte Daniel Gerlach im t-online-Interview – unter anderem aus politischer und militärischer Sicht. "Das erklärt sich schon daraus, dass al-Sinwar, der militärische Anführer der Hamas im Gazastreifen, nach der Tötung des politischen Kopfes, Ismail Hanija, im vergangenen Sommer zu dessen Nachfolger ernannt worden war." Die Hamas habe damit klargemacht, dass die Organisation hinter al-Sinwars "extremistischer und kompromissloser" Haltung stehe, "solange der Krieg dauert".
Al-Sinwar hatte seit Beginn des Gaza-Kriegs ganz oben auf Israels Abschussliste gestanden. Vor ihm tötete Israel mehrere Spitzenvertreter der Hamas, unter ihnen Mohammed Deif, den Militärkommandeur der islamistischen Organisation. Israel zugeschrieben wird auch der Mordanschlag auf den politischen Führer der Hamas, Ismail Hanija, in Teheran.
Experte: "Er wollte wohl das Andenken hinterlassen"
Dass al-Sinwar den Krieg nicht überleben würde, sei laut Gerlach allen Beteiligten klar gewesen – wahrscheinlich auch dem Terrorchef selbst. "Israel hat, auch während die Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln im Gazastreifen liefen, immer kommuniziert, dass man ihm nach dem Leben trachte und man von diesem Ziel auch nicht Abstand nehmen würde."
Zur Person
Daniel Gerlach ist Autor, Nahost-Experte und Direktor der Denkfabrik Candid Foundation. Zudem gibt er das Fachblatt "Zenith – Zeitschrift für den Orient" heraus und ist dessen Chefredakteur. Gerlach studierte in Hamburg und Paris Orientalistik und Geschichte. Er gilt als einer der führenden Experten in Deutschland für den Nahen Osten und die muslimische Welt.
Der Hamas-Chef starb allem Anschein nach im Kampf mit israelischen Soldaten und in voller Kampfmontur – "in der Wahrnehmung mancher seiner Anhänger ein heroischer Akt", sagt Gerlach. "Er wollte wohl das Andenken hinterlassen, dass er als Märtyrer im Kampf gestorben ist." Das entspreche auch al-Sinwars Selbstbild, das er in seinen propagandistischen, autobiografischen Schriften pflegte.
Nach der Tötung al-Sinwars feierten in Israel Menschen auf der Straße und in ihren Häusern. Gleichzeitig kam es erneut zu Demonstrationen, bei denen das Ende des Krieges in Gaza und die Rettung der dort von der Hamas festgehaltenen israelischen Geiseln gefordert wurden. Doch gerade für die sei dieser Moment hochsensibel, meint der Nahost-Experte: "Man muss damit rechnen, dass die versprengten Hamas-Einheiten Rache an Israel und damit an den Geiseln für den Tod ihres Anführers nehmen werden." Auch sei anzunehmen, dass al-Sinwar für den erwartbaren Fall seines Todes Regelungen getroffen habe.
Al-Sinwars Bruder Mohammed spielt eine wichtige Rolle in der Militärstruktur der Hamas. Ob er die Nachfolge Deifs übernommen hat, ist unklar. Er könnte in die Fußstapfen seines Bruders treten. Hinzu kommt, dass die Hamas unter dem Druck der mächtigen israelischen Invasion nicht mehr in klassischen militärischen Formationen kämpft, sondern als Guerilla-Streitkraft, die in kleinen Zellen und dezentral operiert.
Kommt es jetzt zum Kompromiss?
Der israelische Premierminister sprach nach dem Tod des Terrorchefs vom "Anfang vom Ende" des Krieges in Gaza. Gerlach beschreibt, wie es dazu kommen könnte: "Ein ehemaliger, noch immer sehr aktiver Unterhändler der Israelis, Gershon Baskin, hat vorgeschlagen, nun den Angriff zu stoppen und unverzüglich denjenigen, die die Geiseln gefangen halten, freies Geleit anzubieten. Da al-Sinwar tot ist, könnte sich Israel auf diesen Kompromiss einlassen."
Die Hamas erklärte nach dem Tod ihres Anführers, dass die Bedingungen der Hamas für eine Waffenruhe und ein Geiselabkommen unverändert blieben: Israelische Geiseln würden nur freigelassen, wenn die israelische Armee aus dem Gazastreifen abziehe und palästinensische Häftlinge von Israel freigelassen würden. Die israelische Regierung lehnt einen Abzug der Armee zum jetzigen Zeitpunkt ab.
Der Tod al-Sinwars sei für die israelische Gesellschaft psychologisch wichtig, so Gerlach: "In jedem Fall liefert der tote al-Sinwar das Siegesbild, von dem in den israelischen Medien viel gesprochen wurde und das ein Stück weit auch zur psychologischen Bewältigung des Massakers vom 7. Oktober dienen wird."
- Interview mit Daniel Gerlach
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa