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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zukunft der Nato Orbán legt Feuer
Beim Jubiläumsgipfel in Washington möchte die Nato zusammenrücken und berät über weitere Maßnahmen im Umgang mit dem Ukraine-Krieg. Doch schon im Vorfeld gibt es Störfeuer – durch Viktor Orbán und den US-Wahlkampf.
Es ist nun schon mehr als 75 Jahre her. Am 4. April 1949 wurde die Nato in Washington gegründet, um nach dem Zweiten Weltkrieg weitere bewaffnete Konflikte in Europa sowie eine weitere Ausdehnung der kommunistischen Sowjetunion zu verhindern. Deshalb findet der diesjährige Nato-Gipfel von Dienstag bis Donnerstag auch in der US-Hauptstadt statt, am Ort der Gründung des Verteidigungsbündnisses. Doch angesichts der aktuellen inneren und äußeren Krisen ist die Partystimmung gedämpft.
Dennoch werden in den USA zunächst die Feierlichkeiten im Mittelpunkt stehen. Am Mittwoch werden die Staats- und Regierungschefs offiziell begrüßt, es folgt eine Pressekonferenz des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, seine letzte im Amt auf einem Nato-Gipfel, denn im Oktober wird ihn der ehemalige niederländische Ministerpräsident Mark Rutte ablösen. Am Abend folgt für die Gipfelteilnehmer ein Dinner im Weißen Haus. Die meisten Arbeitssitzungen finden am Donnerstag statt. Das ist nur wenig Zeit für die diversen Sitzungen, bilateralen Treffen der Staats- und Regierungschefs und vielen Krisen, auf die die Nato Antworten finden muss.
Erst dann geht es richtig zur Sache.
Bereits im Vorfeld kracht es in der Nato gewaltig, denn die Spontanbesuche des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in Russland und China sorgten für viel Unmut. In Washington wird es daher ein zähes Ringen geben um weitere Schritte zur Unterstützung der Ukraine und um eine deutliche Botschaft gegen Kremlchef Wladimir Putin und seinen Krieg. Hinzu kommt: Die Sorge, dass das Nato-Treffen vom US-Wahlkampf überschattet wird.
Wie fit ist Biden?
Unter intensiver nationaler und internationaler Beobachtung steht in den kommenden Tagen auch US-Präsident Biden. Ist der 81-Jährige gesundheitlich noch in der Lage, bei der US-Wahl im November für eine weitere Amtszeit zu kandidieren? Oder ebnet er mit dem Festhalten an seiner Kandidatur Donald Trump den Weg zurück ins Weiße Haus? Diese Fragen stellen sich nach dem Debakel für Biden bei der TV-Debatte viele Amerikaner, aber auch viele Nato-Mitglieder blicken besorgt darauf, was aktuell in den Vereinigten Staaten passiert.
Öffentlich geben sich die meisten europäischen Regierungen zuversichtlich, dass Biden die Wahl gewinnen kann. Aber klar ist: Trump liegt in den Umfragen aktuell vorn und die Diskussionen der Demokraten über einen alternativen Präsidentschaftskandidaten stärken den US-Präsidenten im Wahlkampf nicht.
Debatten über Bidens Alter oder den US-Wahlkampf möchte im Nato-Bündnis derzeit eigentlich niemand hören. Schließlich gebe es zahlreiche Krisen, heißt es dazu auch aus deutschen Regierungskreisen. Trotzdem werden die Nato-Mitglieder aufgrund der aktuellen Entwicklungen in den USA versuchen, den europäischen Pfeiler innerhalb des Bündnisses zu stärken.
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Hinzu kommt Trump, der den Nato-Gipfel mit eigenen Forderungen oder neuen Drohungen gegen die Bündnispartner stören könnte. Schließlich hatte er bereits während seiner Amtszeit als US-Präsident mit dem Austritt der USA aus der Allianz gedroht. Und die Versuchung für den Republikaner wird sicherlich groß sein, seinem Kontrahenten Joe Biden keine politischen Erfolge auf der internationalen Bühne zu gönnen.
Deswegen gibt es im Hintergrund Gespräche, um sich auf das Szenario einer Trump-Rückkehr vorzubereiten – insbesondere durch die internationale Koordinierung von Waffenlieferungen und Ausbildungsaktivitäten für die ukrainischen Streitkräfte. Trump steht den Ukraine-Hilfen skeptisch gegenüber und behauptet, er könne den Krieg innerhalb von 24 Stunden stoppen. Allein das sorgt für große Ängste, vor allem in Kiew.
Zwar ist es den USA wichtig, beim Gipfel in Washington auch über die Sicherheit im Indopazifik und insbesondere über den Konflikt mit China zu beraten. Deshalb sind auch die Asian-Pacific-4-Staaten – Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland – vor Ort und es wird darüber hinaus auch darum gehen, über weitere Schritte zu beraten, sollte Peking seine Unterstützung für Putin noch weiter ausbauen.
Weitere Unterstützung der Ukraine
Doch im Zentrum der Debatten am Donnerstag wird vor allem wieder die Lage in der Ukraine stehen. Der Gipfel soll nach Angaben aus deutschen Regierungskreisen "eine sehr klare Botschaft" zur Unterstützung der Ukraine aussenden. Es sei zu erwarten, dass die 32 Nato-Staaten dem Land jährlich rund 40 Milliarden Euro pro Jahr zusagen, wie ein ranghoher Regierungsvertreter am Montag in Berlin sagte.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert angesichts kontinuierlicher russischer Luftangriffe auf sein Land eine weitere Unterstützung der Nato vor allem in der Flugabwehr. Dies sei nicht nur für den Schutz der Zivilbevölkerung notwendig, sondern auch zur Verteidigung der Energie-Infrastruktur, sagte Selenskyj mit Blick auf den nächsten Winter. Bei russischen Raketenangriffen auf mehrere Städte in der Ukraine waren allein am Montag mindestens 29 Menschen getötet worden. Getroffen wurde auch ein Kinderkrankenhaus in Kiew. Selenskyj wird ebenfalls an dem Nato-Gipfel teilnehmen.
Die ukrainische Armee konnte seit dem Frühjahr durch den Westen mit mehr Munition ausgerüstet werden. Größere Reserven bei der Artilleriemunition helfen ihr aktuell, den russischen Vormarsch zu stoppen. Doch russische Attacken wie der Raketenangriff auf Kiew haben noch einmal dokumentiert, dass die ukrainische Flugabwehr weiterhin viel zu schwach aufgestellt ist.
Nun könnte das Land Flugabwehrsysteme aus Israel bekommen, und es wird auch weiterhin darüber diskutiert, Teile des ukrainischen Luftraums durch auf Nato-Territorium stationierte Flugabwehr zu schützen. Letzteres wird innerhalb der Nato allerdings kritisch gesehen, weil die Befürchtung überwiegt, dass die Allianz dadurch aktiv in den Krieg hineingezogen werden könnte. Das will die Nato weiterhin verhindern.
Orbán sorgt für Wut
Neben militärischen Hilfsgütern für die Ukraine geht es beim Nato-Gipfel in Washington aber vor allem auch um die Geschlossenheit im Bündnis. Es soll ein klares Signal an Putin geben, dass die Nato nicht nachlassen wird – und wie immer gilt: Der genaue Ton der Abschlusserklärung macht die Musik. Die Welt wird genau hinschauen, wie einig die Nato weiterhin im Umgang mit Putins Krieg ist.
Auch das wird kein Selbstläufer.
Für Unmut unter den Alliierten sorgte bereits wenige Tage vor dem Gipfel Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, dessen Land gerade den EU-Vorsitz innehat. Im Rahmen einer als "Friedensmission" inszenierten Staaten-Tour besuchte der Regierungschef des Nato-Landes am Montag überraschend China. Zuvor war Orbán bei einem umstrittenen Besuch in Moskau vom russischen Präsidenten Wladimir Putin empfangen worden und in die Ukraine gereist. Sein Auftritt wird sicherlich unter besonderer Beobachtung der Nato-Partner stehen, schließlich hatte Orbán angekündigt, in Washington über seine Reise zu informieren.
Der Vorstoß des ungarischen Regierungschefs ist allerdings auf wenig Gegenliebe innerhalb der Nato gestoßen. Orbán brachte bisher keine Fortschritte aus Moskau mit, reiste trotz Kritik der Europäischen Union in die russische Hauptstadt. In Interview mit "Bild" verkündete der ungarische Ministerpräsident indirekt, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen könne und dass er sich eine Rückkehr Trumps ins Weiße Haus wünsche.
Das alles sind Querschüsse, die sich die Nato im Sinne der Geschlossenheit eigentlich nicht leisten kann. Zumal Ungarn von russischen Rohstofflieferungen abhängig ist und somit kaum Einfluss auf den Kreml haben wird. Deswegen wird die Orbán-Reise eher als destabilisierender Faktor für die Nato gewertet – von der Putin profitiert.
Besondere Verantwortung für Deutschland
Neben Biden, Orbán und Selenskyj richtet sich in Washington allerdings auch ein besonderes Augenmerk auf Deutschland. Immerhin ist die Bundesrepublik der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine und hätte eine besondere Verantwortung, sollte Trump zurück ins Weiße Haus kommen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird in den USA den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und den neuen britischen Premierminister Keir Starmer zu bilateralen Gesprächen treffen, heißt es aus deutschen Regierungskreisen. Zwei Gespräche unter unterschiedlichen Vorzeichen: Die Wahl Starmers ist für die Bundesregierung eine Chance, seine Labour-Partei steht mehr europäischer Kooperation offen gegenüber. Macron dagegen hat sich durch die ausgerufenen Neuwahlen in Frankreich selbst geschwächt und nach dem Sieg des Linksbündnisses ist es völlig unklar, wie eine neue französische Regierung aussehen wird.
Auch wenn Macron mit innenpolitischen Problemen konfrontiert ist, liegt die Außen- und Sicherheitspolitik noch größtenteils in der Verantwortung des Präsidenten. Und wenn von der Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato die Rede ist, dann heißt das momentan vor allem, dass Europa autonomer in der Verteidigung und der längerfristigen Unterstützung der Ukraine werden sollte – also notfalls auch ohne die USA.
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Ob das tatsächlich realistisch ist, ist fraglich. Denn für viele europäische Staaten ist Aufrüstung eher ein längerer Prozess, so auch für Deutschland. Zwar wurden die von Scholz ausgerufene "Zeitenwende" und die deutschen Militärausgaben von 2,19 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2024 in der Nato positiv aufgenommen. Aber frühere Bundesregierungen haben sich lange gegen diese Nato-Verpflichtung gesträubt und Deutschland hat diese Militärausgaben noch nicht verstetigt. Ein Regierungsvertreter betonte, dass Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel dauerhaft einhalten werde.
Zweifel daran bestehen allerdings mit Blick auf 2028, wenn das Sondervermögen für die Bundeswehr ausgeschöpft sein wird. Dann müsste der Wehretat nach heutigem Stand um etwa 30 Milliarden Euro aufgestockt werden. Und die Probleme der Ampelregierung, einen Haushalt für 2025 aufzustellen – und die Kürzungen im Wehretat – werden sicherlich auch im Ausland zur Kenntnis genommen.
- Eigene Recherche
- Nachrichtenagenturen dpa und rtr