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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Le-Pen-Triumph in Frankreich Plötzlich kommt Bewegung ins linke Lager
Im ersten Wahlgang bei der französischen Parlamentswahl hat das Lager von Emmanuel Macron erneut eine schwere Niederlage einstecken müssen. Wie geht es jetzt in dem Land weiter?
Es war nur der erste von zwei Wahlgängen bei der Parlamentswahl in Frankreich. Doch Marine Le Pen hatte schon genug Grund zu jubeln: Das Lager des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sei "praktisch ausgelöscht", sagte die ehemalige Parteivorsitzende des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) in einer ersten Reaktion am Sonntagabend.
Tatsächlich wird sich die genaue Sitzverteilung des Parlaments erst am kommenden Sonntag entscheiden. Absehbar ist allerdings schon jetzt, dass die Anhänger des französischen Präsidenten nach der Europawahl die nächste krachende Niederlage innerhalb weniger Wochen einfahren könnten. Möglicherweise könnte mit dem RN nach dem zweiten Wahlgang erstmals eine rechtspopulistische Partei die Regierung stellen. Doch was würde das für Frankreich bedeuten? t-online fragte bei der Politikwissenschaftlerin und Frankreich-Kennerin Ronja Kempin nach.
t-online: Frau Kempin, nach dem ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahl kommt der rechtspopulistische RN auf die meisten Stimmen, dahinter das linke Bündnis der neuen populären Volksfront (NFP) und dann erst das Mitte-Lager von Emmanuel Macron. Ist das schon der erwartete Rechtsruck?
Ronja Kempin: Die Antwort ist ein klares Jein. Für ein Ja spricht, dass der RN ganz klar an erster Stelle liegt. Bei den Europawahlen war die Partei bereits der Sieger, jetzt haben sie ihr Ergebnis noch einmal deutlich verbessert. Etwa 11 Millionen Menschen haben gestern für diese Partei gestimmt. Sie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Und was spricht gegen den Rechtsruck?
Seit gestern Abend gibt es enorme Bewegung. Wir sehen verschiedene Zusammenschlüsse zwischen dem Präsidentenlager und der neuen linken populären Volks- oder Bürgerfront, um sich gegen den Rassemblement National zu stellen. Die Franzosen sprechen da von einer "republikanischen Einheitsfront". Wie viele Sitze der RN im zweiten Wahlgang also tatsächlich erhalten wird, ist aus jetziger Sicht noch offen.
Zur Person
Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU und Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zu ihren Fachbereichen zählen deutsch-französische Beziehungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Rolle des Front National und des Populismus in Frankreich.
Feststeht aber schon jetzt, dass es für Macron noch schwieriger wird zu regieren: Schon vorher hatte seine Partei keine absolute Mehrheit in der Regierung, jetzt wird sie weiter an Mandaten verlieren. Was bedeutet das für ihn?
Für Macron ist das erneut ein Wahldesaster. Bei den Europawahlen lag seine Partei noch an zweiter Stelle, jetzt liegt er nur noch auf Rang drei. 2022 hatte die Partei des Präsidenten noch 250 Sitze erringen können. Jetzt könnte er bestenfalls noch 90 Abgeordnete entsenden. Es ist daher schon jetzt klar: Seine Partei wird nicht den Premierminister stellen.
Macron gilt schon lange in vielen Gesellschaftsschichten als unbeliebt, mitunter ist er auch verhasst. Wie erklären Sie sich aber jetzt diesen erneuten Abstieg?
Seine Wirtschaftspolitik war bisher durchaus erfolgreich: Die Wirtschaftsleistung ist gewachsen, die Zahl der Arbeitslosen gesunken. Dadurch ist ihm etwas gelungen, was viele seiner Vorgänger nicht geschafft haben: Er hat den französischen Sozialstaat reformiert.
Das klingt erst einmal nicht negativ.
Er hat das aber in einer Art und Weise umgesetzt, die ihm die Bürger übel genommen haben. Macron sucht nicht den Dialog mit den Bürgern. Er regiert von oben herab und bringt seine Gesetze ohne Rücksicht auf die Stimmung des Volkes durch, oft auch an der Nationalversammlung vorbei. Gleichzeitig hat er einige Dinge vernachlässigt: Gerade außerhalb von Paris schwindet die Kaufkraft, die Inflation ist weiter hoch, genauso wie die Preise für Strom, Gas und Benzin. Dagegen hat Macron relativ wenig unternommen. Maßnahmen wie der "Doppelwumms" oder die Energiepreisbremse gab es in Frankreich nur in einem moderateren Rahmen.
Viele werfen Macron auch vor, dass er der politischen Mitte geschadet hat: 2017 hatte er sich im Präsidentschaftswahlkampf als alleiniger Kämpfer gegen die politischen Extreme inszeniert. Die bis dahin dominierenden Parteien der Mitte – die Sozialisten und die Republikaner – haben sich davon nie erholt und liegen am Boden. Wie viel Verantwortung hat er an der gesellschaftlichen Spaltung?
Macron wurde damals mit zwei Versprechen gewählt: Er wollte das Bollwerk gegen die Rechtsextremisten sein. Gleichzeitig wollte er das Land transformieren und die Kluft zwischen links und rechts in der Mitte auflösen. Diesen Dualismus konnte er aber nicht überwinden. Seine Partei hat in der Breite des Landes noch immer nicht Fuß fassen können. In vielen Bürgermeisterwahlen werden zwar weiter die Vertreter der traditionellen Parteien gewählt. Insgesamt bleibt aber den Franzosen häufig nichts anderes übrig, als Extreme zu wählen, wenn man nicht mit Macron zufrieden ist, weil die Alternativen fehlen.
Der RN versucht sich dagegen seit Jahren bürgerlicher und moderater zu geben, um erfolgreicher zu werden. Was würde eine rechtsgeführte Regierung für Frankreich bedeuten?
Wir werden dann vermutlich eine Regierung sehen, die sich in den nächsten drei Jahren wohl recht gemäßigt geben wird. Man ist tatsächlich von vielen früheren Forderungen abgerückt: Der RN will nicht mehr die EU verlassen und den Euro behalten, auch die Nato-Mitgliedschaft und Waffenlieferungen an die Ukraine werden nicht mehr infrage gestellt.
Wirklich harmloser ist die Partei aber nicht geworden, oder?
Sollte Jordan Bardella neuer Premier werden, wird er sicherlich keine Möglichkeit auslassen, Macron vorzuführen. Das größere Ziel bleibt aber, dass Marine Le Pen 2027 neue Präsidentin Frankreichs wird. Dann hätte die Partei alle Hebel der Macht in der Hand und könnte loslegen, wie wir es bereits aus Italien oder Ungarn kennen. Der Rechtsstaat und die Medienfreiheit könnten dann angegriffen werden.
Außenpolitisch heißt es immer, dass der französische Präsident das letzte Wort hat. Marine Le Pen hat das aber im Vorfeld der Wahl infrage gestellt. Wie sehr würde sich etwa für Deutschland die Zusammenarbeit mit einer rechtspopulistischen Regierung ändern?
Die Regierung kann Macron durchaus Daumenschrauben anlegen. Auf EU-Ebene würde Macron zwar weiter im Europäischen Rat sitzen. Auf der Ministerebene säßen dann aber Leute des RN. Denen kann der Präsident zwar eine Linie vorgeben, aber es bleibt unklar, ob die Minister dem folgen. Frankreich wird dadurch unberechenbarer. Das trifft auch auf die Verteidigungspolitik zu: Der Präsident kann immer noch im Handumdrehen Truppen entsenden. Allerdings hat das Parlament die Möglichkeit, vier Wochen nach der Entsendung eine solche Entscheidung zu kippen. Macron wäre also auch auf diesem Feld geschwächt.
Haben Sie eine Idee, was sich ändern müsste, um den Rechtsruck in Frankreich zu stoppen?
Mehr politischer Wettbewerb wäre auf jeden Fall wünschenswert. Bei den Europawahlen konnten wir noch sehen, dass sich die Sozialisten und Republikaner etwas berappeln konnten. Manche sagen auch, dass Frankreich eine sechste Republik mit einem Verhältniswahlrecht werden sollte. Das würde die Politik auch zu viel mehr Kompromissen zwingen, so wie wir es auch in Deutschland kennen. Die Politik müsste aber auch den Menschen viel stärker das Gefühl geben, dass das Wohlstandsversprechen der EU greift. Es muss klar werden, dass die EU kein turbokapitalistisches Konstrukt ist, sondern auch Industrien in ländlichen Räumen ansiedeln kann. In Frankreich bleibt das allerdings schwierig: Das Land ist hoch verschuldet und die Regierung muss sparen, wo auch immer es ihr möglich ist. Wer diesen Teufelskreis durchbricht, macht es Marine Le Pen schwieriger, Präsidentin zu werden.
- Interview mit Ronja Kempin