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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Provokationen im Ostseeraum Putin spielt mit dem Feuer
Russland führt im Ostseeraum einen hybriden Krieg gegen den Westen. Sabotage, Geisterschiffe, GPS-Störungen: Der Kreml versucht mit Nadelstichen die Region zu destabilisieren. Im Ostseerat ringen einige Nato-Mitlieder nun um Antworten.
Aus Porvoo, Finnland, berichtet Patrick Diekmann.
Für sie ist es bislang eine schmerzhafte Woche. Als Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Donnerstag beim Ostseerat in Helsinki eintrifft, hat sie das schlechte Ergebnis der Europawahl am Sonntag im Gepäck. Lediglich zwölf Prozent, für ihre Partei eine krachende Niederlage, obwohl die Grünen mit Wirtschaftsminister Robert Habeck und Baerbock Wahlkampf machte, sie großflächig plakatierten.
Nun geht es darum, ihre mit Abstand beliebtesten Galionsfiguren aus der Schusslinie zu bekommen. Die Strategie dahinter ist klar: Die Grünen möchten den politischen Schaden für Baerbock und Habeck minimieren. Immerhin steht im kommenden Jahr eine Bundestagswahl an und wahrscheinlich entscheidet sich die K-Frage der Grünen erneut zwischen den beiden.
Denn die politische Großwetterlage in Deutschland ist nur ein Thema für die Außenministerin, seit Wochenbeginn steht erneut außenpolitisches Krisenmanagement auf der Agenda: Erst beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ab Dienstag in Berlin, danach beim Ostseerat in Finnland am Donnerstag und Freitag. "Europas Freiheit verteidigen", stand wie eine Vorankündigung für diese Woche auf einem Wahlplakat mit der Außenministerin. Eine schwierige Aufgabe in diesen Zeiten, besonders mit Blick auf die russischen Machenschaften im Ostseeraum.
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Das Binnenmeer ist strategisch wichtig für Russland. Dort hat Kremlchef Wladimir Putin Schwachstellen in der Nato-Verteidigung ausgemacht. Es sind vor allem die Ostseestaaten, die ständigen Destabilisierungsversuchen ausgesetzt sind. Und beim Treffen des Ostseerates in der Nähe von Helsinki wurde schnell klar: Es könnte alles noch viel schlimmer kommen.
Sicherheit vor Putin im Ostseeraum
Vor nicht allzu langer Zeit war der Ostseerat in erster Linie eine Institution, die die Kooperationen der Ostseeanrainerstaaten in den Bereichen Wirtschaft oder Klimaschutz vertiefen sollte. Doch kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurde Russland aus der Organisation verbannt. Seither hat sich der Themenschwerpunkt verschoben, die Sicherheitspolitik steht im Fokus.
Zur Organisation
Der Ostseerat ist eine internationale Organisation mit dem Ziel der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und umweltpolitischen Kooperation der Anrainerstaaten der Ostsee. Neben Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Litauen, Lettland, Polen und Schweden sind allerdings auch Norwegen, Island und die EU Mitglieder.
So geht es auch beim Arbeitsabendessen des Ostseerates am Donnerstagabend vor allem um eines: die "Abwehr von russischen hybriden Bedrohungen im Ostseeraum." Außenministerin Baerbock hatte schon im Vorfeld der Reise eine gemeinsame Reaktion der demokratischen Ostsee-Anrainerstaaten auf die russischen Provokationen in der Region angekündigt. "Wenn Russlands Nadelstiche versuchen, uns zu spalten, rücken wir enger zusammen", erklärte sie am Donnerstagmittag vor ihrer Abreise. Sie fügte mit Blick auf Putin hinzu: "Sicherheit bedeutet heute auch im Ostseeraum Sicherheit vor und nicht mit Putins Russland." Hier ist der Westen besonders verwundbar: Einerseits sind die Seewege und die Unterwasserinfrastruktur für die skandinavischen und baltischen Staaten existenziell wichtig, andererseits hat Russland im Ostseeraum die größte Marine.
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Auch für Russland offenbart der Ostseeraum ein strategisches Dilemma. Putins Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass Schweden und Finnland der Nato beitraten. Das macht die Ostsee mittlerweile zu einem Nato-Meer. Das ist zumindest eine Herausforderung für den Kreml, weil für Russland wichtige Seehandelswege durch das Binnenmeer laufen, zudem liegen wichtige Ölhäfen an der russischen Ostseeküste.
Angst vor der russischen Eskalation
Einst war die Ostsee Fischern und Bernsteinhändlern vorbehalten, doch wegen ihrer Bedeutung für Handels- und Seewege waren ihre Ufer schon früh umkämpft. Es war der russische Zar Peter der Große – in dem Putin ein Vorbild sieht –, der im Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 Schweden besiegte und damit das russische Zarenreich als europäische Großmacht und die russische Vorherrschaft im Ostseeraum etablierte.
Diese Vorherrschaft wollte der sowjetische Machthaber Josef Stalin im Winterkrieg ab 1939 mit seinem Angriff auf Finnland ausbauen. Zwar musste sich die sowjetische Armee nach dem erbitterten Widerstand der Finnen zurückziehen, doch Stalin rang dem Kriegsgegner ein Zugeständnis ab: die militärische Neutralität Finnlands. Diese endete erst mit Putins Überfall auf die Ukraine, bis heute aber ist der Winterkrieg Teil des staatlichen Bewusstseins Finnlands. Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland konnte die Sowjetunion ihren Einfluss über den Ostseeraum weiter ausbauen. Die baltischen Länder waren Teil der Großmacht und im Warschauer Pakt wurden Polen und die DDR sowjetische Satellitenstaaten.
Für einige Länder im Ostseerat löste die sowjetische Unterdrückung in der Vergangenheit ein Trauma aus, das bis heute anhält. Ein Beispiel dafür ist Schweden: Im schwedischen Vokabular gibt es das Wort "Rysskräck", welches die Angst vor Russland beschreibt. Und so schauen Schweden, Finnland und die baltischen Staaten stets genau hin, was der Kreml im Ostseeraum plant – insbesondere seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022.
Putin testet den Westen
Und der Kreml tut schon jetzt viel: Immer wieder schickt Moskau marode Tanker durch die Ostsee, die ohne oder unter falscher Flagge fahren. Mit diesen Geisterschiffen umgeht Putin direkt vor den Augen der Nato die Ölsanktionen des Westens. Mehr dazu lesen Sie hier. Die Schiffe sind oft älter und schon mit Rost überzogen. Sollten sie verunglücken, droht eine Umweltkatastrophe.
Das ist nicht die einzige Provokation. Im Mai entfernte Russland Markierungen im Grenzfluss Narva zu Estland, der die Grenzlinie zwischen den Nachbarländern und die östliche Außengrenze von EU und Nato markiert. Es gibt Irritationen über mögliche Pläne Russlands, die Seegrenzen im Finnischen Meerbusen und an der auch an Litauen grenzenden Exklave Kaliningrad ändern zu wollen. Der Kreml schickt Migranten an die europäischen Außengrenzen der Ostseestaaten und lässt GPS-Signale stören. Estlands Außenminister Margus Tsahkna sagte im Mai, das sogenannte Jamming habe immer mehr zugenommen und beeinträchtige die zivile Luftfahrt. Mehr dazu lesen Sie hier. All das gehört zu dem hybriden Krieg, den Russland gegen den Westen führt.
Putin testet, wie weit er gehen kann, ohne Gegenreaktionen der Nato zu provozieren. Wer kann garantieren, dass der Kremlchef nicht einen Tanker – mit angeblich technischen Problemen – in einen westlichen Hafen steuern lässt? Über Sorgen wie diese diskutierten die Außenministerinnen und Außenminister beim Treffen des Ostseerates in Finnland oft. Denn eines ist klar: Putin zündelt weiter, er spielt mit dem Feuer.
Heftige Sorgen an der Nato-Ostflanke
Die Länder an der Nato-Ostflanke reagieren bislang mit nationalen Schutzmaßnahmen. Mit Sorge blickt Finnland etwa darauf, dass Russland weitere Migranten in Richtung finnischer Grenze schicken könnte. Die finnische Politik reagiert darauf empfindlich. So will Finnland künftig Pushbacks – also direkte Zurückweisungen an der Grenze – rechtlich ermöglichen. Das zeigt, wie groß die Panik aktuell ist. Die Devise: Nationale Sicherheit geht vor dem Schutz der Menschenrechte. Auch wenn Pushbacks nicht zwangsläufig menschenrechtswidrig sind, ist das die Argumentation der finnischen Konservativen und Sozialdemokraten.
Bedrohlich ist die Lage allerdings auch für Deutschland. Die Ostsee ist auf engstem Raum durchzogen von Datenkabeln, Schifffahrtswegen und Windkraftanlagen. All das ist angreifbar. Deshalb betrifft die gegenwärtige Krise nicht nur die östlichen Nato-Staaten, sie sind ein gesamt-europäisches Problem.
Geisterschiffe und Angriffe mit GPS-Störung
In Finnland stand in diesem Zusammenhang vor allem eine Frage im Raum: Welche Antworten soll und kann der Westen gemeinsam auf diese Bedrohungen geben? Mit konkreten Maßnahmen allerdings tun sich die Ostseestaaten aktuell schwer.
Erst bei dem diesjährigen Treffen setzte Finnland das Problem der Geisterschiffe auf die Tagesordnung. Dabei ist schon seit zwei Jahren bekannt, dass Russland in dieser Form Sanktionen umgeht. Nun soll es Maßnahmen wie neue Sanktionen gegen Putins Schrottschiffe geben, hieß es in der Abschlusserklärung des Ostseerates am Freitag. Die Mitglieder der Organisation hielten fest: "Die Schattenflotte untergräbt das internationale Regime für die Sicherheit im Seeverkehr sowie das Haftungs- und Entschädigungssystem und stellt eine erhebliche Gefahr für unsere Meeresumwelt dar, insbesondere in der Ostsee, die anfällig für Ölverschmutzungen ist und daher als besonders sensibles Seegebiet gilt."
Doch konkret wurde die Abschlusserklärung des Ostseerates nicht. Alle Mitgliedsstaaten bekräftigten noch einmal ihre Unterstützung für die Ukraine im Angesicht des brutalen russischen Angriffskriegskrieges. Rückendeckung für Kiew, die nun – so zumindest der Wunsch des Ostseerates – mit Maßnahmen untermauert werden muss. Wegen Störungen der GPS-Satellitennavigation im Ostseeraum hatte Estland außerdem Ende Mai den Geschäftsträger der russischen Botschaft einbestellt.
Baerbock versicherte im Vorfeld ihrer Reise nach Finnland: "Wenn komplexe hybride Bedrohungen – von GPS-Störungen über Sabotage an Unterwasserkabeln bis zu Desinformationskampagnen in sozialen Medien – an der Tagesordnung sind, stellen wir uns dem als demokratische Ostseeanrainer gemeinsam entgegen."
Politisch gibt es diesen Schulterschluss zweifellos, doch das Treffen des Ostseerates wurde von einem Streit innerhalb der Bundesregierung überschattet. So hat das Kanzleramt Vorbehalte gegen das nächste geplante EU-Sanktionspaket, erfuhr t-online von westlichen Diplomaten.
Das deckt sich mit einer Erklärung des Auswärtigen Amtes am Donnerstag. Darin hieß es: Außenministerin Annalena Baerbock habe in den vergangenen zwei Jahren intensiv daran gearbeitet, bei den europäischen Partnern verlorenes Vertrauen aufgrund der alten Russlandpolitik wiederherzustellen. Dieses Vertrauen dürfe nun nicht wieder verspielt werden. Diese Kritik am Kanzleramt ist überraschend deutlich.
"Die Ostsee darf nicht zu Putins Spielwiese werden"
Ein innerdeutscher Streit um den Ukraine-Kurs käme zur Unzeit. Denn derzeit geht es vorwiegend darum, die innere Geschlossenheit im Angesicht der russischen Aggression zu festigen. Denn die Lage ist ernst, das ist im Ostseeraum deutlich spürbar.
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So warnte der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte, Micael Byden, mit Blick auf Schwedens größte Ostseeinsel vor Russlands Machtambitionen. "Ich bin sicher, dass Putin sogar beide Augen auf Gotland geworfen hat. Putins Ziel ist es, die Kontrolle über die Ostsee zu erlangen", sagte der Armeechef den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) im Mai.
"Wenn Putin aber in Gotland einmarschiert, kann er die Nato-Länder vom Meer aus bedrohen. Das wäre das Ende von Frieden und Stabilität in den nordischen und baltischen Regionen." Die Insel hat vor allem deswegen große strategische Bedeutung, weil von dort der Ostseeraum militärisch kontrolliert werden kann. Mehr dazu lesen Sie hier.
"Wenn Russland die Kontrolle übernimmt und die Ostsee abriegelt, hätte das enorme Auswirkungen auf unser Leben – in Schweden und allen anderen Ostseeanrainerstaaten. Das dürfen wir nicht zulassen", sagte Byden. "Die Ostsee darf nicht zu Putins Spielwiese werden, auf der er die Nato-Mitglieder in Angst und Schrecken versetzt."
Doch beim Treffen des Ostseerates bei Helsinki wird deutlich, dass dieses Szenario bereits eingetreten ist. Zumindest die baltischen Staaten und Finnland sehen sich schon jetzt deutlichen Destabilisierungsversuchen ausgesetzt. Aber damit wächst auch die Entschlossenheit, Russland Einhalt gebieten zu wollen. Zumindest die große Sorge vor Putin wurde in Finnland immer wieder deutlich.
- Begleitung von Außenministerin Baerbock zum Treffen des Ostseerates in Finnland